Schlagwort: Kai Diekmann

Der „Bild“-Chef im NDR-Kreuzverhör

„Der Presserat in Deutschland erteilt Rügen bei journalistischen Fehlleistungen. Ich hab‘ mir das mal angeguckt, die Statistik des vergangenen Jahres, das ist gut verteilt, also, da ist ‚Bild‘ durchaus nicht führend, was die Rügen angeht.“

Nein, diese Sätze sind nicht von Kai Diekmann oder einem anderen „Bild“-Mitarbeiter. Diese Sätze sind von der NDR-Journalistin Kerstin von Stürmer. Sie formulierte sie in ihrem Gespräch mit Diekmann für die Sendung „Treffpunkt“ der Hamburger Landeswelle NDR 90,3 am vergangenen Freitag.

Und ich kann durchaus nachvollziehen, dass man so ein Gespräch zwischen Schlagern und Oldies eher kuschelig als konfrontativ anlegt (auch wenn das dazu führte, dass Diekmann sich schon selbst bemüßigt fühlte, ein paar kritischen Positionen zu sich und seiner Zeitung zu formulieren, wenn es seine seine Interviewerin schon nicht tat). Aber hätte Frau von Stürmer dann nicht wenigstens konsequent bei ihren Fragen nach Tagesablauf, Familie und Lieblingssendungen im Fernsehen bleiben können?

Von den 42 Rügen, die der Presserat 2006 ausgesprochen hat, gingen 9 an die „Bild“-Zeitung. Sie liegt damit weit vor dem zweitplatzierten „Express“, der 3 Rügen kassierte.

„Durchaus nicht führend“, Frau von Stürmer?

Warum nicht Kai Diekmann fotografieren?

Was ist so schlimm daran, Kai Diekmann zu fotografieren?

Das ist keine rhetorische Frage, sondern eine ernst gemeinte: Was ist daran so schlimm? Wenn man zu den sorgfältig ausgewählten Bildern des „Bild“-Chefredakteurs und seiner Frau bei öffentlichen Empfängen oder Privataudienzen beim Papst auch mal eins sieht, wo er sich vielleicht etwas unglücklich bückt. Wenn man zu den Episoden aus dem Privatleben von Herrn Diekmann und Frau Kessler, die sie über viele Folgen in einer Kolumne für die „Für Sie“ beschrieben hat, auch die passenden optischen Eindrücke bekommt. Wenn man sich ein Bild machen kann vom dem Mann, der so viel Einfluss auf das hat, worüber wir alle reden, und ihn in zutiefst menschlichen Posen sieht: beim Joggen, beim Nasepopeln, in dem Moment, wo er sich versehentlich im Café mit Kuchen bekleckert hat.

Ist das Schlimme daran, dass man Kai Diekmann die Kontrolle darüber nimmt, welche Bilder er von sich in der Öffentlichkeit sehen will? Dass man ihn der lästigen Situation aussetzt, gelegentlich ein Fotohandy auf sich gerichtet zu sehen? Dass er das Gefühl bekommt, nichts mehr tun zu können, ohne dabei beobachtet zu werden? Dass auf diese Weise Details über Diekmanns Privatleben herauskommen könnten, die er eigentlich privat halten wollte? Dass die Gefahr besteht, dass Leute im falschen Ehrgeiz, ein ganz besonderes Foto zu schießen, strafrechtliche Grenzen überschreiten?

Was genau ist so schlimm daran, Kai Diekmann zu fotografieren?

Oder ist das Schlimme der öffentliche Aufruf dazu? Menschen überhaupt erst auf die Idee zu bringen, etwas zu tun, was sie (als Bewohner bestimmter Stadtteile, als Besucher bestimmter Veranstaltungen, bei zufälligen Begegnungen) jederzeit tun könnten?

Natürlich haben wir mit kritischen Reaktionen auf die BILDblog-Aktion „Fotografiert Kai Diekmann!“ gerechnet. Diese Debatte ist eines ihrer Ziele. Aber in vielen Fällen erscheint mir die Kritik bislang sehr reflexhaft. Als ob es einen Konsens gebe, dass solche Fotos von jemandem, die nicht bei offiziellen Auftritten entstehen, eigentlich unzulässig sind. Das Gegenteil ist der Fall: Es gibt einen breiten Konsens in unserer Gesellschaft, jenseits irgendwelcher Gesetze, dass solche Fotos zulässig sind. Dass Prominente sich sowas gefallen lassen müssen. Alle Medien sind voll von solchen Aufnahmen, nicht nur „Bild“. Auch der „Stern“, die „Bunte“, ARD und ZDF, die Boulevardmagazine der Privatsender. Das ist nichts besonderes mehr, das ist Alltag, ob mir das gefällt oder nicht. (Mir gefällt es nicht.) So zu tun, als sei diese Art von Fotos geächtet und nur das vermeintliche Schmuddelblatt „Bild“ würde sich darüber hinwegsetzen, ist absurd.

Als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilte, dass auch Prominente wie Caroline von Monaco das Recht haben, auf der Straße zu gehen, im Café zu sitzen oder Fahrrad zu fahren, ohne dass Aufnahmen davon hunderttausendfach kommerziell verbreitet werden, entrüstete sich nicht nur Kai Diekmann über das Urteil. Die Chefredakteure von „Stern“, „Spiegel“, „Focus“, „Bunte“ und anderen protestierten mit einem gemeinsamen Aufruf, und die Verlegerverbände übten massiven Druck auf die Bundesregierung aus, gegen das Urteil vorzugehen. Anscheinend ist eine große Mehrheit der deutschen Medien der Meinung, dass sie (und wir, die Leser) auf solche privaten Aufnahmen nicht verzichten können.

Ich bin anderer Meinung. Aber dass die Mehrheit der Medien solche privaten Aufnahmen, die keinem anderen Interesse dienen, als die Schaulust des Publikums zu bedienen, für unverzichtbar hält, ist eine Tatsache.

Woher kommt dann aber dieses Ausmaß an Empörung, wenn wir angekündigt haben, diesen vielen Fotos auch welche von Kai Diekmann hinzufügen zu wollen? Nur weil das auch gegen das Caroline-Urteil verstoßen könnte, das von einem großen Teil der Öffentlichkeit ohnehin nicht wirklich anerkannt wird?

Wie kommt es, dass Kritiker von einer „Hetzjagd“ reden? Dass einer, der falsch behauptet, wir wollten „heimlich“, etwa vor Diekmanns Haustür geschossene Fotos, sich sogar an die Kriegshetze der Nationalsozialisten im Dritten Reich erinnert fühlt: Es scheine, als führten wir „so eine Art ‚Wollt Ihr den totalen Krieg‘-Strategie“?

Warum sind sich so viele anscheinend einig, dass unsere Aktion eine „‚Bild‘-Methode“ ist und wir damit auf „‚Bild‘-Niveau“ abgerutscht sind? Wo wir noch nicht ein Foto veröffentlicht haben? Der Einsatz von Leser-Reportern ist keine „Bild“-Methode: Die „Saarbrücker Zeitung“ war eine der ersten, die das Mittel eingesetzt hat, der „Stern“ ist auch groß eingestiegen.

Die „Bild“-Methode ist etwas anderes. Die „Bild“-Methode ist es, Menschen zu bezahlen, die das Haus von Prominenten rund um die Uhr beschatten. Die „Bild“-Methode ist es nach Aussage von Betroffenen, Menschen mit Fotos zu erpressen und zum Wohlverhalten zu erzwingen. Die „Bild“-Methode ist es, auch Kinder in die Recherche einzuspannen. Die „Bild“-Methode ist es, sich bei der Veröffentlichung von Fotos immer und immer wieder über elementarste Rechte der Betroffenen und der Angehörigen hinwegzusetzen. Die „Bild“-Methode ist es, nicht nur Prominente in privaten Situationen zu zeigen, sondern auch Nichtprominente, die von Leser-Reportern „erwischt“ wurden, nach Belieben und mit nicht immer ausreichender Recherche an den Pranger zu stellen.

Es ist keine rhetorische Frage: Was ist so schlimm daran, Kai Diekmann zu fotografieren? Was ist so schlimm daran, dazu aufzurufen?


Abbildung: „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann probiert eine Kirsche auf dem Hamburger Isemarkt. Aus einer NDR-Reportage über „Hamburgs heimliche Herrscher“ vom 21.12.2004. Unkenntlichmachung von mir.

„Ehrwürdige Institutionen müssen sich unterstützen“

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Deshalb unterstützt „Bild“ den Papst. Chefredakteur Kai Diekmann über den erstaunlichen neuen Katholizismus einer Boulevardzeitung.

Im November vergangenen Jahres reist eine Delegation der „Bild“-Zeitung nach Rom. Chefredakteur Kai Diekmann überreicht Papst Johannes Paul II. im Rahmen einer Privataudienz eine Bibel — ein Exemplar der sogenannten „Volksbibel“, die das Blatt zusammen mit dem Weltbild-Verlag eine Viertelmillion Mal verkaufen wird. Diekmann verspricht dem Oberhaupt der katholischen Kirche: „Mit über zwölf Millionen Lesern täglich ist uns auch die Verbreitung der christlichen Glaubensbotschaft ein ernstes Anliegen.“

Ungefähr seit diesem Tag versucht „Bild“, sich als papsttreueste Zeitung der Welt zu positionieren. Sie feiert Worte und Werke Johannes Pauls II., sie hängt an seinen Lippen, sie berichtet in großer Detailtreue (wenn auch nicht immer zutreffend) über jede neue Wendung in seiner Krankengeschichte. Als andere davon ausgehen, daß der Papst vorübergehend nicht sprechen kann, befürchtet sie, er sei für immer stumm. Als er dann doch wieder ein paar Worte sagen kann, nennt sie es ein Wunder. Wer die Politik des Vatikans kritisiert, zum Beispiel das strikte Verbot, im Kampf gegen Aids auch Kondome benutzen zu dürfen, wird von „Bild“ als durchgeknallt dargestellt und in der Rubrik „Verlierer des Tages“ oder der Kolumne von Franz Josef Wagner abgewatscht.

Die „Bild“-Zeitung hat einen Mitarbeiter in Rom, der eine Biographie über den Papst verfaßt hat und den sie ihren „Vatikan-Korrespondenten“ nennt. Wenn er schreibt, zeigt sie häufig ein Bild von ihm, in dem er vor dem Papst kniet. Als der Papst stirbt, tritt dieser Vatikan-Korrespondent in verschiedenen Fernsehsendungen auf und weint mehrfach. Auch noch Tage nach dem Tod des Papstes übermannen ihn seine Gefühle. Seine Zeitung führt unterdessen die „Wunder“ auf, die Papst Johannes Paul II. angeblich bewirkt habe, und fordert quasi seine sofortige Heiligsprechung.

Als Kardinal Ratzinger gewählt wird, titelt „Bild“: „Wir sind Papst“. Die Zeitung berichtet, daß Ratzingers Eltern Joseph und Maria „waren“. Sie kritisiert, daß der neue Papst „in keinem Land der Welt so unerbittlich kritisiert“ werde wie in Deutschland und daß britische Zeitungen übel gegen ihn „hetzten“, die seine Jugend im Dritten Reich unangemessen groß in den Mittelpunkt rücken. Daß diese Blätter über die Mitgliedschaft Ratzingers in der Hitler-Jugend berichten, nennt „Bild“ einerseits eine „Beleidigung“, betont aber andererseits, niemand müsse sich dafür „schämen“, Hitler-Junge gewesen zu sein. In ihrem Eifer verleugnet „Bild“ sogar die Existenz eines KZ in der Nähe von Ratzingers Heimat Traunstein.

Der strenge Katholizismus wirkt sich auch auf die Berichterstattung jenseits des Vatikans aus. Massiv kämpft „Bild“ gegen den Beschluß der Berliner SPD, konfessionsungebundenen Werteunterricht an den Schulen einzuführen, und veröffentlicht „Zehn ‚Bild‘-Gebote für alle Politiker“, in denen es unter anderem heißt: „Du sollst deinen Amtseid auf Gott schwören“ und: „Du sollst das Gottvertrauen, das Kinder haben, nicht aus ihren Seelen vertreiben.“ Sie kommentiert eine Demonstration von deutschen Moslems gegen Gewalt mit den Worten: „Schön, daß das auch andere, die in unserer freiheitlichen Gesellschaft mit uns leben, genau so sehen.“ Sie illustriert Überlegungen, einen islamischen Feiertag in Deutschland einzuführen, mit einer Fotomontage, in der Tausende Moslems vor dem Reichstag beten.

Nicht verändert hat sich die Position von „Bild“ in anderen Fragen. Gegner der „Bild“-Zeitung werden weiter mit heiligem Zorn und nicht selten falschen Anschuldigungen verfolgt, Unschuldige zu Tätern gemacht und Schwache zu Witzfiguren, und weder die sexsüchtigen halbnackten Frauen von Seite eins noch die Prostituiertenanzeigen hinten im Blatt traf bisher ein Bannstrahl.

Über die neue Religiosität von „Bild“ wollten wir mit Chefredakteur Kai Diekmann reden. Ein persönliches oder telefonisches Interview lehnte er „aus Zeitgründen“ ab. Möglich war nur, ihm Fragen zu schicken, die er schriftlich beantwortete. Nachfragen konnten nicht gestellt werden.

Die „Süddeutsche“ nannte „Bild“ am Freitag einen „Osservatore Tedesco“. Fühlen Sie sich wohl oder unwohl mit dieser Beschreibung?

