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Lindenstraße

Das Beste an der „Lindenstraße“ ist, dass sie sich auch Leute mit langsamsten Internetverbindungen problemlos online ansehen können. Die Inszenierung ist so statisch, dass man zeitweise genau hingucken muss, um zu erkennen, dass es sich wirklich um einen Film handelt, und nicht um eine vertonte Diashow. Und die Charaktereigenschaften der Figuren sind ohnehin so grob und starr gezeichnet, dass sie sich noch in der kleinsten Auflösung gut erkennen lassen.

Heute heiraten jedenfalls Tanja und Suzanne. Das ist nicht mehr so ein politisches Spektakel wie die Hochzeit von Carsten und Theo 1997, als Hella von Sinnen vorbeikam, aber persönlich für die beiden doch ein großer Schritt, für Tanja vor allem. Tanja? Sie wissen schon: Die, deren Mutter Selbstmord begangen hat, deren Schwester an Leukämie gestorben ist und deren Vater betrunken auf der Straße erfor. Die, die erst das Geschäft mit Sex, dann die Esoterik entdeckt hat, sich erst in den 200 Jahre älteren Doktor Dressler, dann in die drogenabhängige Sonia verliebt hat (die dann quasi von Dressler umgebracht wird). Die, die sich scheiden ließ, in ihrer Wohnung über Monate von Webcams gefilmt und im Internet ausgestellt wurde, sich in die damals noch heterosexuelle Suzanne verliebte, mit ihr im Ausland eine Spermaspende bestellt, durch künstliche Befruchtung ein Kind bekommen und die Wohnung durch einen Hausbrand durch einen Adventskranz verloren hat … genau: die Tanja.

Das ist, andererseits, schwer irreführend, den Lebenslauf einer solchen typischen „Lindenstraßen“-Figur zu wenigen Zeilen zu raffen, denn in Wahrheit hat sich über all die Jahre natürlich exakt nichts verändert. Was nicht nur am Personal liegt (Sybille Waury spielt die Tanja seit 1168 Folgen und über 22 Jahren). Es ist vor allem immer noch die gleiche linke Spießigkeit, die durch alle Poren dieser Serie sickert, das gut gemeinte Aufklärungsfernsehen von Hans W. Geißendörfer, in dem ununterbrochen wichtige Themen behandelt werden, jeder Handlungsstrang eine Botschaft hat und der erhobene Zeigefinger schon fest in alle Bühnenbilder eingebaut ist. Die „Lindenstraße“ ist in einem fast beunruhigenden Maße betulich und berechenbar, bieder und banal – eigentlich alles, was mit „B“ anfängt, sogar: beliebt. Die Quoten sinken zwar kontinuierlich, und Geißendörfers vor ewigen Zeiten gegebenes Versprechen, aufzuhören, wenn es deutlich weniger als sechs Millionen Zuschauer sind, ist graue Geschichte. Aber ausgerechnet bei den jungen Leuten, die sonst alles verschmähen, was ARD und ZDF für sie produzieren, selbst die richtig schönen Sachen, holt die „Lindenstraße“ immer noch sehr ordentliche Quoten.

Vielleicht versetzt sie sie in einen tiefen, erholsamen, von bizarren Träumen erfüllten und süchtig machenden Halbstundenschlaf. Anders kann ich es mir nicht erklären.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung