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„Der Verlierer steht für immer im Schatten“: Das Weltbild von DSDS

Elf Minuten sind im Fernsehen eine lange Zeit. Elf Minuten sind eine halbe Sitcom-Episode. Oder, geschätzt, alle politischen Beiträge aus einer ganzen Woche „RTL aktuell“ zusammen genommen. Oder auch nur: ein einziger Monolog von Moderator Marco Schreyl in der Entscheidungsendung von „Deutschland sucht den Superstar“ (DSDS).

Um 0.04 Uhr am Sonntagmorgen bekam Schreyl den Umschlag, in dem das Ergebnis der Abstimmung über die beiden diesjährigen Finalisten stand. Um 0.15 Uhr verriet er den Sieger. Die Zeit dazwischen füllte der Sender, während die beiden Kandidaten mit hängenden Köpfen auf der Bühne standen und von der Kamera umkreist wurden, mit sphärischer Musik und einer Rede, die offenbar den Sinn hatte, den Zweitplatzierten in den Selbstmord zu treiben. Als realistische Alternative würde sich eigentlich nur ein Amoklauf noch im Studio anbieten.

Die künstliche Vergrößerung der Fallhöhe gehört von Anfang an zum Konzept von DSDS und steckt schon im Namen: Einen „Superstar“ hat „Deutschland“ in sieben Jahren noch nicht gefunden; am nächsten dran ist vermutlich Mark Medlock, der gerade zum Nachfolger von Jürgen Drews aufgebaut wird. Aber in ihrem Versuch, der natürlichen Abstumpfung des Publikums und Abnutzung der Superlative entgegenzuwirken, und die Schraube immer noch weiter anzuziehen, stoßen die Autoren der Sendung inzwischen an Grenzen. Oder genauer: Sie überschreiten sie.

Der elfminütige Monolog, den Marco Schreyl am Samstag vorlas, ist ein Beleg dafür, wie sehr bei RTL längst die Sicherungen durchgebrannt sind. Was jemand da Marco Schreyl auf die Moderationskarten geschrieben hat, ist nicht nur erschütternd in seiner Zeitschinderei, es ist nicht nur bekannt, falsch, dumm oder albern (all das ist es auch). Es feiert seinen eigenen Sadismus, einen brutalen Ausleseprozess, einen menschenverachtenden Sozialdarwinismus, auf eine Art, die man kaum anders als faschistoid nennen kann. Und die besonders zynisch wirkt, wenn man berücksichtigt, wie sehr diese Sendung und ihre Philosophie von jungen Zuschauern und feuilletonistischen Verteidigern als lehr- und hilfreiches Anschauungsmaterial dafür gesehen wird, wie unsere Gesellschaft funktioniert und was man tun muss, um in ihr etwas zu werden.

Wir dokumentieren den Abschlussmonolog von „Deutschland sucht den Superstar“ 2010 ungekürzt:

Und das also ist es: Das Ergebnis von Ihnen. Das Ergebnis der Zuschauer.

Deutschland hat entschieden. Das Ergebnis im Finale von Deutschland sucht den Superstar 2010. Was für ein dramatischer, einzigartiger Abend. Mehrzad Marashi und Menowin Fröhlich. Gleich ist eure Schlacht geschlagen.

Und ihr habt sie mit absolutem Einsatz ausgefochten, und zwar beide.

Und: Ihr habt uns ein traumhaftes Finale geschenkt. Ihr seid beide ziemlich harte Jungs und ihr kämpft hart. Und das ist gut so. Alles andere wäre eine Schande.

Dieses Duell heute ist persönlich. Jeder von euch ist für den anderen der Gegner, den ihr am meisten fürchtet. Ihr steht auf dieser Bühne so nah beieinander und seid euch doch so fern.

Kaum zu glauben, aber es ist noch gar nicht so lange her, da wart ihr Freunde. Beim Recall in der Karibik. Sogar noch in der ersten Motto-Show. Aber aus Freunden sind Feinde geworden. Mit dem absoluten Willen, den anderen zu besiegen.

Wer weiß, wenn ihr keine Kandidaten bei DSDS wärt, aus euch hätten richtig gute Kumpels werden können. Stattdessen wurdet ihr knallharte Rivalen. Und das musste so sein, wenn zwei große Talente wir ihr aufeinander treffen, zwei so starke Persönlichkeiten, und vor allem: Wenn es so unglaublich viel zu gewinnen gibt.

