Schlagwort: Lena Meyer-Landrut

Das Vorabendgrauen zum Eurovision Song Contest

Wie schwer kann es sein, eine kleine Show zu produzieren, die in der Woche des Eurovision Song Contest über das Spektakel berichtet?

Seit einer Woche wird hier in Düsseldorf geprobt. Delegationen aus 43 Ländern sind vor Ort, schrille Kandidaten und ernsthafte Künstler, es findet ununterbrochen irgendein Termin statt, um die Journalistenmeute mit Stoff zu versorgen, es ließe sich, wie in der Vorberichterstattung zu einer Fußball-WM, über Favoriten, Strategien, Technik und historische Parallelen diskutieren, man könnte die vielen unterschiedlichen Menschen miteinander musizieren lassen.

Selbst für einen Sender mit der Unterhaltungsinkompetenz der ARD müsste es möglich sein, aus diesem Grand-Prix-Zirkus eine sehenswerte oder wenigstens ansehbare oder immerhin doch nicht völlig peinliche Vorabendshow zu kondensieren. Es ist ihm nicht gelungen.

Alles, einfach alles an der Premiere der „Show für Deutschland“ war grauenvoll: Der Sendungstitel. Der Moderator. Das muffige Design. Das überflüssige Quiz-„Duell“. Der Moderator. Die Idee, Jan Feddersen als Experten in eine Ecke des Studios zu setzen, in die der Moderator nur mit Halsverrenkungen sehen kann. Der Moderator. Der Verzicht darauf, mit Katja Ebstein, wenn sie schon mal da ist, auch ein Gespräch zu führen. Hab ich schon „Der Moderator“ gesagt?

Wer kommt auf die Idee, eine solche Sendung von Frank Elstner moderieren zu lassen, einem Mann, der an besseren Tagen vielleicht weniger verwirrt durch eine Sendung stolpert, dem aber ohnehin jeder Bezug zu dieser Veranstaltung fehlt? Die Fassungslosigkeit von Lena Meyer-Landrut über die Ahnungslosigkeit und Ungeschicklichkeit des Mannes war unübersehbar und nachvollziehbar. Es entwickelten sich Dialoge wie der folgende:

Frank Elstner: Sie sind der einsamste Mensch da unten auf der Bühne.

Lena Meyer-Landrut: Nein, ich habe fünf Mädchen bei mir.

Elstner: Aber doch nicht auf der Bühne. Hinter Ihnen, die mit Ihnen tanzen!

Meyer-Landrut: Auf der gleichen Bühne, auf der ich auchsstehe, sind auch die fünf Mädchen.

Elstner: Ja, aber wenn Sie singen und Ihnen der Text nicht einfallen lassen würde, dann, kein Mensch kann Ihnen helfen. Dann sind Sie in dem Moment einsam.

Meyer-Landrut: Das ist richtig. Da werde ich dann in Fantasiesprache improvisieren.

(…)

Elstner: Der Herr Raab, der sich ja um Sie kümmert, Sie entdeckt hat, Ihr Pate ist, der für Sie viel produziert hat…

Meyer-Landrut: (lacht) Mein Pate! Der überweist mir jeden Monat zwei Mark fünfzig.

Elstner: Der Stefan, der wird doch irgendwo Kontakt zu Ihnen halten während Ihres Auftritts, oder? Gibt es Geheimzeichen?

Meyer-Landrut: Nein. Nein, tatsächlich nicht. Ich weiß auch überhaupt gar nicht, wo der ist, während meines Auftritts. Keine Ahnung, der wird vermutlich hier vorne irgendwo stehen und moderieren.

(…)

Elstner: Und jetzt wollen wir mal was ganz anderes zeigen. Das hier war ja früher mal ein Fußballstadion.

Meyer-Landrut: Isses auch immer noch.

Elstner: Wie hat man aus einem Fußballstadion so eine Showbühne gezaubert? Dahinter stecken natürlich sehr viele Handwerker, sehr viele fleißige Menschen, Hundertschaften, die hier wochenlang gearbeitet haben. Wollen Sie die Handwerker mal ganz herzlich grüßen und Danke sagen?

Meyer-Landrut: Danke, Handwerker.

Elstner war das größte Problem der Sendung, aber nicht das einzige. Er behauptete munter, es seien auch Länder aus Nordafrika dabei. In einem Einspielfilm wurde die Größe der LED-Wand auf 60 mal 80 Meter vervierfacht. Reporter Thorsten Schorn dokumentierte, wie die schrillen irischen Teilnehmer Jedward nichts anderes taten, als Lena Blumen zu überreichen. Seine Kollegin Sabine Heinrich musste in einem Filmbericht den Tagesablauf von Lena nacherzählen – über weite Strecken ohne Lena. Im Tonfall eines Unterrichtsfilms dokumentierte der Sprecher:

„Lena steigt mit Team und Presse direkt in den Bus. Der Zeitplan ist eng, wie an jedem Song-Contest-Tag.“

Danach konfrontierte Frank Elstner Lena noch mit einer Statistik, die zeigte, welche Farben die Kleider der Sieger in der Geschichte des Eurovision Song Contest hatten, und suggerierte, dass ihr Schwarz dann ja kein gutes Omen sei. (Dass sowohl Lena als auch Nicole ein schwarzes Kleid bei ihren Siegen trugen, war offenbar niemandem in der Vorbereitung aufgefallen.)

Es ist ein Programm voller Verzweiflung und zum Verzweifeln – in der zweiten Folge heute befragte man im Rausch der Ideen- und Sinnlosigkeit eine Kartenlegerin, wer den Wettbewerb gewinnen wird.

Schaut man in den Abspann, wer diesen Unfall zu verantworten hat, stößt man auf einen interessanten Namen: Die täglichen ARD-Vorabendsendungen zum Eurovision Song Contest werden von der Firma Brainpool produziert. Die produziert praktischerweise auch die täglichen ProSieben-Spätabendsendungen zum Eurovision Song Contest. Sie hat auch die (überaus uninspirierte) Aufzeichnung des Konzertes von Lena Meyer-Landrut produziert. Und sie ist der wichtigste Partner der ARD bei der Produktion des Eurovision Song Contest selbst. Ihr Chef Jörg Grabosch hat die entscheidende Funkton „Producer TV Show“ inne.

Die Beteiligten geben sich große Mühe, die Kooperation als unspektakulär darzustellen und betonen, dass Brainpool nur eine von mehr als hundert Firmen ist, mit denen der NDR zusammenarbeitet. Sie tun das aber so angestrengt, dass erst recht der Eindruck entsteht, dass es sich um ein Politikum handelt. Der ARD-Grand-Prix-Chef Thomas Schreiber sagte vor einigen Wochen, man arbeite mit Brainpool unter anderem deshalb zusammen, weil die Firma schon in der Düsseldorfer Arena produziert hat und es nicht viele Produktionsfirmen und Sender gebe, die mit solchen Dimensionen umgehen könne. Er räumte ein, dass es auch intern kritische Fragen gebe. Er hoffe aber, dass auch die Kritiker nach der gelungenen Show einsähen, dass es eine gute Kooperation war.

Nun ja. Tatsächlich macht das, was man in Düsseldorf von den Grand-Prix-Shows sehen kann, einen hervorragenden Eindruck. Drumherum gibt es aber einiges Grummeln bei ARD-Mitarbeitern, die sich als Mitarbeiter zweiter Klasse behandelt fühlen. Kameraleute vom NDR dürfen oder müssen vor Ort die Pressekonferenzen filmen und zusehen, wie dafür Brainpool-Leute beim Produzieren fürs Fernsehen das tun, was ihrer Meinung nach ihre Aufgabe wäre.

Für die „Show für Deutschland“ müssten sie sich jedenfalls beide schämen. Die ARD. Und Brainpool.

Hurra, es ist ein Duslog!

Bochum/Berlin, 18. Februar 2011. Lukas Heinser und Stefan Niggemeier haben heute in einer Pressemitteilung bekanntgegeben, dass sie sich auch vom Austragungsort Düsseldorf nicht davon abhalten lassen, den Eurovision Song Contest erneut mit einem Videoblog zu begleiten. Im vergangenen Jahr hatten sie sich ohne Stativ und Windschutz nach Norwegen durchgeschlagen und mit ihrem OSLOG nach Meinung vieler Experten einen maßgeblichen Beitrag zum Erfolg von Lena Meyer-Landrut geleistet.

Heinser und Niggemeier selbst errangen in einem etwas weniger beachteten Wettbewerb den dritten Platz: in der Kategorie Unterhaltung bei der Wahl zu den „Journalisten des Jahres 2010“. Die Jury des „Medium Magazins“ fand, dass OSLOG „selbstironisch mit dem Medienhype um Lena spielte“ und „vorführte, welches Potential in einem solchen Blog stecken kann“. Heinser, dessen Ehrgeiz von Kennern mit dem von Stefan Raab verglichen wird, kommentierte das mit den Worten: „Beim nächsten Mal werden wir dieses verdammte Potential ausschöpfen!'“

Während die Personalfrage nach der Absage von Thomas Gottschalk und Günther Jauch ähnlich schnell entschieden war wie bei der deutschen Interpretin, war der Name der OSLOG-Neuauflage lange offen. Entwürfe wie dueslog.tv, dussellog.tv, und dorflog.tv wurden schließlich verworfen zugunsten von DUSLOG.tv. Das bewährte Konzept aus vergeigten Anmoderationen, exklusiven Interviews und vergessenen Interpretennamen soll beibehalten werden. Geplant ist allerdings eine weitere Qualitätssteigerung. „Wir erwägen die Investition in einen Windschutz für das Mikrofon“, sagt Heinser. Niggemeier ergänzt: „Und ich werde diesmal weniger Namen verwechseln als letztes Jahr in Dänemark.“

Die heiße Phase mit täglichen Videoberichten beginnt Anfang Mai. Bereits heute werden die neuen Seiten eingeweiht, die von Markus „Herm“ Hermann frisch tapeziert und mit einem noch moderneren Fernsehgerät ausgestattet wurden: Das Finale des deutschen Vorentscheides wird ab ca. 20 Uhr in einem Liveblog begleitet.

