Schlagwort: Jürgen Möllemann

Lemminge Online

Heute Nacht um kurz vor 2 Uhr veröffentlichte die Nachrichtenagentur dpa eine kurze Meldung, in der sie die Titelgeschichte der heutigen „Bild“-Zeitung zusammenzufassen glaubte — gleichzeitig aber auch der Onlinemedienwelt die Gelegenheit gab, sich mal wieder ein Armutszeugnis auszustellen.

Unter der Meldung stand „(Der Beitrag lag dpa in redaktioneller Fassung vor)“ und in der Meldung hieß es:

Knapp vier Jahre nach dem tödlichen Fallschirmabsturz des früheren FDP-Politikers Jürgen W. Möllemann am 5. Juni 2003 sorgt jetzt ein weiteres Amateur-Video für Diskussionen. Die „Bild“-Zeitung berichtet am Freitag erstmals über die Aufnahmen, von denen bisher nur bekannt war, dass sie Teil der Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft waren.

Selbst einem unbedarften Leser hätte bei der Lektüre auffallen können, dass da was nicht stimmt: Ein „weiteres“ Video, das „Teil der Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft“ war?!

Zum Glück aber war ja, als dpa seine Meldung veröffentlichte, der „Bild“-Artikel (der dpa in redaktioneller Fassung vorlag) bereits seit mehreren Stunden auf der Internetseite von „Bild“ mühelos aufzufinden und kostenlos nachzulesen gewesen. Und dort hätte der unbedarfte Leser feststellen können, dass „Bild“ gar nicht behauptet, es sei ein „weiteres“ Video aufgetaucht. Im Gegenteil: „Bild“ behauptet bloß, ein Video, „das auch Bestandteil der Ermittlungsakte war“, sei „jetzt bekannt geworden“ und „liegt BILD vor“…

Offensichtlich sitzen in den Online-Redaktionen der großen Nachrichtenportale jedoch keine unbedarften Leser, sondern Online-Redakteure.

Und ohne mit der Wimper zu zucken, haben die sich bei „Spiegel Online“, bei sueddeutsche.de, bei „Focus Online“*, bei Netzeitung.de, bei FAZ.net und bei „Welt Online“ entschieden, die dpa-Meldung über den (ohnehin völlig erkenntnisfreien) „Bild“-Aufmacher ohne weitere Recherche zu übernehmen:

Besonders peinlich ist das natürlich für „Focus Online“. Denn der gedruckte „Focus“ selbst hatte vor vier Jahren erstmals und sehr ausführlich über das Video berichtet, das laut „Focus Online“ nun „aufgetaucht“ sei.

Aber auch in den Archiven der „Süddeutschen Zeitung“, „FAZ“ und „Welt“ finden sich aufschlussreiche Artikel aus dem Jahr 2003, in denen das Möllemann-Video bereits Gegenstand der Berichterstattung war — und aus denen eindeutig hervorgeht, dass „Bild“ gar nicht „erstmals“ über die Aufnahmen berichtet und von denen weit mehr bekannt ist, als dass sie „Teil der Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft waren“. Die Artikel sind zum Teil bis heute online — und bei FAZ.net beispielsweise sogar direkt neben dem dpa-Unsinn in einem „Zum Thema“-Kasten verlinkt. Sueddeutsche.de behauptet sogar (mit Link auf einen eigenen Archivtext) ahnungslos: „Die Existenz des Videos war (…) schon lange bekannt, die Details sind neu.“

Aber natürlich bringt es viel mehr Klicks, einfach nachzubeten, was „Bild“ (mit freundlicher Unterstützung von dpa) als Neuigkeit verkauft, als selbst mit zwei drei Klicks festzustellen, dass es gar keine Neuigkeit ist.

*) Bei „Focus Online“ ist das Armutszeugnis inzwischen samt Kommentaren aus dem Angebot entfernt worden bzw. „leider nicht vorhanden“. Dafür gibt es dort einen neuen Text (Überschrift: „Neuer Wirbel um altes Video“) der sich vom ursprünglichen „Bild“-Bericht deutlich distanziert, dafür aber vermutet, es handele sich um Aufnahmen „von zwei Amateurfilmern“. Das jedoch behauptet nicht nur niemand sonst, sondern nicht mal „Bild“.

Christoph Schultheis ist einer der Betreiber von BILDblog.de