(Pause.)

Zwei grandiose Sänger, die mit jeder Faser ihres Körpers kämpfen, die diesen Titel dringender wollen als alles andere auf dieser Welt. Für Ausnahmetalente wie euch wurde DSDS erfunden. Ihr seid beide echte Performer, also genau das, was wir hier gesucht haben. Ihr singt und tanzt und geht aus euch heraus. An euch werden sich die künftigen Kandidaten messen müssen. Ihr zwei habt die Latte verdammt hoch gelegt.

(Pause.)

Dieser Abend wird für einen von euch ein völliger Neuanfang im Leben sein. Für den Sieger dieses Wettkampfs tut sich eine neue Welt aus. Er wird das, wovon Millionen träumen. Er – wird ein Star. Bei DSDS gibt es nicht einfach einen netten Hauptgewinn. Hier gibt es ein komplett neues Leben. Ein Leben XXL. Ein Leben in der Kategorie fünf Sterne plus.

(Pause.)

Für einen von euch wird dieses Märchen jetzt wahr. Ihr lebt beide bislang in eher bescheidenen Verhältnissen. Jetzt aber wird sich das ändern. Einer von euch wird jetzt der neue Superstar. Bekommt einen Plattenvertrag. Wird berühmt. Verdient locker Hunderttausende Euro. Kann seiner Familie ein sorgenfreies Leben bieten und als Vater seinen Kindern eine gute Zukunft ermöglichen.

Wenn sich der Sieger dieses Kampfes nicht dumm anstellt, wird er für lange Zeit ausgesorgt haben. Der Sieger bei DSDS bekommt: all das! Der Verlierer: nichts! Der Sieger steht im Licht. Der Verlierer steht für immer in seinem Schatten. Und das ist ein Schicksal, mit dem sich der Verlierer wahrscheinlich niemals versöhnen wird.

Ihr habt beide heute Abend gezeigt, dass ihr verstanden habt, um was es hier geht. Und dass es euch ernst ist. Dass ihr bereit seid, bis zur völligen Erschöpfung zu kämpfen; dass euch die Musik – dass euch eure Kunst! – heilig ist. Und: Dass ihr euer Publikum aus tiefstem Herzen verehrt.

(25 Sekunden Pause)

Das sind die Finalisten 2010. Das sind Mehrzad Marashi und Menowin Fröhlich.

(Pause.)

Mehrzad Marashi. 29 Jahre alt. Dieser Abend ist deine definitiv letzte Chance, dass aus deinem Traum von der Musik noch was wird. Seit 16 Jahren kämpfst und ackerst du, um dich als Sänger zu etablieren. Nichts hat funktioniert. Pleite, und ohne Zukunft. Als du zum Casting gekommen bist, warst du ganz unten. Aber von diesem Tag an ging’s für dich unaufhaltsam aufwärts. Mehrzad, du hast die Jury wieder und wieder begeistert. Du hast zuverlässig Top-Leistungen abgeliefert. Zuverlässig. Und. Top. Aus dem Mund eines Profis wie Dieter gibt es auf dieser Welt für einen Sänger kein größeres Kompliment. Du bist an die Spitze durchmarschiert und hast ganz nebenbei noch dein ganzes Leben umgekrempelt. Hast einen Sohn bekommen. Bist Vater geworden. Hast Deiner Denise einen Heiratsantrag gemacht. Und jetzt hast du noch einen zweiten großen Antrag gemacht. Du hast Deutschland um sein Ja-Wort gebeten. Das Ja-Wort zum Superstar. Und jetzt wartest du auf die Antwort: Liebeserklärung oder Laufpass.

Mehrzad, noch einmal tief durchatmen, in wenigen Augenblicken wirst du’s wissen.

Menowin Fröhlich, DSDS 2010 war die große zweite Chance, die du dir vom Leben gewünscht hast. Dein Weg hier bei uns war alles andere als gerade. Dein erster Anlauf bei DSDS hat hinter Gittern geendet. Aber du hast nicht aufgegeben, bist nicht abgerutscht, du hast an deinen Traum festgehalten. Hast an dir gearbeitet. Und hast einen zweiten Anlauf gemacht. Dass du ein sehr großes Talent hast, das haben wir alle schon vor vier Jahren gesehen. Diesmal haben wir erkannt: Der ist sogar noch besser. Der hat etwas, das nur ganz wenige haben. Soul im Blut. Musik in jeder Pore. Mit dem hat es der liebe Gott mal richtig gut gemeint. Zumindest, was die Musik angeht.