Lena ist nicht die Ikone der Bürgerlichkeit

Das Nervige am Siegeszug der Lena Meyer-Landrut ist, dass er von diesen ganzen angestrengten und anstrengenden Versuchen der Medien begleitet wird, etwas Welt- oder mindestens die Nation Bewegendes in ihn hineinzuinterpretieren. Eine gute Antwort auf ein besonders beliebtes Erklärmuster — und einen der klügsten Texte zum Phänomen Lena — habe ich nicht in einer der großen Zeitungen gelesen, nicht im „Spiegel“ (der sich schon vor Wochen beim gewaltsamen Pressen von „Unser Star für Oslo“ in sein vorgegebenes Interpretationskorsett nicht von Fakten stören ließ) und schon gar nicht im „Stern“ (der vergangene Woche delirierte: „Aus Lenas schwarzen Siegerstrumpfhosen könnte der Präsident der Europäischen Zentralbank, Jean-Claude Trichet, einen Sparstrumpf nähen, dem jeder von Vilnius bis Lissabon sofort sein Gesamtvermögen anvertrauen würde.“) — sondern ausgerechnet in einem Internetforum, auf den Seiten eines Lena-Meyer-Landrut-Fanclubs.

Der Autor D. Lauer hat mir freundlicherweise erlaubt, den Text hier zu veröffentlichen, und ihn dafür leicht überarbeitet:

I.

Die Lenamania – der Aufstieg Lena Meyer-Landruts von der anonymen Abiturientin zum derzeit größten Popstar des Landes innerhalb von nur drei Monaten – verlangt nach Deutung. „Lenamania“ bezeichnet hier das Phänomen, dass LML bei einem Großteil der Bevölkerung offenbar reflexhaft den dringenden Wunsch auslöst, sie (je nach Alter) auf der Stelle als große Schwester, beste Freundin, Traumfrau oder Wunschtochter zu adoptieren. Auf der Suche nach einer Erklärung dieses Phänomens hat sich eine Erzählung etabliert, die LML als Projektionsfläche einer Sehnsucht des Publikums nach Normalität und Anstand im TV- und Musik-Business sieht: Lena als der „Popstar fürs Bürgertum“, wie der „Stern“ titelte. Diese Erzählung entstand mit einem „Spiegel“-Beitrag, in dem „Unser Star für Oslo“ als kultiviertes Musizieren für Abiturienten und Studenten vor einer seriösen Fachjury bespöttelt und zur Antithese der Trash-Konkurrenz von „Deutschland sucht den Superstar“ stilisiert wurde, wo gescheiterte Existenzen aller Art zu den vulgären Kommentaren eines Dieter Bohlen in Gladiatorenkämpfe gehetzt werden. Zum Sinnbild dieser Gegenüberstellung wurde der typisierte Vergleich zwischen den beiden jeweiligen Show-Favoriten: Hier der Freak Menowin Fröhlich, abschluss- und arbeitsloser, mehrfach vorbestrafter Ex-Sträfling, der drei Kinder mit der eigenen Cousine hat, schrill und bedrohlich – dort die Lichtgestalt Lena Meyer-Landrut, Abiturientin aus gutem Hause, Diplomaten-Enkelin, Taizé-Begeisterte, „Sophies Welt“-Leserin, wohlerzogen und eloquent.

Nach dieser Erzählung – nennen wir sie die Höhere-Tochter-Erzählung (HTE) – ist LMLs Erfolg darauf zurückzuführen, dass sich die silent majority des bürgerlichen Mittelstandes mit ihr identifiziert und sie in erster Linie als Inkarnation des eigenen Idealbildes einer höheren Tochter liebt, als Gegenfigur zum skurrilen Comic-Proletariat, das die Nachmittagstalkshows bevölkert.

Die HTE ist seit ihrer Entstehung in medialer Dauerschleife wiederholt worden und hat sich im Diskurs über LML mehr oder weniger als die offizielle Deutung ihres Erfolgs durchgesetzt, selbst dort, wo sie (wie jüngst von Matthias Matussek) in leicht herablassendem Ton ironisiert oder kritisch gegen LML und deren angebliche Bürgerlichkeit (lies: Bravheit und Harmlosigkeit) gewendet wird.

II.

Meiner Auffassung nach ist die HTE zur Erklärung des Phänomens LML vollkommen untauglich. Darum geht es mir hier. Zunächst ist LML nicht die Figur, als die sie in der Erzählung auftaucht. Das hätte man von Anfang an wissen können, hätte man auf die Details geachtet, die sich schlecht mit ihr vertrugen. Höhere Töchter – auch exzentrische – haben keine Tattoos und keine Zahnpiercings. Sie tanzen Ballett, nicht Hip-Hop. Sie geben nicht fröhlich zu, mittelmäßige Schülerinnen zu sein, zu rauchen und sich gelegentlich zu besaufen, auch fahren sie TV-Urgesteinen nicht rotzfrech über den Mund und sagen nicht ständig „scheiße“ und „kotzen“ im Fernsehen.

Bis hierher könnte man natürlich noch argumentieren, dies sei doch bloß das Quäntchen Bohème und Unangepasstheit, das einem aufgeklärten, sozusagen post-bourgeoisen Bild der höheren Tochter erst den richtigen Schliff verleiht. Das mag sogar stimmen, taugt jedoch nicht mehr zum Kitten des fundamentalen Bruchs zwischen der HTE und der Realität, der sichtbar wurde, als durch das unappetitliche Wühlen der Boulevardmedien noch andere Details bekannt wurden, darunter ein so überhaupt nicht distinguierter untergetauchter Vater, vor allem aber natürlich LMLs Auftritte als Laiendarstellerin in genau jenen dubiosen Nachmittags-TV-Formaten, in die sie sich, ginge es nach der HTE, niemals hätte verirren dürfen. Schon gar nicht ganz und gar nackt.

Träfe die HTE zu, hätte sich zu diesem Zeitpunkt ein Großteil ihrer Bewunderer enttäuscht von LML abwenden müssen. Mit genau diesem Ziel wurden die entsprechenden Medienberichte natürlich auch lanciert. Tatsächlich aber haben all die rechten Haken gegen das Höhere-Tochter-Image der Lenamania keinen messbaren Abbruch getan. Was das bürgerliche Mittelschichtspublikum bei seinen eigenen Töchtern zweifellos stören würde, stört es bei LML offenbar kaum. Also basiert seine Liebe zu LML wohl doch nicht vorrangig auf deren „bürgerlichen“ Attributen, wie die HTE behauptet.

III.

Dabei beruht die HTE auf einer richtigen Beobachtung: LML ist eine Gegenfigur zu all den hunderten Kandidatinnen und Kandidaten, die wir im letzten Jahrzehnt in Dutzenden von Casting Shows im Fernsehen haben vorbeiziehen sehen. Das Phänomen LML ist zweifellos darin begründet, dass sie in dem Rahmen, in dem sie zur öffentlichen Person wurde, so vollständig aus dem Rahmen fiel. Aber es ist schlecht beobachtet und verkürzt gedacht, ihre Andersartigkeit schlicht darin zu sehen, dass sie, im (angeblichen) Gegensatz zum Personal einer Show wie DSDS, der bürgerlichen Mittelschicht entstammt. Dieser Unterschied hat, wenn überhaupt, mit dem eigentlichen Phänomen nur indirekt etwas zu tun. LMLs Andersartigkeit liegt vielmehr in dem, was Entdecker und Mentor Stefan Raab schon vom ersten Moment an als ihre „Haltung“ bezeichnete.

Worin besteht diese Haltung? Sie besteht darin, die Gehirnwäsche zu durchbrechen, die das Format der Casting Shows seit über einem Jahrzehnt betreibt und mit der es nicht nur unsere Wahrnehmung von Popmusik infiziert hat. Nicht umsonst spricht man inzwischen von einer Generation Casting, welche die in diesem Genre üblichen Prinzipien und Regeln längst fürs Leben akzeptiert und verinnerlicht habe. Welche Prinzipien? Das lässt sich in jeder beliebigen Casting Show – ob nun DSDS, „Popstars“ oder „Germany’s Next Topmodel“ – mühelos beobachten.

Regel Nr. 1: Der Weg zum Erfolg besteht darin, sich der Jury vollständig zu unterwerfen. Die Jury ist Gott. Sie agiert nach dem Prinzip, dass der Wille des Kandidaten zunächst gebrochen werden muss, damit er sich den Anweisungen der Experten vollständig ausliefert und sich von ihnen formen lässt. Du sollst nicht so sein, wie Du selbst Dich haben willst, sondern wie andere Dich haben wollen. Es gibt daher keinen sichereren Weg, im Casting-Universum den sozialen Tod zu erleiden, als an der Jury Kritik zu üben, ihre Anweisungen zu hinterfragen oder auf eigenen Vorstellungen zu beharren. Beleidigung, Erniedrigung und aufgezwungene Demuts-Rituale sind die unvermeidliche Folge.

Regel Nr. 2: Der Weg zum Erfolg besteht aus Blut, Schweiß und Tränen und dem bedingungslosen Willen, ihm alles andere unterzuordnen. Dies ist die wichtigste Botschaft der Casting Show. Deshalb gibt es in ihren Beurteilungsritualen keine vernichtenderen Abmahnungen als „Du arbeitest nicht hart genug an dir“ und „Wir können nicht erkennen, dass du das hier wirklich willst“. Die Kandidatin kann diesen Verurteilungen nur entkommen, indem sie sich so lange schindet, bis sie auf offener Bühne kollabiert oder wenigstens einen Weinkrampf erleidet, und außerdem in den immergleichen Floskeln gegenüber der Jury beteuert, dass sie bereit ist „alles zu geben“ für den Erfolg in der Show, dass sie „nichts anderes will als kämpfen und weiterkommen“ und überhaupt diese Sendung ihre „einzige und letzte Chance“ sei, etwas aus sich zu machen. In den Schauprozessen von DSDS und GNTM gibt es deshalb kein den Kandidaten häufiger abgepresstes Bekenntnis als dieses. Es gehört zwingend dazu. Mit selbstbewussten Kandidaten, die einfach lachend gehen, wenn sie genug davon haben, sich anpöbeln zu lassen, weil sie nämlich noch etwas anderes mit ihrem Leben anzufangen wissen, funktioniert das Konzept der Sendung nicht.