Das ist ein Kompliment: Der „Osservatore Romano“, die Zeitung des Vatikans, hat in seiner Heimat eine Reichweite von einhundert Prozent. So weit sind wir leider noch nicht.

„Wir sind Papst“, hat „Bild“ am Mittwoch getitelt. Wer sind „wir“? Wir Deutschen? Wir deutschen Katholiken? Die „Bild“-Redaktion?

Wir alle. Und ich bin mir ganz sicher: Sie von der „Sonntagszeitung“ doch hoffentlich auch?

Wem ist diese Schlagzeile eingefallen?

Meinem Kollegen Georg Streiter. Er ist Politikchef bei „Bild“.

Die „Bild“-Zeitung hat sich in den vergangenen Monaten als besonders papsttreue Zeitung positioniert. Warum?

Weil ehrwürdige Institutionen sich unterstützen müssen.

Welche Bedeutung hatte die Audienz der „Bild“-Führungsriege beim Papst für Sie?

Eine große Ehre, eine sehr bewegende Begegnung.

Glauben Sie an Gott? Sind Sie katholisch?

Ja.

In den Grundsätzen und Leitlinien von Axel Springer fehlt ein Bezug auf das Christentum. Glauben Sie, daß eine Ergänzung sinnvoll wäre? Oder versteht es sich ohnehin von selbst, daß die Medien der Axel Springer AG sich den abendländisch-christlichen Werten verpflichtet fühlen?

Anima naturaliter Christiana*.

Die „Bild“-Zeitung berichtet seit einigen Monaten viel stärker als früher über kirchliche Themen, betrachtet auch gesellschaftliche Fragen häufiger aus religiöser, insbesondere katholischer Sicht. Nehmen Sie damit eine Stimmung in der Bevölkerung auf? Oder versuchen Sie umgekehrt, die Bevölkerung zu beeinflussen, quasi zu missionieren?

Jeden Montag heißt unsere Mission „Bundesliga“, im Sommer sind wir auf der Mission „Bikini“, und 365 Tage im Jahr missionieren wir für besseres Wetter. Im Ernst: Wir missionieren nicht, wir berichten, was ist.

Ist der „Bild“-Leser katholisch?

Die „Bild“-Leser sind Katholiken, Protestanten, Moslems, Juden, Atheisten und so weiter. Frei nach dem Neuen Testament: In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen.

Sie haben sich im vergangenen Jahr ausdrücklich zu Kampagnen als legitimem und positivem Mittel einer Boulevardzeitung bekannt. Ist der Katholizismus nur die aktuelle Kampagne der „Bild“-Zeitung, die in wenigen Monaten durch eine andere abgelöst wird?

Große Ereignisse verdienen große Schlagzeilen, wie nach der erfolgreichen Landung von Apollo 11: „Der Mond ist jetzt ein Ami“.

Im ersten Quartal 2005, das schon von vielen Berichten über Johannes Paul II. geprägt war, ist die Auflage der „Bild“-Zeitung weiter gefallen. Läßt sich mit dem Papst und Themen der katholischen Kirche womöglich gar keine Auflage machen? Würden Sie das in Kauf nehmen als Preis dafür, eine im Sinne der katholischen Kirche und ihrer Werte bessere Zeitung zu machen?

Ich kann Ihre Frage nur mit einem eindeutigen „je nachdem“ beantworten.

Ihr Kolumnist Franz Josef Wagner hat in seiner Kolumne in dieser Woche gemutmaßt, Gott habe den Deutschen „diesen Papst geschenkt, damit wir endlich aufhören, an falsche Götter zu glauben“. Glauben Sie das auch?

Jeder Kolumnist soll nach seiner Fasson selig werden.

Für die Kirche, nicht nur die katholische, ist Keuschheit eine Tugend. Für die „Bild“-Zeitung offensichtlich nicht. Müßte eine Zeitung, die nicht nur in ihrer Berichterstattung über den Papst, sondern auch in der Bewertung aktueller politischer Streitfragen die Prinzipien der Kirche und des christlichen Glaubens als Maßstab anlegt, aufhören, jede versehentlich herausgerutschte weibliche Brustwarze überlebensgroß abzubilden und zu feiern?

Ich glaube, wir müssen uns mal zusammen in der Sixtinischen Kapelle Michelangelos Deckenfresko anschauen. Nackt kommst du auf Erden, nackt wirst du von ihr gehen.

Wie christlich kann eine Boulevardzeitung überhaupt sein? Sehen Sie nicht die Gefahr, je mehr Sie sich als papsttreueste Zeitung positionieren, desto pharisäerhafter zu erscheinen?