Dein Leben war bisher eine extreme Achterbahnfahrt. Es gab schwere Konflikte mit dem Gesetz; du warst auf der Flucht, hast während all dem drei Kinder gezeugt. Zu deiner Mutter jahrelang keinen Kontakt, manch einer würde sagen: Der packt das nicht. Aber du hast es gepackt. Bis hierher ins Finale. Und du hast dich mit deiner Mutter ausgesöhnt. Kleines Wunder. Und jetzt das nächste Wunder: Wird aus dem ehemaligen Häftling der Superstar 2010?

(Pause.)

Deutschland hat entschieden! Das sind sie, die Finalisten von DSDS 2010. Mehrzad Marashi und Menowin Fröhlich. Und die große Frage in Deutschland, wer wird Superstar 2010? Wessen Name werden wir uns merken. Welchen Namen werden wir vergessen? Wer feiert heute den größten Triumph seines Lebens?

(Pause.)

Mit 56,4 Prozent aller Anrufer.

(20 Sekunden Pause.)

Superstar 2010.

(Pause.)

Ist Mehrzad Marashi!

Soweit also Marco Schreyl. Und das hier ist in dieser Sekunde Menowin Fröhlich:

Der Sieger steht im Licht. Der Verlierer steht für immer in seinem Schatten. Und das ist ein Schicksal, mit dem sich der Verlierer wahrscheinlich niemals versöhnen wird.

Machen Sie sich bitte mal nackt

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Die Fortsetzung der „Bild“-Zeitung mit anderen Mitteln: ARD und ZDF erobern den Boulevard.

Am Dienstag morgen ist in Hamburg eine ehemalige Angestellte in ein Reisebüro gelaufen und hat die Chefin mit einem Küchenmesser getötet. Schlimm. Nicht schlimm genug fürs ZDF. Dessen Nachmittagsmagazin „Hallo Deutschland“ machte mit dieser Meldung auf, und Moderator Marco Schreyl formulierte: „Ein blutiger Rachefeldzug mitten in Hamburg! Noch sind’s nur vage Spekulationen, die kursieren. Der Fall allein aber hat eine ganze Stadt in Aufregung versetzt.“ Die Mörderin wurde am Tatort überwältigt und vor laufender ZDF-Kamera abgeführt, aber eine ganze Stadt ist in Aufregung. Die Stadt heißt Mainz und ist der Sitz der ZDF-Boulevardredaktion.

Am nächsten Tag ist bei „Hallo Deutschland“ gleich ein komplettes Land in Aufruhr: „Dieser Prozeß bewegt die ganze Nation“, sagt Schreyl. „Zwei Kinder müssen sterben, weil zwei erwachsene Männer ihre sexuellen perfiden Phantasien ausleben wollen. Zwei Männer stehen für diesen gemeinsamen Mord seit heute vor Gericht, und halb Deutschland wünscht sich die beiden vor Wut und Zorn lieber tot als lebendig.“ Und das ZDF läßt halb Deutschland reden, und halb Deutschland sagt, was halb Deutschland immer sagt: daß Gefängnis nicht schlimm genug ist für solchen „Dreck“, der kein Mensch mehr sei.

Woher kennen wir diese Sprache? Richtig: Aus der „Bild“-Zeitung. Das paßt ja. In der „Bild“- Zeitung stehen auch die intimen Details aus dem Leben von Prominenten, die abends bei „Kerner“ noch einmal besprochen werden, und umgekehrt. Manchmal gibt es eine gewisse Zeitverschiebung, wie bei Boris Beckers Autobiographie, die diese Woche bei „Bild“ durchgenommen wurde und erst nächste Woche bei „Kerner“. Bis es soweit ist, wird das, was Becker macht, übrigens auch im ZDF und bei „Hallo Deutschland“ als „öffentlicher Seelenstrip“ bezeichnet. Wenn er sich später im eigenen Programm auszieht, wird man dafür sicher einen anderen Namen finden.

Thomas Bellut, Programmdirektor des ZDF, bezeichnet Johannes B. Kerner im Gespräch als „Boulevardjournalisten“. Das ist sicher nicht böse gemeint, auch wenn es Kerner nicht gefallen wird. Aber vielleicht könnte man das einmal festhalten: Das Gesicht, das das Programm und das Image des ZDF mehr prägt als jedes andere, ist das eines Boulevardjournalisten. Das ist ja nichts Unehrenhaftes, würde Kerner jetzt erwidern, aber interessant ist es doch. Und obwohl Hartmann von der Tann, stellvertretender Programmdirektor des Ersten, bei Reinhold Beckmann das Wort „Boulevard“ sorgfältig vermeidet und von einer „People-Show“ spricht, gilt für die ARD ähnliches.

ARD und ZDF sind auf dem Boulevard zu Hause, in einem Maße, wie es vor ein paar Jahren nicht vorstellbar gewesen wäre. Manche Straßenzüge haben sie allein gepachtet. In den Talk-Redaktionen wird geklagt, wie unfaßbar hart und unfair der Kampf um Talkgäste geworden sei, was die Moderatoren alles bieten müssen – und dabei findet dieser Kampf exklusiv zwischen ARD und ZDF statt. Kein Privatsender, der die Sitten verroht oder die Preise versaut: Die „People-Show“ am Abend, in der Prominente und weniger Prominente wie in einer Peep-Show möglichst viel von sich preisgeben sollen, läuft so nur im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.

Grund dafür ist natürlich nicht, daß es den Privaten zu intim, geschmacklos, schmuddelig wäre, Menschen beim „öffentlichen Seelenstrip“ zuzusehen. Sie haben sich aus diesem Geschäft zurückgezogen, weil sich damit nur wenige junge Menschen anlocken lassen. Die Öffentlich-Rechtlichen dagegen nehmen jeden und sind so um 23 Uhr zur Fortsetzung von „Bild“ mit anderen Mitteln geworden.

Ist das schlimm? Das ist Unterhaltung, sagen ARD und ZDF. „Der Erfolg von Unterhaltung mißt sich allein an der Zahl derer, die sich dafür interessieren“, sagt von der Tann. „Das ZDF ist ein Informationssender mit starker Unterhaltung, und an diesem Auftrag wirke ich mit“, sagt Kerner. Thomas Bellut fragt: „Hat der Zuschauer, der sich bei uns den ganzen Tag seriös informiert hat, nicht auch mal das Recht, sich mit Bobbeles Besenkammer zu beschäftigen?“

„Auch mal“ ist gut: Boris Becker sitzt innerhalb von acht Tagen insgesamt sechs Mal in drei verschiedenen ZDF-Sendungen, um seine Memoiren zu verkaufen. Es ist eine Werbefläche, wie sie bislang allenfalls RTL für Bohlen und seine (immerhin in der eigenen Sendung gekürten) Superstars freigeräumt hat, aber in dieser Penetranz noch nie ein öffentlich-rechtlicher Sender. Bellut bestreitet, daß es einen Masterplan gegeben habe: Der Auftritt Beckers bei „Unsere Besten“ falle zufällig in die gleiche Zeit; zu „Wetten daß“ kämen Leute wie er ohnehin nur, wenn sie für ein Produkt werben dürften, und das einwöchige „Kerner“-Special sei Kerners Idee gewesen. Bislang stehe fest, daß Becker in je einer Folge auf Familie, Sportler und Show-Freunde treffen werde. Wenn Kerner ihm kein journalistisch überzeugendes Gast-Konzept für die vierte Becker-Show vorlege, werde es keine geben.

Na, es wird schon eine geben.

„Wir haben uns gefragt: Wie kann man dem Phänomen Becker gerecht werden“, sagt Kerner. „Ich mache mir die Marketing-Überlegungen der Verlage nicht zu eigen.“ Vielleicht, philosophiert man beim ZDF, werde Becker sogar weniger Bücher verkaufen, weil nach dem Overkill viele Zuschauer das Gefühl hätten, es sei schon alles gesagt.

Das wäre tatsächlich eine langfristig hoffnungsvolle Strategie: Wir quatschen so lange und so viel, bis es keiner mehr hören mag. Dieser Zeitpunkt ist allerdings noch fern, der feste Platz für den Boulevard im Programm steht nicht zur Debatte. „Ich stehe voll und ganz hinter dieser Programmstruktur“, sagt Programmchef Bellut. „Sonst kann sich das ZDF nicht unter den Top 4 der Fernsehsender halten.“ Das ist das Dilemma: In der Gebührendebatte hätten die Öffentlich-Rechtlichen es kurzfristig leichter, wenn sie auf den Boulevard und seine Auswüchse verzichten würden. Wenn dadurch aber die Quoten sinken, würde langfristig die Gebührenfinanzierung wegen mangelnder Zuschauerresonanz in Frage gestellt.

Warum gibt es Sendungen wie „Beckmann“ in der ARD, Herr von der Tann? „Weil es ganz offensichtlich ein großes Interesse der Zuschauer an dieser Form der Unterhaltung gibt.“ Und warum muß da Susanne Juhnke am Rande des Nervenzusammenbruchs private Dinge über ihr Leben mit Harald Juhnke erzählen? „Eine People-Talkshow wie ,Beckmann‘ kommt an solchen Themen nicht vorbei.“ Es ist alles von großer Logik, aber erschreckender Konsequenz: Für Grenzüberschreitungen und das Bohren nach dem Intimsten sind am späten Abend ARD und ZDF zuständig. Natürlich weisen die Verantwortlichen das in großer Selbstzweifellosigkeit weit von sich. Interessanterweise fällt jedem aber ein, daß der Umgang der Konkurrenz etwa mit dem Thema Juhnke abscheulich gewesen sei.

„Unterhaltung gehört zu unserem Auftrag wie Bildung und Information“, sagt von der Tann, „Boulevardmagazine und People-Shows gehören dazu.“ Offensichtlich aber liegt es jenseits der Vorstellungskraft von ARD und ZDF, daß ein öffentlich-rechtliches Boulevardmagazin sich von einem privaten dadurch unterscheiden könnte, daß es bestimmte Grenzen nicht überschreitet. Daß es aus einem Mord im Reisebüro keine Stadt in Angst machen muß. Daß es sich leisten könnte, Little Ali, den Jungen, der im Irak-Krieg beide Arme verlor, nicht in eine „People-Show“ einzuladen, Susanne Juhnke ihr Buch woanders verkaufen lassen könnte. Die Frage nach den Grenzen der Shows bleibt weitgehend unbeantwortet, ja: unverstanden. Hartmann von der Tann reicht die Verantwortung gleich mal weiter: „Natürlich gibt es Grenzbereiche, aber die muß die Redaktion selbst ausloten. Das ist eine Frage des Geschmacks, und da weiß Herr Beckmann schon selbst, was er tut.“ Und was wäre für die ARD nicht akzeptabel? „Alles, was die Würde der Menschen verletzte: gnadenloses Vorführen der Menschen, absolutes Abstellen auf Sex und Crime.“ (Man beachte die Adjektive. Einfaches Vorführen und relatives Abstellen auf Sex und Crime sind völlig okay. Beckmann wird es wissen.) Sein Kollege Kerner sagt: „Mich interessieren nicht Körperflüssigkeiten und Sexualpraktiken, bei mir hat es noch keine Vaterschaftstests gegeben. Den großen Unsinn machen nach wie vor die Privaten, zum Beispiel Talkshows, wo es um Vaterschaftstests geht. Das ist ein signifikanter Unterschied.“ Und: „Ich würde prinzipiell Leuten wie Schill kein Forum bieten.“

Öffentlich-rechtlich, das fällt allen dann noch ein, sei an diesen Sendungen, daß neben den Bohlens und Küblböcks da manchmal Politiker säßen, mit denen man manchmal auch über Politik rede, oder eine Runde aus Experten und Betroffenen, mit denen man über Kindesmißbrauch rede. „Wenn ich Kerner nicht als populäre Figur positionieren würde“, sagt Thomas Bellut, „würde ich die Zuschauer nicht für solche Themen bekommen.“ Immerhin räumt er ein, daß die „Bild“-Zeitung im Boulevard mehr als früher die Themen setze und überhaupt heute nur noch Mainstream die nötige Aufmerksamkeit erreiche und Kampagnen die nötige Lautstärke. „Wir müssen versuchen, auch mal dagegenzuhalten“, sagt er, „aber beim Unterhaltungsfernsehen muß man mitmachen, sonst liegt man daneben.“

Was, wenn bei ARD und ZDF jenseits von „heute“, „Tagesschau“ und einzelnen Nischen längst alles Unterhaltungsfernsehen geworden ist?