IV.

LMLs „Haltung“ ist die radikale Antithese zu den beiden genannten fundamentalen Grundregeln der Casting Show. Sie besteht in der Weigerung, sich von den Unterwerfungs-, Leistungs- und Wettkampf-Imperativen dieses Formats bestimmen zu lassen. Berühmtheit hat LML unter anderem damit erlangt, dass sie schon bei ihrem ersten Auftritt gegen Regel Nr. 1 verstieß und darauf bestand, lieber auszuscheiden statt nicht den von ihr selbst präferierten Song zu singen. Insbesondere aber verstößt LML in praktisch jedem ihrer Interviews konsequent gegen Regel Nr. 2. Unbedingter Siegeswille, so sagte sie schon zu USFO-Zeiten und wiederholte es anlässlich des Eurovision Song Contests immer wieder, sei ihr fremd, darauf habe sie keinen Bock. Jedes Ergebnis sei ihr recht, solange sie mit sich im Reinen sein. Konkurrenzdenken und Kampf um die Plätze auf dem Podest seien „nicht so ihr Ding“, ebenso wenig wie hartes Training und tägliches Üben. Sie habe, gab sie kichernd zu, keine Technik, keine Strategie und nicht die Absicht, sich eine andrehen zu lassen. Sie entwickele die Dinge lieber spontan: So tanz‘ ich.

Überhaupt habe sie nie ein Star werden wollen, und die Erfüllung ihres „großen Traums“ sei ihr überwältigender Erfolg als Sängerin schon gar nicht. Vielleicht mache sie bald etwas völlig anderes. An Ideen mangele es ihr nicht. Wichtig sei nur, dass ihr das Ganze momentan Spaß mache, eine tolle Erfahrung sei und sie als Mensch voranbringe. Jeder einzelne dieser Sätze wäre das Ende des TV-Lebens eines normalen Casting-Produktes.

V.

Ich behaupte, dass es einen Namen für diese Haltung gibt. Sie ist nämlich bei Licht betrachtet keinesfalls revolutionär oder neu. In Wahrheit ist sie bloß die fast triviale Erinnerung an die Haltung, die man noch nicht vor allzu langer Zeit grundsätzlich mit der Popmusik verbunden hat – bevor der Casting-Show-Diskurs die Kontrolle übernahm, und zwar so erfolgreich, dass man mit der bloßen Erinnerung an dieses Prinzip des Pop (dieses Wort hier im weitest denkbaren Sinne verstanden) inzwischen wie ein Wesen von einem anderen Stern erscheint.

Denn das war doch das Versprechen, das mit dieser Musik einmal einherging: Jung sein. Lässig sein. Feiern und Spaß haben. Und die Chuzpe zu sagen: Ich brauche eure Lehren nicht, weder Gesangsstudium, noch Musikschule, noch Tanzdrill. Ihr habt mir nichts beizubringen. Eine Gitarre und drei Akkorde, das reicht – sofern man jung ist, und schön, und talentiert, und ohne Angst. Und jenes Charisma besitzt, das die Zuhörer schon beim ersten Chorus auf die Knie fallen und mitsingen lässt: We learned more from a three-minute record baby than we ever learned in school.

Pop war mal das Gegenteil dessen, was die Casting-Show-Idee verkauft, nämlich das Versprechen vom Triumph der Leichtigkeit und der Mühelosigkeit. Und der entscheidende Punkt ist, dass dieses Glücksversprechen des Pop zutiefst antibürgerlich ist. „Bürgerlich“ ist nämlich nicht nur das, was sich die Vertreter der HTE gerne darunter vorstellen (etwas, das vage mit Thomas Mann, dunklen Bücherregalen, Klavierunterricht und gepflegtem Abendessen im Familienkreis zu tun hat). Die real existierende Bürgerlichkeit der Mittelschicht ist in erster Linie der praktizierte Glaube an ein ganz anderes Versprechen, nämlich jenes der disziplinierten Selbstzucht in Kombination mit dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit. Jeder ist seines Glückes Schmied, und diejenigen werden den Lohn davontragen, die sich am meisten anstrengen, am fleißigsten schuften und am eisernsten sparen – und schon ihre dreijährigen Kinder in Chinesischkurse schleifen, der späteren Chancen am Arbeitsmarkt wegen.

Das Glücksversprechen des Pop hingegen ist die Verweigerung dieses protestantischen Arbeitsethos. Pop scheißt auf Selbstdisziplin und Leistungsgerechtigkeit. Darin ist er zutiefst romantisch. Er belohnt nicht die Arbeitsbienen und die Klassensprecher, er verachtet die Philister. Er verschenkt sein Herz lieber an die arbeitsscheuen Spinner, genialen Dilettanten und verspielten Prinzessinnen. Pop kennt und will keine andere Rechtfertigung als die, dass eine wie LML schlicht ein Liebling der Götter ist, Punkt. „Du hast Star-Appeal. Menschen werden dich lieben.“ Das ist alles.

Weil man solche Gabe nicht erwerben, sondern nur geschenkt bekommen kann, können die, welche sie empfangen haben, es sich leisten, mit ihr nicht nach Art der guten Wirtschafterin sparsam zu haushalten, sondern sie in geradezu aristokratischer Verschwendung weiterzuverschenken. Und das zu ihrem bloßen Vergnügen, ohne dabei nach Tauschwerten, Regeln und Verdienst zu fragen, die eigenen Fähigkeiten nicht penibel dokumentierend, sondern mit ihnen ironisch herumspielend, scheinbar nichts ernst nehmend – während die Braven, die sich das alles eisern angeeignet haben und handwerklich viel besser sind, fassungslos über die Ungerechtigkeit der Welt daneben stehen. Bei manchen, das lässt sich im Fall LML im Netz gut beobachten, kippt diese Verständnislosigkeit in ungezügeltes Ressentiment und Hass auf das Glückskind, oder in wüste Verschwörungstheorien.

VI.

Darum komme ich zu der Schlussfolgerung: LML ist nicht die Ikone der Bürgerlichkeit. Sie ist die (sehn-)süchtig machende Erinnerung an das Glücksversprechen des Pop, verkörpert in dem Gesicht einer Caravaggio-Madonna mit ironischem Grinsen und frechem Mundwerk. Die Sehnsucht, die LML weckt, ist nicht die Sehnsucht nach Bürgerlichkeit, sondern das Versprechen, dass – wenigstens stellvertretend in ihrer Person – die Befreiung vom Korsett der Bürgerlichkeit möglich ist. Deshalb träumen so viele laut oder leise davon, so zu sein wie sie – und schon allein diesen Traum träumen zu können, indem man sie beobachtet, führt ein Stück des Glücks mit sich. Wenn das Mittelschichts-Bürgertum LML liebt, dann nicht deswegen, weil sie genauso ist, wie es selbst, sondern weil es sich heimlich danach sehnt, ganz anders zu sein, als es ist.

Allerdings kommt es noch schlimmer für die Anhänger der HTE, denn die ganze Überlegung zeigt noch ein Zweites: Wenn es überhaupt eine Verkörperung des Bürgerlichen im deutschen Fernsehen gibt, dann sind das ironischerweise eben die just von jenem Bürgertum so verachteten, proletigen Casting Shows. Als Dieter Bohlen verkündete, der von ihm nicht favorisierte Mehrzad Marashi habe DSDS dank „deutscher Tugenden“ (er meinte Fleiß und Disziplin) gewonnen, hätte er damit um ein Haar einmal etwas Wahres gesagt. Sicher, begriffen hat er es wahrscheinlich nicht. Das deutsche Feuilleton aber auch nicht.

[Mit Dank an Max D., der mich auf den Text aufmerksam gemacht hat.]

Showhasen unter sich

Das Beunruhigende an unserem exklusiven Interview mit Lena Meyer-Landrut finde ich ja, dass diese schreckliche braune Konferenzzimmeratmosphäre und dieses lächerliche Mikrofon und meine amateurhafte Kameraführung dazu führen, dass die Szenen ästhetisch wirken, als stammten sie aus einer schwer öffentlich-rechtlichen Siebziger-Jahre-Dokumentation über das Leben in einer WG oder so.

Außerdem in der aktuellen Ausgabe von Oslog.tv: Knallharte investigative Fragen von mir an den diesjährigen deutschen Jury-Präsidenten und Punkte-Verleser Hans-Peter Wilhelm Kerkeling.

Lena und die Nööööööte von RTL

Von Lena Meyer-Landrut weiß man, dass sie keine privaten Fragen beantwortet. RTL aber ist ein Privatsender. Bei der ersten Pressekonferenz der deutschen Delegation in Oslo kam es zu einer Art Showdown.

RTL-Reporterin: Wer aus Ihrer Familie ist dabei, wer unterstützt Sie? Und wie wichtig ist es tatsächlich, auch jemanden aus der Family dann hier zu haben?
Lena: Nööööööt.
Stefan Raab: Man muss auch nicht jede Scheiße beantworten, Lena.
Lena: Nein, nein. Das beantworte ich nicht.
RTL-Reporterin: Familie zur Unterstützung dabei zu haben, findet Ihr scheiße?
Lena: Nein, die Frage. Also die Familienfrage an sich.
RTL-Reporterin: Okay. Also Familie ist immer Tabu?
Lena: M-h!
Stefan Raab: Joa, muss Frauke Ludowig halt mal ohne so’n Käse auskommen. Müsst ihr euch was anderes aus der Nase ziehen. Irgendwie Häuser-Versteigerungssendungen oder sowas.

Die Szene und vieles mehr — in der dritten Folge von Oslog.tv: „Sha-La-Lena“

Google wusste schon im Januar: Lena siegt

Das ist schon toll, dieses Google. Traut sich aufgrund der Suchanfragen und Werweißwasfürwelcherdaten sogar eine tägliche Prognose zu, wer die meisten Stimmen vom Publikum beim Eurovision Song Contest gewinnen wird: unsere Lena!

Ungefähr alle deutschen Medien sind voll davon. Denn wenn es einer wissen muss, dann ja wohl Google. Toll an dem Eurovisions-Prognose-Tool ist, dass man die Grafik mit der Maus nach rechts schieben und auf diese Weise verfolgen kann, wie sich die Popularität der verschiedenen Kandidaten im Lauf der Zeit verändert hat. Anscheinend lag Lena schon vor einem Monat vorne:

Und schon am Tag, als sie den deutschen Vorentscheid zum Grand Prix gewonnen hatte:

Und bereits Anfang Februar, als die erste Sendung von „Unser Star für Oslo“ lief.

Ja, selbst Anfang Januar, als die deutschen Fernsehzuschauer Lena Meyer-Landrut bestenfalls aus zweifelhaften Serien von RTL kannten, konnte Google aus den damaligen Suchanfragen schon lesen, dass sie beste Chancen auf den Sieg beim Eurovision Song Contest hatte:

Erstaunlich.

Und woher wusste das Google damals schon? Klar: Weil deren Street-View-Wagen in Hannover versehentlich die Zukunft mit aufgenommen hatte.

(Entdeckt von „Oslog“-Leser Heiko — drüben, auf oslog.tv, habe ich auch noch was über den ganzen Wettfavoriten-Wahn geschrieben.)

Oslo – wir kommen!

Ich habe in meinem Leben schon ganz schön viel über den Eurovision Song Contest geschrieben ((„Unser Mann in Birmingham“, SZ, 28.02.1998)) ((„Gaga? Nur äußerlich!“, SZ, 18.2.2000)) ((„Die Welt versteht uns“, SZ, 21.2.2000)) ((„Der Mann, der nur Spaß vesteht“, SZ, 11.05.2000)) ((„Aufstand alter Männer“, SZ, 15.05.2000)) ((„Deutsche Leitmusik“, SZ, 10.01.2001)) ((„König der Zwerge“, SZ, 21.02.2001)) ((„Waterloo“, SZ, 05.03.2001)) ((„Lustig, lustig, tralalalalaaa“, SZ, 10.05.2001)) ((„Aber hallø!“, SZ, 12.05.2001)) ((„Europa wählt amerikanischen Funk“, SZ, 14.05.2001)) ((„Ein bisschen Soufflé“, FAS, 24.02.2002)) ((„Wie ‚Bild‘ Corinna May vor Männern schützt“, FAS, 19.05.2002)) ((„Bernd Meinunger: Höchstens ein bißchen Frieden“, FAZ, 23.05.2002)) ((„Ralph Siegel: He can’t live without music“, FAZ, 25.05.2002)) ((„Time to say goodbye“, FAZ, 27.05.2002)) ((„Sterne, die nicht gleich verglühen“, FAS, 31.01.2010)) ((u.v.a.m.)). Aber eines habe ich noch nie gemacht: ein Videoblog.

Bis jetzt. Zusammen mit Lukas berichte ich aus Oslo über die diesjährige Ausgabe der wahrscheinlich größten unwichtigen Veranstaltung der Welt. Markus „Herm“ Herrmann hat uns ein bezauberndes Heim eingerichtet für unser… Oslog!

Wir wollen versuchen, uns dem Ereignis in angemessener Form zu nähern: gut gelaunt und unverkrampft, neugierig, mit ein bisschen Distanz, aber Lust am Quatsch: dem der Veranstaltung und unserem eigenem. Die Pilotfolge, „Auf dem Lena-Meyer-Landweg zum Grand Prix“, soll davon schon einen Vorgeschmack geben.

(Bitte beachten Sie unbedingt, wie wir bei 2:31 mit fast beunruhigender Synchronizität „Nicole“ sagen.)

Alles weitere ab sofort unter oslog.tv.

„Unser Star für Oslo“: Der merkwürdig unbefriedigende Sieg der Lena Meyer-Landrut

Was für ein merkwürdiger Abend. Und am Ende hätte ich nicht mehr für die Frau abgestimmt, die mich – und offenbar so viele andere – von der ersten Sekunde an mit ihrem eigenwilligen Charme begeistert hatte.

Lena Meyer-Landrut vertritt Deutschland beim „Eurovision Song Contest“ Ende Mai in Oslo. Aber sie singt dort einen Titel, der ganz offenkundig nicht ihr Lieblingstitel war. Und der von allen, die sie im Laufe dieser Wochen des Vorentscheids gesungen hat – die ganzen Cover-Versionen eingeschlossen, die sie zu ihren Liedern gemacht hat -, am wenigsten lenaesk war.

Der Verlauf der Show wurde von einem merkwürdigen Auswahlmodus geprägt: Die beiden Finalistinnen sangen jeweils drei Titel, zwei gleiche und einen individuellen, und zunächst bestimmte das Publikum per Telefonabstimmung den jeweiligen Song zur Kandidatin.

Und der Abend begann mit einer großen Enttäuschung. Die ersten Lieder, die die beiden präsentierten, waren so unscheinbar und beliebig, dass der ganze Aufwand der wochenlangen Vorauswahl rückblickend wie Zeitverschwendung schien. „Satellite“ in der Version von Jennifer Braun schaffte sogar das Kunststück, gleichzeitig belanglos und nervig zu sein.

Aber dann kamen die jeweils dritten Titel, die eigens für jeweils eine der beiden Sängerinnen komponiert worden waren, und plötzlich schien es, als wären die anderen Stücke nur Zählkandidaten gewesen: Jennifer Braun zeigte mit „I Care For You“, einer Mischung aus den New Radicals und „September“ von Earth Wind & Fire, wie viel Kraft ihre Stimme hat. Und Lena Meyer-Landrut lachte und tanzte sich begeistert durch eine verspielte und unglaublich gut gelaunte Popnummer, die ihr Stefan Raab als Komponist selbst maßgeschneidert hatte. (Der Text ist von Lena Meyer-Landrut selbst.)

Und dann geschah das Erstaunliche: Das Publikum wählte für Lena knapp einen anderen Song, nämlich ihre (schnellere) Version des merkwürdigen „Satellite“. Man schien ihr ihre Enttäuschung ansehen zu können, als dieses Votum feststand, bevor sie sich fasste und auf professionell umschaltete – während Jennifer sich hemmungslos freute, dass in ihrem Fall ihr Lieblingstitel gewonnen hatte.

Nun schien alles offen. Jennifer, gerne als uncharismatische Straßenfestsängerin verspottet, legte in ihren letzten Auftritt noch einmal ihre unbändige Energie und ihr beeindruckendes sängerisches Können – damit hatte sie schon im Halbfinale überraschend die eigentlich favorisierten Kerstin Freking und Christian Durstewitz verdient abgehängt. Und Lena sah plötzlich vergleichsweise schlecht aus, müde und angestrengt, und es war schwer, sich noch an die unfassbare Unbeschwertheit ihrer früheren Präsentationen zu erinnern, mit der sie so viele Menschen für sich erobert hatte.

Vor der Sendung schien die Rollenverteilung klar: Jennifer ist gut. Aber Lena ist etwas Besonderes. Doch diese Nummer, die das Publikum gewählt hatte, nahm Lena das Besondere. Im Internet kamen gleich Verschwörungstheorien auf: Ob Jennifer-Fans wohl extra den schwächeren Lena-Titel gewählt hätten, um Jennifers Chancen in der letzten Abstimmung zu erhöhen. Dagegen spricht, dass sich auch das Saalpublikum hörbar für „Satellite“ begeisterte. Ehrlich gesagt: Ich kann mir das nicht erklären.

Das Experiment „Unser Star für Oslo“ war ein Erfolg. Für die ARD, für ProSieben, für Raab, für die jungen Kandidaten, die mit ihren Talenten glänzen durften, für das Publikum, das darüber staunen durfte, wo diese ganzen jungen Leute plötzlich herkommen, die sich einfach auf so eine Bühne stellen und – teilweise mit ihren eigenen Liedern – wie selbstverständlich den Saal rockten, und für das Fernsehen an sich. Weil nebenbei der Beweis erbracht wurde, dass eine Casting-Show, die nicht auf die niedersten Instinkte der Zuschauer setzt, zwar auf Quotenrekorde verzichten muss, aber nicht auf ein treues Publikum.

Aber falls die Zusammenarbeit im nächsten Jahr eine Fortsetzung findet, werden sich die Verantwortlichen etwas ausdenken müssen, wie sie der öffentlichen Suche nach den besten Kandidaten eine angemessene Suche nach dem besten Titel entgegensetzt. Wenn es möglich ist, eine junge Frau zu finden, die innerhalb von Sekunden die Zuschauer bezaubert, muss es doch auch möglich sein, einen Song zu finden, dem das gelingt!

Bei mir jedenfalls blieb ein womöglich kindisches und ungerechtes Gefühl der Enttäuschung zurück, dass die außergewöhnliche Lena sich nun mit einem so durchschnittlichen Song nach Oslo schleppen muss. Kurz vor Schluss hatte ich dann doch auf Jennifer gehofft, deren Song vielleicht konventionell, aber unmittelbar eingängig war und ihr wie angegossen passte.

(Aber allen, die jetzt schon zu wissen glauben, dass „wir“ mit dieser Nummer eh nichts gewinnen werden in Oslo, sei gesagt, dass, erstens, die Konkurrenz in diesem Jahr ganz außerordentlich gruselig ist und, zweitens, der Reiz dieses Spektakels gerade darin besteht, dass solche Prognosen erwiesenermaßen fast unmöglich sind.)

Und am Ende, als Lena fast verzweifelt war, weil sie den Titel noch einmal singen musste und es sie zwischendurch kaum noch auf den Beinen hielt und sie schrie und ihren ganzen verwirrten Gefühlen schreiend und fluchend freien Lauf ließ, auf diese bezaubernde Lena-Art, da war ich dann doch wieder fast versöhnt mit diesem merkwürdigen Abend.