Wir alle sind Sünder, ausgenommen natürlich die Kollegen von der Sonntagspresse: Wer am Tag des Herrn das Wort verkündet, tut dies natürlich mit reiner Seele.

Glauben Sie, daß sich Kritik am (neuen) Papst per se verbietet?

Ach, Bruder Niggemeier . . .

Mißbraucht „Bild“ das Pathos der katholischen Kirche und letztlich den Glauben nicht, um in einer Zeit, in der alles beliebig erscheint, sich mit scheinbarer Bedeutung aufzuladen?

Jetzt werden Sie mir etwas zu protestantisch.

Welches ist Ihr Lieblings-Gebot?

Bei dieser Frage möchte ich das Beichtgeheimnis in Anspruch nehmen.

Welches christliche Gebot ist für eine Boulevardzeitung am schwierigsten in der Praxis zu beherzigen?

Du sollst nicht stehlen. Eine alte Journalistenweisheit besagt nämlich: Besser gut geklaut, als schlecht erfunden . . .

Welche christlichen Werte sind Ihrer Meinung nach heute besonders wichtig?

Glaube, Liebe, Hoffnung.

Was antworten Sie gläubigen Christen, die sich daran stoßen, daß „Bild“ Anzeigen von Prostituierten veröffentlicht?

„Bild“-Volksbibel, Seite 1046. Für alle anderen: Johannes-Evangelium, Kapitel 8, Vers 7.**

*) „Die Seele ist natürlicherweise christlich“, mit anderen Worten: das Christentum ist genau das, was der Mensch im Innersten sucht. Wort des Kirchenführers Tertullian, 197 nach Christus.

**) „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“

Bild-Zeitung

Nichts zu danken. Die „Bild“-Zeitung wird fünfzig Jahre alt – und alle, alle gratulieren. Doch gibt es was zu feiern?

Vielleicht muß man das einfach mal erlebt haben, daß einem Familienmitglieder wegsterben in einem furchtbaren Unfall und man am nächsten Tag nicht die paar Schritte von der Haustür zum Auto gehen kann, weil Fotografen und Reporter von der „Bild“-Zeitung am Grundstück lauern und einen verfolgen und fotografieren und wenig später anrufen und fragen, ob man sich wirklich ganz sicher sei, daß man nicht in einem Interview über die eigene Trauer reden wolle, weil man die Fotos von einem selbst und seinen Angehörigen veröffentlichen werde, so oder so, aber so wäre es vielleicht besser.

Vielleicht muß man das einfach mal erlebt haben, daß man mit seinem Laster einen tragischen Unfall verursacht, der zwei Menschen das Leben kostet, um festzustellen, daß damit der Tiefpunkt noch nicht erreicht ist, sondern erst am nächsten Tag, als die „Bild“-Zeitung ein riesiges Foto von einem abdruckt und einen Pfeil und daneben die Schlagzeile: „Er hat gerade zwei Berliner totgefahren.“

Vielleicht muß man das einfach mal erlebt haben, daß man vor Gericht steht, weil man möglicherweise als Handwerker einen Fehler gemacht hat und durch eine unglückliche Verkettung von Umständen ein Kind einen Stromstoß erleidet, der bleibende Schäden bei ihm auslöst, und am nächsten Tag sein eigenes Gesicht in der „Bild“-Zeitung sehen und daneben die Frage: „Hat der Elektriker Timmi auf dem Gewissen?“

Vielleicht würde es schon reichen, wenn man einmal erlebt hätte, wie das ist, als halbwegs prominenter Mensch von der Klatsch-Kolumnistin der „Bild“-Zeitung angerufen zu werden und sinngemäß gesagt zu bekommen: „Sag mir, mit wem du vögelst. Wenn du es mir nicht sagst, schreiben wir morgen, du vögelst mit XY.“

Wahrscheinlich wüßte man dann, daß die „Bild“-Zeitung lügt, wenn sie, wie gestern, schreibt: „,Bild‘ feiert Geburtstag. Ganz Deutschland freut sich, ganz Deutschland feiert mit.“ Wahrscheinlich würde man dann versuchen, die Jubiläumsfeierlichkeiten in der „Bild“-Zeitung weiträumig zu umfahren. Und wahrscheinlich würde man dann verzweifeln, weil man feststellen müßte, daß „Bild“ in diesen Tagen nicht nur Geburtstag hat, sondern heiliggesprochen wird, nicht nur von den angeschlossenen Springer-Blättern, nicht nur von den Konservativen und Staatstragenden, sondern auch von der halben liberalen Presse. Vor ein paar Jahren war es noch so, daß „Bild“ bäh war; alle lasen sie, aber wer sich bekannte, es gerne und interessiert zu tun, war in aufgeklärten Kreisen schnell ein Außenseiter. Heute ist es so, daß „Bild“ cool ist; alle lesen sie, und wer sich bekennt, sie für ein entsetzliches menschenverachtendes Blatt zu halten, ist in aufgeklärten Kreisen schnell ein Außenseiter.

Sie hat sich diese schillernde Oberfläche aus Nebensächlichem, Harmlosigkeiten und Selbstironie zugelegt, die Medienprofis und Intellektuellen gefällt. Die freuen sich über den Einfall, zum Fußball-Spiel am frühen Morgen die „Bild“-Zeitung mit zwei Titelseiten erscheinen zu lassen – je nach Sieg oder Niederlage. Sie interpretieren öffentlich, wie man das zu werten habe, daß die „Bild“-Zeitung, im kalkulierten Schein-Tabubruch, vor dem USA-Spiel schreibt: „Ami go home“, höhö. Sie sind süchtig nach dem täglichen Brief von Franz-Josef Wagner und neidisch auf seine Fähigkeit, den Wirrwarr in seinem Kopf ohne Umweg über Filter im Gehirn auf die Seiten fließen zu lassen. Sie schauen mit ein bißchen Abscheu und viel Faszination auf die Abgründe, die sich jeden Tag auf Seite eins auftun, auf die x-te Wendung im Uschi-Glas-Drama, staunen, wie „Bild“ es an guten Tagen schafft, wenn man glaubt, nun könnte ihnen dazu unmöglich noch etwas einfallen, sogar mehrere Dauer-Handlungsstränge zusammenlaufen zu lassen und die Schicksale von Klaus-Jürgen Wussow, Uschi Glas und Ireen Sheer unendlich kunstvoll ineinander zu verweben.

Sie lesen die „Bild“-Zeitung, kurz gesagt, als Fiktion. Und die „Bild“-Zeitung fördert das, indem sie – selbstbewußt und selbstreflexiv, fest verankert im postmodernen und postideologischen Zeitalter – ihre eigene Rolle im Blatt zum Thema macht und zum Beispiel das endlos weitergedrehte Wussow-Scheidungsdrama selbst zur Soap erklärt und mit eigenem Logo „Die Wussows“ samt Angabe der „Folge“ versieht.

„Kampagnen“ hat man dem Chefredakteur Kai Diekmann kurz nach seinem Amtsantritt vorgeworfen, und er hat das empört von sich gewiesen. So ein Unfug: Seit Diekmann Chefredakteur ist, finden auf der Seite eins der „Bild“-Zeitung fast ausschließlich Kampagnen statt – nur daß man sie, angesichts der Themen, eher „Fortsetzungsromane“ nennen müßte. Jedes Thema wird über Tage, Wochen, Monate gar weitergedreht, bis auch die letzte dramaturgische Wendung und irre Pointe herausgepreßt ist. Im Februar standen an vierzehn von vierundzwanzig Erscheinungstagen die privaten Sorgen von Uschi Glas und ihrer Familie auf der Titelseite der „Bild“. Ein Thema so ernst zu nehmen verlangt einen gewissen Unernst, ein Augenzwinkern. Das ist hohe Kunst. Da staunt die Branche. Und lacht.

Ob es auch dem durchschnittlichen Leser gefällt, ist eine andere Frage. Ausgerechnet im ersten Quartal, jenem mit den Uschi-Glas-Trennungs-Festspielen, sackte die Auflage der „Bild“-Zeitung um 200 000 Stück gegenüber dem Vorjahr ab, ein Rückgang um heftige fünf Prozent. Diekmann erklärt das damit, daß die Leser nicht mehr abgezählte Groschen rüberschieben konnten, sondern nach Cent kramen mußten. Frage: Würde die „Bild“-Zeitung einem Wirtschaftsboß oder Minister diese Erklärung durchgehen lassen?

In einer Lobhudelei attestierte die „Welt“ ihrem Schwesterblatt in der vergangenen Woche, daß „das heutige Blatt erheblich jünger und sexier wirkt als die Protestierenden von damals“ (was natürlich kein Kunststück ist, da es Menschen ein bißchen schwerer fällt als Zeitungen, den Alterungsprozeß durch den Austausch von Chefredakteuren aufzuhalten). Die „Welt“ weiter: „Die Intellektuellen haben aufgehört, sich über ,Bild‘ aufzuregen.“ Das Furchtbare an diesem Satz ist, daß er in doppelter Hinsicht stimmt. Er beinhaltet nämlich auch die Analyse, daß es nicht die „Bild“-Zeitung ist, die sich verändert hat, zahmer geworden sei etwa, sondern die Intellektuellen diejenigen sind, die sich geändert haben. Die Orientierungspunkte haben sich verschoben, die Medienwelt insgesamt, nur deshalb ist „Bild“ plötzlich kein Schmuddelkind mehr. Heute erzählt der nette Herr Röbel, der bis vor eineinhalb Jahren „Bild“-Chefredakteur war, im „Tagesspiegel“ ganz offen, wie das geht, dieses Witwenschütteln, das ihm sein Chef beigebracht hat, über den er „nichts Schlechtes sagen“ kann: „Hatte man etwa bei einem Unglück die Adresse von Hinterbliebenen herausgefunden, ist man sofort hingefahren, klar. Beim Abschied aber hat man die Klingelschilder an der Tür heimlich ausgetauscht, um die Konkurrenz zu verwirren. Ich war damals oft mit demselben Fotografen unterwegs, wir hatten eine perfekte Rollenaufteilung. Er hatte eine Stimme wie ein Pastor und begrüßte die Leute mit einem doppelten Händedruck, herzliches Beileid, Herr . . . Ich mußte dann nur noch zuhören. So kamen wir an die besten Fotos aus den Familienalben. . . . Es war einfach geil.“

Schwer zu sagen, ob all die Intellektuellen, die sich nicht mehr aufregen, all die liberalen Journalisten mit ihren Eigentlich-ist-sie-doch-gut-Artikeln zum Geburtstag, ob sie diese Methoden auch geil finden oder ob sich ihre „Bild“-Lektüre auf die witzigen, schrägen, spannenden ersten beiden Seiten, den Sport und den Klatsch am Schluß beschränkt. Dazwischen nämlich, vor allem in den Lokalteilen, läuft das Blut wie eh und je. Es vergeht kein Tag, ohne daß zum Beispiel „Bild Berlin“ der Leserschaft die Beteiligten eines Unfalls, eines Prozesses, irgendeiner Tragödie mit großen Fotos zum Fraß vorwirft. Eine Viertelseite füllt das Foto von Christian S. neben der Schlagzeile: „Ich habe eine nette Oma totgefahren. Was ist mein Leben jetzt noch wert?“ Verdächtige werden nicht dann zu Mördern, wenn sie verurteilt sind, sondern wenn „Bild“ sie dazu erklärt: „Anna (7) in Schultoilette vergewaltigt. Er war’s“ steht dann da und ein Pfeil und ein Bild, und im Text ist schon vom „Beweis seiner Schuld“ die Rede.

Jeder Beteiligte wird abgebildet und trotz eines Alibi-Balkens über seinen Augen (den auch nicht alle bekommen) mit Vornamen, abgekürztem Nachnamen und Ortsangabe für sein Umfeld eindeutig identifizierbar. „Weil sie sich mit ihrem Freund amüsierte – diese Berliner Mutter ließ ihren Sohn verhungern“, „Dominik (15) erhängte sich auf dem Dachboden“ – sie alle dürfen wir sehen. Es reicht schon, eine blinde Hündin ausgesetzt haben zu sollen, um mit Foto an den „Bild“-Pranger gestellt zu werden.

Das Blatt Axel C. Springers kämpft immer noch jeden Tag die alten Kämpfe. Wenn die PDS mitregiert in Berlin, schreibt „Bild“: „PDS krallt sich drei Senatoren-Posten“. Wenn Gregor Gysi Wirtschaftssenator wird, steht da an einem Tag die Frage: „Was wird jetzt aus Berlin“ und an einem anderen Tag die Antwort: „Gute Nacht, Berlin“ und nur ganz klein darunter in Klammern: “ . . . sagt Edmund Stoiber“. „Neue Stasi-Akten über Gysi gefunden“, heißt die Überschrift neben einem Bild, auf dem man ihm den bösen Spitzel schon anzusehen glaubt, doch im Text sagt ein Sprecher der Gauck-Behörde nur: „Hier und da wurde noch ein Blatt über ihn gefunden“ und der Autor ergänzt: „Ob brisant, dazu wurden keine Angaben gemacht“. Wenn es sein muß, wie vor einigen Monaten in Bremen, wird täglich neu gegen „Schein-Asylanten“ gehetzt. Sexualstraftätern wird konsequent das Mensch-Sein abgesprochen; sie sind „Monster“, deren Leben „im Knast schöner“ wird, „beinahe wie im Hotel“. Die Leser verstehen, ohne daß „Bild“ es hinschreiben müßte: Ihre Zeitung kämpft täglich für die Todesstrafe für Kinderschänder und -mörder.

Nein, neu ist das alles nicht. Das ist es ja: Im Kern ist die „Bild“-Zeitung die alte. Ein entsetzliches, menschenverachtendes Blatt.

Bitter daran, daß dies von weiten Teilen der veröffentlichten Meinung nicht mehr so gesehen wird, ist auch, daß es Kai Diekmann ermuntert, ein Bild von seiner Arbeit und seiner Zeitung zu zeichnen, das höchstens in einem Springerschen Paralleluniversum Berührungspunkte zu dem hat, was täglich nachzulesen ist. Der Mann, dessen Zeitung vom Presserat immer wieder wegen der immer gleichen Verstöße gerügt wird, dieser Mann sagt gegenüber der Katholischen Nachrichtenagentur: Die Grenzen des Boulevards seien dort, „wo Menschen verletzt werden könnten“ – daher messe sich die Zeitung regelmäßig an den journalistischen Leitlinien des Deutschen Presserats. Messen schon, nur verfehlt sie sie regelmäßig.

Der „Frankfurter Rundschau“ erzählt Diekmann: „Ich bin ein Streiter für journalistische Sorgfalt, gegen die Verluderung der Sitten.“ Jeder Reporter müsse selbst entscheiden, wo die Grenzen sind, aber er sage ihnen: „,Lieber haben wir dreimal das Bild nicht, als daß wir den Angehörigen der Opfer zu nahe treten.‘ Schließlich sind das Menschen, die ohne eigenes Zutun ins Licht der Öffentlichkeit gerückt sind.“ Das ist ein Satz, der so atemberaubend ist, daß er in jedes Schulbuch gehört. Und daneben der „Bild“-Artikel samt Foto von dem Maurer, der in seinem Dachstuhl verbrannt ist. Oder der „Bild“-Artikel samt Foto von dem dreizehnjährigen Unfallopfer: „Tot, weil er eine Sekunde nicht aufgepaßt hat“. Oder der „Bild“-Artikel samt Foto von dem Vizebürgermeister, der sich „in Pfütze totgefahren“ hat. Oder der „Bild“-Artikel samt Foto von dem Achtzehnjährigen, der nach einem Unfall auf regennasser Straße im Auto seines besten Freundes starb.

Dann sagt Kai Diekmann der „Frankfurter Rundschau“ noch dies: „Ganz im Ernst: Wer wirklich privat sein will, kann das selbstverständlich sein. Es gibt Menschen, Politiker, die setzen bewußt ihre Familie ein. Und andere, wie Günther Jauch oder Harald Schmidt, tun’s nicht. Die haben unbedingten Anspruch auf Schutz ihrer Privatsphäre.“ Wirklich privat wollte, nach eigenen Angaben, Alfred Biolek mit seinem Partner sein. Kai Diekmanns „Bild“-Zeitung gewährte ihm diese Ehre nicht. Zwei Tage lang zelebrierte sie eine Home-Story, die auch noch den Eindruck erweckte, sie sei von Biolek selbst initiiert. Wirklich privat wollte auch Anke S. sein, die Geliebte des Ehemanns von Uschi Glas. Anders als die „Luder“-Fraktion wollte sie entschieden nicht in die Presse, ging gegen die Veröffentlichung ihrer Bilder vor, doch im Februar gab es Zeiten, in denen sie Tag für Tag auf der ersten Seite der „Bild“-Zeitung nackt abgebildet war, einen schwarzen Balken nicht über den Augen, sondern ihrem Busen, als wäre der das Merkmal, an dem sie zu erkennen wäre. Biolek und Anke S. gehen juristisch gegen die „Bild“-Zeitung vor, wie Hunderte Prominente vor ihnen. Einige bekommen vor Gericht recht, die meisten einigen sich irgendwie mit der Zeitung, weil Recht eine Sache ist, die Feindschaft der „Bild“-Zeitung eine andere.

Selbst einige von jenen, denen die „Bild“-Zeitung übel mitgespielt hat, haben ihre Einwilligung gegeben, daß der Verlag ihr Foto für die Jubiläums-Kampagne benutzen darf, die auf geschickte Weise offenläßt, ob „Bild“ ihnen dankt oder sie „Bild“ danken. Öffentlich nicht mitfeiern wollen nur die Wallraffs dieser Welt, die man leicht als Ewiggestrige, Miesepeter, Spielverderber darstellen kann. Ach, und vielleicht der ein oder andere Mensch, dessen privates Unglück so ungleich unerträglicher dadurch wurde, daß die „Bild“-Zeitung davon lebt, es der ganzen Nation zu zeigen.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung