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Die Kaninchenverschwörung von Köln


Foto: Robobobobo

Ich war auf einiges vorbereitet, bevor ich für ein paar Monate nach Köln zog: geflieste Häuserfassaden, zwei Meter breite Fußgängerzonen, diese Witzischkeit, diese Biersache, Ortsbezeichnungen wie Sülzgürtel, die Samstagabendapokalypse auf dem Ring, Plattenbauten (Dom). Nur eines hatte ich nicht auf dem Zettel: Kaninchen.

In Köln herrscht eine Kaninchenplage biblischen Ausmaßes, und niemand sagt es einem!

Vermutlich wäre es mir auch nicht aufgefallen, aber seit einigen Jahren lebe ich mit einem Hund zusammen, dem es etwas ausmacht, wenn eine Stadt von Kaninchen beherrscht wird.

Der Hund ist eigentlich ein vergleichsweise gelassenes Tier. Wenn er ohne Leine unterwegs ist, ist schätzungsweise die Hälfte seines Gehirns mit dem gründlichen Kartografieren und Kennzeichnen des Geländes beschäftigt; weitere größere Anteile sind damit befasst, sich ganz knapp außerhalb meiner Rufweite aufzuhalten, andere Hunde zu begrüßen und diese eine Sorte leckeres Gras zu finden. Ein winziger Gehirnteil ist dafür zuständig, losen Kontakt mit mir zu halten.

Riecht er Kaninchen, werden automatisch sämtliche anderen Vorgänge in seinem Hundegehirn heruntergefahren. Es läuft dann ausschließlich das Kaninchenvernichtungsprogramm und beansprucht schätzungsweise 320 Prozent der Prozessorleistung. Je nachdem, ob er an der Leine hängt oder nicht, ist der Hund erregt und empört oder weg.

Nun jagt der Hund zugegebenermaßen nicht nur Kaninchen, sondern auch Mäuse und Eichhörnchen. Aber der Gewinner einer Mäusejagd steht in aller Regel innerhalb von zehn Sekunden fest. (Ich habe keine komplette Übersicht, aber es dürfte aktuell ungefähr 3000:3 für die Mäuse stehen.) Und die Eichhörnchenjagd endet jedesmal damit, dass der Hund hilflos da steht, nach oben schaut, um die Baumspitzen zu kontrollieren, was sehr traurig und lustig aussieht, und es nicht fassen kann, dass niemand etwas gegen diese Plage tut.

Kaninchen sind anders. Kaninchen elektrisieren den Hund nicht nur wie nichts sonst. Sie werden auch ausdauernd und anscheinend über größere Strecken mit wildem, verzweifeltem Bellen verfolgt.

Ich schreibe „anscheinend“, denn ich weiß es ja nicht so genau. Ich stehe ja währenddessen mit der Leine in der Hand am Waldrand.

Das ist keine gute Zeit, die man so verbringt. Nach spätestens zehn Minuten fängt man an, sich zu überlegen: ob der überhaupt den Weg zurückfindet; wieviel Stunden man hier im Notfall warten würde; ob es klüger ist, ihn zu suchen oder am Ort der Trennung zu warten, wie meine Eltern es mir beigebracht haben; ob man einen überfahrenen Hund auch in der Leichenhalle identifizieren müsste, wie man es im Fernsehen mit Mordopfern immer sieht; wie das Leben ohne Hund so wäre; wie man es den Freunden und Kollegen beibringt; ob man irgendwann Zettel an die Bäume heften würde und er Jahre später plötzlich in Berlin an die Wohnungstür kratzen würde.

Bei mir kommt erschwerend meine Soziophobie hinzu: Das Vorletzte, das ich möchte, wenn ich da so stehe und auf meinen Hund warte, der gerade irgendwo unabgesprochen Kaninchen jagt, falls er nicht längst vom Auto überfahren wurde, ist, dass die vorbeikommenden Leute denken: Ach guck mal, schon wieder so ein Depp, der seinen Hund hier freilaufen lässt, tjaha, naja. (Das Letzte, das ich möchte, ist, dass Leute mich dann hilfsbereit, mitleidig oder aufmunternd ansprechen und irgendetwas Lustiges oder Nettes sagen oder etwas Offensichtliches fragen. Ich habe deshalb schon gelegentlich, während ich da so stand, die Leine in der Jackentasche versteckt, damit man denken könnte, ich würde einfach auf irgendwen warten. Aber dann fiel mir auf, dass ich mir so die Chance vergebe, dass jemand die Situation erkennt und sagt: „Ach, suchen Sie womöglich so einen grauen Zottel? Der ist da ganz, ganz hinten, bei den Enten am See.“ Auch blöd.)

Jedenfalls: Kaninchen. Es gibt wenig, was mein Zusammenleben mit dem Hund auf eine so harte Probe stellt.

In Berlin sitzen sie alle im Tiergarten. Deshalb gehen wir da nicht mehr hin. Außerhalb des Tiergartens scheint die Hauptstadt weitgehend kaninchenfrei zu sein. Jedenfalls kann ich weitgehend entspannt mit dem Hund durch die Parks, Heiden und Wälder Berlins und Brandenburgs toben und habe noch nie darüber nachgedacht, was für ein glücklicher Umstand das ist, dass hier keine Kaninchen sind.

In Köln sind die überall. Im Stadtwald. Im Stadtgarten. Im Beethovenpark. An der Universität. Am Aachener Weiher ist es ein Wunder, dass man drei Schritte tun kann, ohne auf eines draufzutreten.

(Toll, theoretisch, wieviel Grün es in Köln gibt. Leider halt komplett verseucht.)

Neulich habe ich eine große Runde durch den Beethovenpark gemacht, den Hund, nach schlechten Erfahrungen am Tag davor und am Tag davor (s.o.), an der Leine. Die Kaninchen schienen zu wissen, was das Band zwischen mir und dem Tier bedeutete, saßen in größeren Gruppen wenige Meter vor uns auf der Wiese, zeigten uns die Nase und, ich schwöre, lachten uns aus. Der Hund konnte nicht glauben, dass er sich das ansehen musste.

Nach dieser unentspannten Tour dachte ich, ich gönne ihm wenigstens ein paar Minuten Freiheit auf dem Stückchen Grün am Hermeskeiler Platz, ein kleiner Flecken Rasen, direkt an der Endhaltestelle der Linie 9 in Sülz, umgeben von Straßen, Geschäften, Häusern. Erst nachdem ich die Leine losgemacht hatte, sah ich das einzelne Kaninchen, das mittendrauf saß.

Das hätte ich auch nicht gedacht: Dass mein größtes Problem in und mit dieser Stadt die Kaninchen wären.

Wo kommen die überhaupt alle her? Sind die irgendwann als Gastkaninchen in die Stadt geholt worden, um beim Graben des U-Bahn-Tunnels unter der Altstadt zu helfen, und nach dem Desaster arbeitslos geworden? Sind das alles Landflüchtler, die es im Bergischen und in der Eifel nicht mehr ausgehalten haben und die Annehmlichkeiten des Lebens in der Großstadt nicht mehr missen wollen?

Köln ist in der Hand von Kaninchen. Im Namen meines Hundes möchte ich fragen: Soll das so?