Schlagwort: Katrin Müller-Hohenstein

Deutschland ringt um Fassung

Ich würde die Frage „Sind eigentlich alle verrückt geworden?“ während Fußball-Welt- und Europa-Meisterschaften ohnehin pauschal mit „Ja“ beantworten. Aber der Wahn, der in diesen Tagen ARD und ZDF erfasst hat, ist ganz besonders besorgniserregend.

Es ist eine Sache, wenn die „Bild“-Zeitung innerhalb nicht einmal einer Woche aufgrund eines einzigen verlorenen Spiels aus einer Truppe, die sie gerade noch als unschlagbar bezeichnet hat, eine Ansammlung von Volldeppen macht. Ich nehme an, dass das nicht nur mit der üblichen Schamlosigkeit, Skrupellosigkeit und Schizophrenie zu tun hat, die die Leute auszeichnet, die dort arbeiten. Ich schätze, es ist auch Ausdruck eines Selbsthasses, der durch die nicht mehr auflösbare Vieldeutigkeit des Begriffes „wir“ dramatisch verschärft wird. Wenn „Bild“ in diesen Zeiten „wir“ schreibt, kann das „Bild“, „die Deutschen“ oder „die deutsche Nationalmannschaft“ meinen.

Aus der Sicht der „Bild“-Leute bedeutet das: Wenn wir uns attestiert haben, dass wir unschlagbar sind, und wir dann doch geschlagen werden, bedeutet das für uns eine doppelte Niederlage, die wir uns ganz besonders übel nehmen.

Die „Bild“-Leute müssten sich verfluchen für den eigenen Rausch, für die grotesk übertriebenen Erwartungen und hysterischen Lobeshymnen. Stattdessen verfluchen sie die Mannschaft, weil sie nicht in der Lage war, diesen Übertreibungen gerecht zu werden. Plötzlich sind die Schuld, dass wir verloren haben — und „Bild“ rechnet mit ihnen ab.

Das ist so widerlich wie erwartbar, aber das ist „Bild“.

Arnd Zeigler schreibt in einem lesenswerten Offenen Brief:

Es ist wirklich interessant zu beobachten, dass es für ein Abschneiden wie diesmal bei der BILD (und überraschenderweise auch bei vielen Fußball-Konsumenten) gar keine Kategorie mehr gibt. Es gibt nur „Europameister“ oder „Vollversager“.

Das aber ist leider kein exklusives „Bild“-Phänomen. Das war in der Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender nicht anders.

Das Erste zeigte gestern am Ende seiner Berichterstattung von der Leichtathletik-EM einen Beitrag von Bernd Schmelzer, der aus der Niederlage im Halbfinale eine nationale Katastrophe beinahe apokalyptischen Ausmaßes machte. Offenbar zu betroffen, um Verben benutzen zu können, sprach er aus dem Off zu Bildern von der abreisenden Mannschaft:

Nichts wie weg. Weg aus Warschau. Abhaken diese EM. Dieses Halbfinale. Die Personaldiskussionen. Die goldene Generation. Ein Trauma. Den Tiefpunkt. Auch wenn’s schwerfällt.

Alles aus, vorbei. Wieder gegen Italien. Es ist wie ein Fluch.

Zu Aufnahmen von enttäuschten Fans rang Schmelzer um Fassung, fand sie nicht und sagte also:

Deutschland ringt um Fassung.

Und gleich danach noch einmal:

Ein ganzes Land ist fassungslos. Hunderttausende auf den Fanmeilen — wie in Schockstarre.

Katerstimmung von Nord bis Süd.

Absturz statt Höhenflug.

Das ZDF hatte schon tagsüber von seinem „ZDF-Fußballstrand“ auf Usedom berichtet. Dort hatte sich endgültig die Hölle aufgetan, die Metaphernhölle, und so formulierte ein öffentlich-rechtlicher Fußballstrandreporter:

Auch am ZDF-Fußballstrand in Heringsdorf mussten 1000 deutsche Fans ihren Traum vom EM-Titel begraben. (…) Wie ein zäher Küstennebel legte sich der Italienfluch über den ZDF-Fußbsallstrand. Die Stimmung der Fans so weit unten wie die Ostsee tief ist. (…) Nun fällt die Party ins Wasser. Hier am ZDF-Fußballstrand tragen die Fans Trauer.

Ich schätze, sie haben in der Nachrichtenredaktion des ZDF länger überlegt, ob sie „heute“ oder das „heute journal“ angesichts der dramatischen Ereignisse nicht direkt vom ZDF-Fußballstrand auf Usedom senden sollten. Und da dort bekanntlich Europa entsteht, wäre das ZDF vor den 1000 leeren Liegestühlen auch am perfekten Ort gewesen, um hautnah über die dramatischen Beschlüsse in Brüssel und die wichtigen europapolitischen Abstimmungen im Bundestag berichten zu können.

Am Ende nahm das ZDF dann aber doch nur ein „ZDF-Spezial“ gleich nach der Hauptausgabe der „heute“-Sendung zusätzlich ins Programm. (Nein, nicht zu den Euro-Beschlüssen. Zum Ausscheiden der deutschen Mannschaft im Halbfinale bei der Europameisterschaft.)

Das ZDF zeigt den Mannschaftsbus, wie er vor dem Hotel abfährt. Das Flugzeug, in dem die Mannschaft nach Deutschland fliegt. Die Autos, mit denen die Spieler in Frankfurt wegfahren.

Oliver, sagt Katrin Müller-Hohenstein dann, während man hinter ihr den geschichtsträchtigen Sand sehen kann, unter dem nun die Hoffnungen von 1000 deutschen Fans verbuddelt sein müssen. „Oliver“, sagt sie also, „wir müssen darüber reden, was gestern abend passiert ist.“ Es scheint also immerhin keine freie Entscheidung des Senders gewesen zu sein, dieses „ZDF-Spezial“ ins Programm zu nehmen, in dem Oliver Kahn insgesamt fast vier Minuten irgendetwas sagt, sondern eine Notwendigkeit, eine nationale Pflicht.

Zentraler Beitrag der Sendung ist ein Film von Boris Büchler über „eine unvollendete Generation 2006 bis 2012“, der mit folgenden Worten beginnt:

Für den Mann, den sie Jogi nennen, ist die EM Geschichte. Endstation Warschau. Die Stunde Null der vielzitierten goldenen Generation, der anscheinend die Siegermentalität bei großen Spielen, bei Turnieren fehlt. 2012 sollte für das Gesamtwerk des Bundestrainers ein entscheidendes werden. Doch Löw und seine Auserwählten bleiben die Unvollendeten.

Auch für den Mann, den sie Boris Büchler nennen, ist die EM Geschichte. Man muss diesen Film gesehen haben, um eine Ahnung davon zu bekommen, dass sich die Sportberichterstattung im ZDF weiter vom Journalismus entfernt hat, als selbst der Veranstaltungsort „Fußballstrand“ erahnen lässt. Er hat einen Nachruf gedreht, die Szenen sind mit dramatischer Musik unterlegt. Sein Stück hat nichts Dokumentarisches mehr, fast jede Szene ist verfremdet, durch Zeitlupe, durch Unschärfe, durch Überblendungen, durch Instagram-ähnliche Effekte. Alles ist historisiert: Schlieren und Schleier wie bei alten Schwarzweißfilmen liegen über den Aufnahmen, Markierungen und Symbole wie aus Spielfilmen, Flecken wie aus Homevideos mit der Super-8-Kamera.

Um den Eindruck einer Trauerfeier zu verstärken, sind die Ränder der Bilder abgedunkelt — ein Effekt, den RTL konsequent bei Sendungen wie dem „Supertalent“ benutzt, um künstlich Dramatik zu schaffen. Die gleiche Absicht, die gleiche Wirkung, hat er auch hier. Das ZDF zeigt in seiner Sondersendung nach den Nachrichten nicht, wie es war, sondern wie es sich angefühlt hat. Es ist eine konsequente Fiktionalisierung des Geschehens:


 
„Wir brauchen diese deutschen Tugenden, die uns immer groß gemacht haben“, sagt Oliver Kahn hinterher noch. „Darüber sollten wir uns mal zen-tra-le Gedanken machen.“ Damit endet das „ZDF-Spezial“ zum Ausscheiden der deutschen Mannschaft bei der Fußball-EM 2012.

Unterdessen gibt es Aufregung, dass die Uefa im Spiegel gegen Italien eine weinende Zuschauerin in der Übertragung nach dem 2:0 gezeigt hat, obwohl sie sagt, sie hätte schon vor dem Anpfiff geweint. Eine „bodenlose Frechheit“, meldet „Welt Online“ gewohnt nüchtern.

Die ARD will sich wieder beim Verband beschweren, und das ZDF wird sicher auch noch markige Worte für diese Art der Manipulation finden. Sie werden so laut und empört über diesen unseriösen Einsatz von Symbolbildern protestieren, dass man fast denken könnte, sie hätten einen Ruf zu verlieren, als Journalisten und seriöse Sportberichterstatter.

Katrin Müller-Milch-Hohenstein

Manche Dinge ändern sich nicht.

„Hallo. Ich bin Ilona Christen, und wie Sie vielleicht wissen, gehe ich den Dingen ganz gerne auf den Grund. Da gibt es ein neues Waschmittel: ‚Ariel Futur‘ – verspricht ‚Reinheit pur‘. Starke Worte. Deshalb hab ich erstmal bei den Ariels nachgefragt, was das eigentlich heißt.“ (Werbung, 1996)

„Als Mutter trage ich besondere Verantwortung für die Ernährung meiner Familie. Deshalb will ich mir immer sicher sein, dass die Qualität unserer Lebensmittel immer die beste ist. Der Qualitätsbeirat der Molkerei Weihenstephan sorgt für Transparenz gegenüber dem Verbraucher und gibt mir das Gefühl, wirklich zu wissen, wie meine Molkereiprodukte hergestellt worden sind. (…) Und dann gehen wir der Sache einfach mal auf den Grund.“ (Werbung, 2010)

Es gibt dann aber doch ein paar Unterschiede zwischen der Werbung der damaligen RTL-Talkmasterin Ilona Christen und der heutigen ZDF-Sportmoderatorin Katrin Müller-Hohenstein, und der unterschiedliche Arbeitgeber ist schon einmal kein unwesentlicher.

Ein weiterer ist, dass Ilona Christen damals nicht so getan hat, als sei ihre Werbung irgendetwas anderes als Werbung. Katrin Müller-Hohenstein hingegen hat laut „Spiegel“ gesagt: „Es war nie meine Absicht zu werben.“ (Immerhin vermied sie knapp die historisch vorbelastete Formulierung: „Niemand hat die Absicht, Werbung zu treiben.“)

Müller-Hohensteins Auftritt auf der Weihenstephan-Seite hat dieselbe alberne Diskrepanz zwischen behaupteter Kompetenz und demonstrierter Naivität. Mit ihrer „journalistischen Kompetenz“ unterstütze die Moderatorin die Mitglieder des „Weihenstephan Qualitätsbeirats“, schreibt die Molkerei, die seit zehn Jahren zur Unternehmensgruppe Theo Müller („Müllermilch“) gehört. Die Moderatorin selbst lässt sich mit den Worten zitieren, sie unterstütze die „Qualitätstester“ „mit meinem journalistischen Wissen und meiner natürlichen Neugier“.

Sie begleitet die vier ausgewählten Verbraucher dann bei einem Rundgang durch die Produktionsstätte, den das Unternehmen sicher in ähnlicher Form auch für Schülergruppen anbietet, stellt Fragen wie: „Was is’n überhaupt ESL?“ und verabschiedet die Statisten am Ende mit den Worten:

„Vielen Dank darf ich sagen, für eure Zeit, für euer Engagement, für euer Interesse am Qualitätsbeirat von Weihenstephan. Ich glaube, es ist wichtig, dass es kritische Verbraucher gibt, die auch mal genauer hinschauen. Das genau habt ihr getan. Vielen Dank!“

Ihr eigenes Fazit als kritische Journalistin:

„Also, ich fand’s ganz toll.“

Vielleicht kann man da den ZDF-Chefredakteur verstehen, dass er nicht glücklich ist mit dieser Form der Nebentätigkeit seiner Star-Moderatorin (obwohl sie von seinem Vorgänger Nikolaus Brender genehmigt worden sein soll): „Ihr Internet-Auftritt auf den Seiten von Weihenstephan ist nicht glücklich und kann so nicht bleiben“, sagte er gegenüber dem „Medium Magazin“. Er sei „nicht grundsätzlich dagegen, dass Kollegen Nebentätigkeiten ausüben, solange sie keinen werblichen Charakter haben und die journalistische Glaubwürdigkeit nicht gefährden“ und regte neue Richtlinien für solche Fälle an.

Das könnte alles eine Lappalie sein, vor allem nachdem sich Müller-Hohenstein entschuldigt hat und ihr Schein-Amt im lustigen „Beirat“ niederlegen will. Aber Müller-Hohenstein und ihr Management tun gerade alles, um den Fall zu einem Skandal eskalieren zu lassen. Dazu gehört der dreiste Versuch, so tun, als handle es sich gar nicht um Werbung. Gegenüber „Spiegel Online“ behauptet das Management der Moderatorin, sie preise nicht die Vorzüge der Marke Weihenstephan. Dort liest es sich auch, als sei Müller-Hohenstein ein Opfer, das fies unter Druck gesetzt werde. Erst aus der Presse habe die Moderatorin am gestrigen Freitag erfahren müssen, dass das ZDF mit ihrem Werbeauftritt unzufrieden sei. Dem widerspricht das „Medium Magazin“. Es dokumentiert detailliert die schriftlichen Anfragen an Müller-Hohenstein – bereits am Dienstag hätte sie demnach die Kritik Freys kennen können oder müssen. Laut „Medium Magazin“ verzichtete das Management trotz Nachfrage auf die Möglichkeit, eine Stellungnahme abzugeben.

Über die Frage, ob Menschen, die im öffentlich-rechtlichen Fernsehen an prominenter Stelle im weitesten Sinne als Journalisten arbeiten, auch noch Werbung machen sollten, kann man streiten. Und darüber, wie Gier jedes Gefühl für peinliche Auftritte auszuschalten scheint, staunen. Aber für dumm verkaufen lassen sollte man sich als Gebührenzahler von einer Katrin Müller-Hohenstein nicht müssen.

Unter Nazi-Content-Produzenten

Auf „Welt Online“ ist in der Zwischenzeit ein gutes halbes Dutzend Artikel über die ZDF-Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein und ihre Formulierung vom „inneren Reichsparteitag“ produziert worden, routiniert angereichert mit einer 53-sekündigen Videodokumentation „So begann der zweite Weltkrieg“, einer 22-teiligen Bildergalerie über Leni Riefenstahl und einer 52-teiligen Klickstrecke „Etappen des Krieges in Europa“.

An einer anderen Stelle musste „Welt Online“ seine Nazi-Content-Produktionsmaschine allerdings stoppen. Aus dem Artikel „Müller-Hohenstein spricht von ‚Reichsparteitag'“ wurde klammheimlich ein ganzer Absatz entfernt, nämlich dieser:

Die Löschung ist nicht überraschend, denn so, wie das da steht, hat sich Eva Herman nicht geäußert. Die frühere Fernsehmoderatorin hat dem Springer-Verlag bereits früher eine ähnliche Formulierung gerichtlich untersagen lassen und Schmerzensgeld erwirkt.

(Das würde mich an der Stelle von Katrin Müller-Hohenstein am meisten wurmen: Dass sie sich ausgerechnet von solchen Leuten einen gedankenlosen Umgang mit Sprache und dem Dritten Reich vorwerfen lassen muss.)

Das Schwesterangebot morgenpost.de hatte den Artikel von „Welt Online“ wie üblich übernommen — dort erscheint jetzt nur noch eine Fehlermeldung.

Erstaunlicherweise hatte auch das Online-Angebot des „Stern“ den „Welt Online“-Artikel auf seinen Seiten republiziert — und irgendwann noch der außerordentlich dämlichen und irreführenden Formulierung aufgepeppt: „Selbst die BundesRegierung schaltete sich ein.“ (In Wahrheit hatte ein Sprecher auf Nachfrage gesagt, dass man sich nicht einschalten werde.)

Müller-Hohenstein und Kloses "Reichsparteitag" Im Alltag hat sich die unselige Sprachwendung gehalten, nun ist ZDF-Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein darüber gestolpert. Einen "inneren Reichsparteitag" habe Miroslav Klose nach seinem Tor gegen Austalien gefeiert. Mit dem Spruch brachte sie die Internet-Gemeinde in Rage. Selbst die Regierung schaltete sich ein.

Jedenfalls ließ auch stern.de den Absatz über Eva Herman ohne ein Wort der Erklärung oder Entschuldigung unauffällig verschwinden. Meine Fragen, warum das korrigiert wurde und warum stern.de solche Korrekturen nicht transparent macht, ließ die Redaktionsleitung trotz einer ausführlichen Antwortmail offen — ebenso meine Erkundigungen, was stern.de dazu bewogen hat, diesen „Welt Online“-Artikel wiederzuverwerten und ob es nicht möglich gewesen wäre, ihn vorher zu redigieren oder zumindest die Fehler zu korrigieren. Redaktionsleiter Frank Thomsen teilt mir allerdings mit, stern.de habe „für die Dauer der WM auch mit Welt Online verabredet, gegenseitig einzelne Stücke auszutauschen, wenn es passt und die jeweiligen Leser etwas davon haben.“

stern.de hat die Zahl seiner festen Mitarbeiter kürzlich reduziert. Ein Beispiel für einen Text, den „Welt Online“ im Rahmen dieses „Austausches“ von stern.de übernommen hat, hat mir Thomsen bislang nicht genannt.

Übrigens ist auch im Online-Ableger der „Süddeutschen Zeitung“ ein Absatz über Eva Herman verschwunden. Ursprünglich stand dort in einem Artikel über das bizarre Comeback Hermans als Internet-Nachrichtensprecherin für Verschwörungstheoretiker auf den Seiten des Kopp-Verlages:

Zum anderen, viel schlimmer, werden bei Kopp auch die Bücher von rechtsextrem-esoterischen Verschwörern wie Jan Udo Holey verlegt. Holey gilt dem Verfassungsschutz als Rechtsextremist, er wurde wegen Volksverhetzung vor Gericht gestellt. Bei diesen Autoren hat Herman ihren Platz gefunden…

In Wahrheit bewirbt Kopp die Bücher Holeys zwar und hat sie in sein Vertriebssortiment aufgenommen — sie erscheinen aber nicht bei Kopp, sondern in Holeys eigenem Verlag. In der gedruckten Ausgabe musste die „Süddeutsche Zeitung“ eine Korrektur drucken. Auf sueddeutsche.de wurden einfach, ohne jeden Hinweis auf die falsche Berichterstattung, die entsprechenden Sätze entfernt.

Kommt halt alles nicht so drauf an. Außer, was eine unbeliebte Sportmoderatorin unbedacht im Fernsehen sagt, natürlich.

Nachtrag, 20.25 Uhr. Der Ursprungsartikel von „Welt Online“, „Müller-Hohenstein spricht von ‚Reichsparteitag'“, scheint jetzt ganz gelöscht worden zu sein.

Ein innerer Reichsparteitag

Das ist jetzt nicht wahr, oder? Dass es eine mittelgroße Empörungswelle gibt, weil ZDF-Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein in der Halbzeitpause eines Fußballspiels, das offenbar gerade stattgefunden hat, gesagt hat, für Miroslav Klose müsse sein Treffer doch „ein innerer Reichsparteitag“ sein?

Für mich ist das eine alltägliche Redewendung, um einen besonderen Triumph zu beschreiben, ein Gefühl von Schadenfreude oder die Genugtuung, es allen gezeigt zu haben. Von mir aus können wir gerne darüber diskutieren, ob das eine besonders passende oder geschmackvolle Redewendung ist — aber doch nicht ernsthaft darüber, dass der öffentliche Gebrauch der Formulierung einen Nazi-Skandal darstellt?

Oh doch. Die immer um billige Aufmerksamkeit heischenden Klickstreckenproduzenten von „Welt Online“ begannen sofort zu hyperventilieren:

Der Artikel wurde offenbar hektisch auf- und umgeschrieben. Anfangs hieß es in sicher irgendwie bedeutungsvoller Ausführlichkeit:

Diese Redewendung bezieht sich auf die Reichsparteitage der NSDAP in den 1930er Jahren, die mit ihren Aufmärschen, Paraden, Appellen, Totengedenken und Wehrmachtsvorführungen in ihrem Repräsentationsgebaren den Charakter einer offiziellen Staatsfeier trugen. Sie dienten der Demonstration des absoluten Machtanspruches der NSDAP und der Ideologie des NS-Staates: Disziplin und Ordnung, die Unterwerfung des Individuums unter einen gemeinsamen Willen.

(Den wesentlichen Teil davon hat der diensthabende Content-Produzent sicherheitshalber von den Seiten des Deutschen Historischen Museums kopiert.)

Später verunglückte ein neuer Formulierungs- und Skandalisierungsversuch so:

Reichsparteitage beziehen sich auf die Veranstaltungen, bei denen Adolf Hitlers NSDAP besonders ab 1933 ihre verhängnisvolle, menschenverachtende Propaganda im großen Stil ausbreitete.

Offenbar ist der Gebrauch der Redewendung für die „Welt“ ein schlimmer Tabubruch, wobei… nö:

„Welch innerer Reichsparteitag muss es jenem englischen Journalisten gewesen sein, dem damals die Bezeichnung „Bum-Bum-Boris“ einfiel (…).“
(„Welt“, 15. Dezember 2000)

„Dort überall kreuzt nämlich die ganze Julian-Clique auf (…) – bis sie dann alle Mann hoch ihren inneren Reichsparteitag in Gorleben, als Gegner der Castor-Transporte natürlich, erleben. “
(„Welt“, 19. Februar 2005)

„Tja, der vergangene Sonntag war den ehemaligen SED-Politikern, die sich heute in der Linken versammeln, ein innerer Reichsparteitag.“
(„Welt“, 30. Januar 2008)

Schlimm scheint es vor allem zu sein, wenn Frauen eine solche Formulierung gebrauchen. Denn Frauen machen beim Fußball, wie „Welt Online“-Autor Jörg Winterfeldt weiß, immer Fehler:

Traditionell haben Frauen es im medialen Fußball-Umfeld schwer. Das haben gerade im ZDF immer wieder leidvoll Frontfrauen erfahren müssen von Carmen Thomas, die bis heute noch gelegentlich auf ihren Fauxpas „Schalke 05“ aus dem Juli 1973 reduziert wird, bis zu Christine Reinhart, die ab 1993 zwei Jahre lang im Sportstudio moderieren durfte.

Doch Müller-Hohenstein hatte sich vor der WM sehr aggressiv zu vermarkten versucht und nun gleich bei ihrem ersten großen Auftritt schwer gepatzt (…)

Die „sehr aggressive“ Vermarktung muss mir irgendwie entgangen sein, was bei meinem Desinteresse an Fußball natürlich nicht ausgeschlossen ist — aber ist es nicht interessant, dass vermeintliche „Patzer“, die Frauen machen, von Quatschmedien wie „Welt Online“ immer mit ihrem Geschlecht in Verbindung gebracht werden? Wo bleibt, wenn Johannes B. Kerner wieder einmal Unsinn verzapft hat, die Bildergalerie zum Thema „peinliche Fehltritte von Männern“?

Besonders niedlich ist der Nazifizierungsversuch von „Welt Online“ aber auch in seiner Ahnungslosigkeit über das Kommunikationsverhalten der Menschen bei „Twitter“:

Der Fehltritt geriet so folgenschwer, dass viele Fans sich in der zweiten Halbzeit schon vor den Computer setzten, statt sich ganz der zweiten Halbzeit von Deutschlands erstem WM-Auftritt in Südafrika zu widmen.

Man sieht sie förmlich, die Massen, die sich vor dem geistigen Auge des Autors mit den Armen in den Hüften vom Platz vor dem Fernseher erhoben oder empört von der Public-Viewing-Party nach Hause stapften, um dort erst einmal vor lauter Ärger den Computer hochzufahren — als hätten die Leute, von denen da „gewettert, getwittert und in sozialen Netzwerken online diskutiert“ wurde, nicht ohnehin vor dem Computer gesessen.

Und dann holt „Welt Online“ auch noch Eva Herman aus der Kiste:

Besonders erstaunlich scheint Müller-Hohensteins Entgleisung vor dem Hintergrund, dass erst unlängst eine Moderatorinnenkollegin mit Vergleichen zu Hitlers Herrschaft für einen Skandal und in der Folge ihre Entlassung gesorgt hatte: Die frühere Nachrichtensprecherin Eva Herman hatte den Umgang der Nationalsozialisten mit Werten wie Kinder, Mütter, Familien und Zusammenhalt, „als das, was gut war“ charakterisiert.

Sehen wir einmal von den falschen Anführungszeichen und dem angestrengten Versuch ab, eine nicht vorhandene Parallele zu konstruieren und dem Wörtchen „unlängst“ auch noch eine mehrjährige Zeitspanne aufzubürden — dass Eva Herman mit ihrem inzwischen berüchtigten Worthaufen den „Umgang der Nationalsozialisten“ mit diesen Werten als positiv einstufte, ist mindestens umstritten, und das Oberlandesgericht Köln hat dem Axel-Springer-Verlag untersagt, Herman so zu zitieren, als habe sie den Nationalsozialismus in Teilen gutgeheißen.

Und die ganze Aufregung, das ganze schlimme „Welt Online“-Gemurkse, weil Katrin Müller-Hohenstein von einem „inneren Reichsparteitag“ gesprochen hat? Weiß jemand, ob die in Südafrika Autobahnen haben?

PS: Leider haben sich auch die Freunde von „11 Freunde“ in für mich unfassbare Rage geschrieben („Katrin Müller-Hohenstein bettelt um ihre Entlassung“), aber mein Empörungsempörungspotential ist nun erschöpft.