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Die tote Michelle, die Neonazis — und RTL

Das Mischmagazin „Extra“ ist einer der besonders hilflosen Versuche von RTL, Journalismus zu simulieren. Die Sendung am Montag versuchte sich an dem Thema der Ermordung der achtjährigen Michelle. In der Ankündigung formulierte der Sender:

Der Fall der missbrauchten und ermordeten Michelle aus Leipzig sorgt nicht nur bei Angehörigen für Zorn und Verzweiflung.

Der „Fall der missbrauchten Michelle“? Bis jetzt hat die Polizei ausdrücklich offen gelassen, ob das Mädchen sexuell missbraucht wurde. RTL unterstellt das einfach. RTL muss das auch unterstellen, denn „Extra“ hat — scheinbar passend zum Thema — offenbar in Eile mithilfe von Archivmaterial einen Beitrag zusammengeklöppelt, in dem es um Möglichkeiten der Kastration pädophiler Täter geht.

Am Ende kriegt der Beitrag wieder die Kurve nach Leipzig. Die Sprecherin sagt:

Diese Angst treibt auch die Menschen in Leipzig auf die Straße. Sie machen sich Sorgen um ihre Kinder, solange der Mörder von Michelle noch frei herumläuft und fordern drakonische Strafen. Allein im Raum Leipzig sollen 350 Kinderschänder registriert sein. Die Bürger hier wollen jetzt keine Haftstrafen mehr für verurteilte Pädophile, sie fordern die Todesstrafe.

Das ist zu hören. Gemeinsam skandieren die Menschen „Todesstrafe für Kinderschänder“. Und es ist zu sehen. Es steht auf den Transparenten, hinter denen die Demonstranten, darunter viele junge Frauen mit Kindern, hinterher laufen.

RTL zeigt eines groß:

An dem Banner ist nicht nur die Forderung und die Illustration bemerkenswert. Auch der angegebene Absender ist es. Das „Freie Netz“ ist ein Verbund von Internetseiten meist jüngerer Neonazis in Sachsen-Anhalt, Thüringen, Sachsen und Nordbayern. Hinter ihrem Banner laufen die Menschen, die RTL zeigt. Ihr Banner, ihre Demonstration ist es, die RTL — ohne ein Wort der Erklärung — als Ausdruck dessen nimmt, was „die Bürger hier“ wollen.

Die ahnungslosen und sensationslüsternen Möchtgernjournalisten von RTL haben der Strategie der Neonazis nichts entgegenzusetzen. Sie gehen ihr gleich doppelt auf den Leim, wenn sie zumindest voreilig die Fixierung auf das Thema „Kinderschänder“ übernehmen und die Nationalen gleichzeitig als diejenigen zeigen, die den Volkswillen repräsentieren.

Dabei ist diese Strategie kein Geheimnis. Schon am Donnerstag, dem Tag, an dem Michelle tot gefunden wurde, gab die NPD-Fraktion im sächsischen Landtag eine Pressemitteilung heraus, in der sie den Fall als Beweis der „Berechtigung“ ihrer Forderung nach der Todesstrafe für Kindermörder bezeichnete. Fast wie später RTL behauptete die NPD: „Offenbar wurde das Mädchen das Opfer eines Sexualverbrechens.“ Und ganz wie später implizit RTL machte die NPD sich selbst zum Sprachrohr der „berechtigten Empörung der Bürger“.

Ein Beitrag auf Indymedia schildert die Entwicklung am Donnerstag so:

Gegen 17 Uhr am Nachmittag sammelten sich im Leipziger Stadtteil Reudnitz mehrere Nazis des „Freien Netzes“ und meldeten eine Spontankundgebung an. Mit diversen schwarzen Fahnen, Fackeln und Transparenten des „Freien Netzes“ zogen bis gegen 19:30 Uhr bis zu 250 Nazis unter der Parole „Todesstrafe für Kinderschänder“ durch das Viertel. Trotz der Optik des Aufzugs und der Forderung nach der Todesstrafe schlossen sich rund 80 Anwohner der Demonstration an, zudem brachten sowohl Nazis als auch Anwohner nicht wenige Kinder mit zum Aufzug. Die Polizei begleitete die Demonstration mit mehreren Fahrzeugen.

Da aufgrund der tagesaktuellen Berichterstattung auch mehrere Kamerateams vor Ort waren, wurden Bilder des Aufmarschs auch im ZDF gezeigt. Zu sehen war der vordere Teil, inclusive der Forderung nach Todesstrafe auf Transparenten sowie dutzende Fackeln und Fahnen. Kommentiert wurde die Herkunft der Initiatoren mit „…nicht zuordenbaren Jugendlichen.“.

Die NPD beschreibt den Verlauf so:

So schaffte man es innerhalb kürzester Zeit eine Demonstration zu organisieren. In nicht einmal einer halben Stunde wurden Megaphone, Fahnen, Transparente und Fackeln organisiert, ein Ordnerdienst gebildet welcher sich eine Umfassende Strategie ausdachte um eine würdevolle Demonstration zu gewährleisten. Während die Polizei sich kooperativ zeigte, strömten immer mehr Menschen und Nationale Sozialisten auf den Platz vor der Schule. Die Beamten mussten die komplette Straße absperren, dass passieren der Straße wurde aufgrund der Menschenmenge unmöglich. Für jeden Teilnehmer war bekannt, wer die Demonstration angemeldet und organisiert hatte und dennoch blieb keiner Fern und keiner wurde ausgeschlossen. So entschied man sich auch politische Parolen, egal welcher Art zu unterlassen.

Nicht unwichtig ist in diesem Zusammenhang, dass der Onkel des ermordeten Mädchens Isztvan Repaczki ist — ein bekannter Aktivist der örtlichen Neonazi-Szene. (Das Nazi-Portal altermedia.info zeigt ihn im Gespräch mit einer RTL-Reporterin.) Das scheint eine Ursache für das große Engagement der NPD gewesen zu sein — und natürlich vor allem die Tatsache, dass die rechtsextremistische Szene, wie die „Südwest-Presse“ berichtet, „das Thema Kinderschändung für sich entdeckt“ habe: „Sie instrumentalisiert es gezielt.“

Im Bericht des rechtsextremen „Freien Netzes Leipzig“ liest sich das so:

Außer den etwa 200 nationalen Sozialisten beteiligten sich noch Hunderte Bürger an dem Gedenkzug. Bei einer kurzen Kundgebung sprach der Onkel der Mädels, selbst volkstreuer Aktivist, einige Worte zu den Anwesenden.

Als Deutscher unter Deutschen, sprach er davon, dass nur eine gesunde Volksgemeinschaft eine sichere Zukunft für unsere Kinder bieten kann. Kinder müssen wieder das höchste Gut unseres Volkes sein, ihr Schutz und ihr behütetes Aufwachsen muss zur heiligen Aufgabe aller deutschen Menschen werden. Kranke die sich an ihnen vergehen sind aus der Gemeinschaft zu entfernen da sie eine Gefahr für sie darstellen. Die moderne Hirnforschung hat bewiesen, dass das sexuelle Verlangen nach Kindern nicht heilbar ist, sondern eine Störung im Kleinhirn. Damit steht unwiderrufbar fest, dass es für diese Subjekte keine andere Strafe geben kann als die Todesstrafe. Im Knast liegen diese perversen dem schaffenden Volk nur auf der Tasche, und wenn sie frei herumlaufen sind sie eine tickende Zeitbombe.

Wer eine Ahnung davon bekommen will, was es bedeutet, wenn sich die kalkulierte Agenda der Neonazis und die ehrliche Erschütterung der Bürger treffen, mischen und hochschaukeln, muss lesen, was „Flohbude“ darüber schreibt, der dabei war:

Ein bulliger Mann trifft ein. Großes Hallo. Wüsste man sich nicht auf einer Demo anlässlich einer Kindstötung, könnte man dem Trugschluss erliegen, einer großen Familienfeier beizuwohnen. „Todesstrafe für Kinderschänder“ steht in großen Buchstaben auf der Heckscheibe seines BMW. Er übernimmt die Organisation. Keine zehn Minuten später: Ein gutes Dutzend schwarzer Fahnen am Anfang des Zuges. Schwarzgekleidete Jugendliche mit Sonnenbrillen und Handschuhen. Es werden die Auflagen der Stadt verlesen: Der Todesstrafen-Slogan ist nicht erwünscht, ebenso das Trinken von Alkohol und Rauchen. Gelächter.

Der Zug setzt sich in Bewegung. Von der Schule aus geht es ins Stötteritzer Wäldchen. Abgelaufen wird die Strecke, die wahrscheinlich Michelles letzter Weg war. Auch hier dauert es keine Viertelstunde, dann erschallt der Ruf nach Todesstrafe. Die gnadenlos unterbesetzte Polizei ist handlungsunfähig, kann gerade so den Verkehr regeln. Fackeln werden neben den schwarzen Fahnen entzündet. Die ursprünglichen Organisatoren erscheinen ratlos. Weder können sie sich erklären, woher die Fahnen kommen, noch wieso sechsmal so viele Menschen erschienen sind als geplant. Weiter hinten im Zug versucht man die Radikalforderungen der Vorderleute abzuschwächen: „Keine Gnade für Kinderschänder!“. Vergebens. (…)

Welch skurriler Anblick: Zwischen Transparenten mit der Aufschrift „Nationaler Sozialismus, jetzt!“ laufen Nachbarn, Supermarktmitarbeiter, ältere Leute. Ist ihnen Wohl bei der ganzen Sache? Wissen sie, wer vor und hinter ihnen läuft, mit wem sie sich in diesen zwei Stunden gemein machen? Ich mag nicht darüber urteilen, denn ein Befragen ist angesichts der Menge an Aufpassern zu riskant. (…)

Die Köpfe der Bewegung können sich auf eine breite Basis stützen. Sie sind in die Wohnstuben derer eingesickert, deren Selbstbild das des Verlierers ist, der sich aber trotz aller Benachteiligungen ein ordentliches Maß an Kampfgeist und Widerspruchsrecht bewahrt. Der alle Schuld beim “System” findet, bei „denen da oben“. Wenn es eine unausgesprochene, aber von jedem im Kopf mitgeführte Parole gibt, dann lautet sie „Wir sind denen doch egal!“. Man fühlt sich verlassen, nicht ernst genommen. Eine Forderung will, dass OBM Jung auf einer der kommenden Demos spricht. Geschickter Schachzug: Tut er es, sind die Fordernden ganz oben angekommen und können ihrer Folgschaft zeigen, zu was sie in der Lage sind. Spricht er nicht, ist das wieder willkommene Selbstbestätigung. „Gesinnungsentscheidung“ werden die einen dann märtyrern. „Da sieht man’s wieder: Egal!“, die anderen. Schlechte Menschen sehen dennoch anders aus. Wo der akademische Ignorant Bosheit vermuten mag, herrscht pure Ratlosigkeit. Nicht nur im Fall des Kindermordes. Es geht um die gesamte Situation einer hetrogenen Gruppe, die sich in einem System verliert, welches sie nicht auffangen kann. Alles mündet in den Willen des Geführtwerdens. Jede Alternative ist willkommen, so lange sie einfach begreifbar ist. Und die Führer stehen bereit.

(Filme von den Demonstrationen bei YouTube.)

[mit Dank an Torsten Schilling!]

Nachtrag, 19:50 Uhr. Das Online-Medienmagazin „Meedia“ zitiert einen RTL-Sprecher mit den Worten:

„Uns sind Fehler unterlaufen. Das ist ärgerlich und darf trotz des grossen Zeitdrucks unmittelbar vor der Sendung nicht passieren. Wir haben das zum Anlaß genommen, unsere diesbezüglichen Kontrollmechanismen noch einmal zu verschärfen.“

„Einen töten, Tausend retten“

Der Online-Ableger von RTL versucht, seine Einnahmen jetzt auch dadurch zu erhöhen, dass er Werbung in die laufenden Videos einblendet. Die Profis von rtl.de haben so einen Bericht über den ersten Schultag nach der Ermordung von Michelle in Leipzig mit Werbung für den Film „Wanted“ („Bestimme dein Schicksal! Lass die Kugeln sprechen!“) kombiniert:

Heike Lippertz lässt ihre Tochter Celina nicht mehr aus den Augen, bringt sie heute morgen natürlich persönlich zur Schule. Zu groß ist die Angst. „Man weiß ja nie, was kommt, wo er steht. Er könnte da sein, da sein.“




Europa wählt amerikanischen Funk

Estland gewinnt völlig überraschend den Grand Prix, und nur die Dänen freuen sich nicht darüber.

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Der deutsche Grand-Prix-Chef Jürgen Meier-Beer glaubt, langsam eine Erklärung gefunden zu haben für das Phänomen, das immer wieder verblüfft: Die meisten Menschen verfolgen bei dem Pop-Wettbewerb im Fernsehen nicht die Auftritte der einzelnen Länder; mehr sitzen vor dem Ritual der Punktevergabe. „Europa nimmt sich einmal im Jahr diese Stunde, um kollektiv über die Beziehungen seiner Nationen untereinander zu meditieren“, sagt Meier- Beer. Nach den Wertungen zu urteilen, ist das Zusammengehörigkeitsgefühl der skandinavischen Länder am Anfang des 21. Jahrhunderts intakt, auf britisch-irische Freundschaft kein Verlass, die Verbindung Frankreich-Portugal ungebrochen, und Deutschland ziemlich allein ohne seine Nachbarn Belgien, Schweiz und Österreich.

Eines aber erklärt Meier-Beers Theorie nicht: Warum sich Briten und Türken, Holländer und Griechen und noch einige mehr darüber einig waren, dass „Everybody“, ein altmodisches Stück amerikanischen Funks, gesungen von zwei unaufälligen Männern namens Tanel Padar and Dave Benton, die vor dem Contest in Kopenhagen kaum jemand wahrgenommen hatte, der beste Teilnehmer am diesjährigen Eurovision Song Contest gewesen sein soll. Die Europäer haben allem Anschein nach kaum noch Lust auf klassischen Schlager, aber der Weg nach vorne führt über die Vergangenheit. Denn die Alternative zu kitschigen Balladen waren Musikstile von gestern und vorgestern: Funk a la Cool and the Gang bei den Esten, eine Mischung aus Country und Kinderlied bei den Dänen, Bonnie-Tyler-Bombastpop bei den Slowenen. Die deutsche Vertreterin Michelle kam auf Platz acht.

Die Esten haben nun vier Wochen Zeit, dann steht ein Team der Eurovision bei ihnen vor der Tür und verlangt Rechenschaft, wo und wie sie es schaffen wollen, die Sendung im kommenden Jahr zu stemmen. Mit riesigem technischen und organisatorischen Aufwand (und nicht immer entsprechendem Ergebnis) haben die Dänen die angeblich größte Fernsehshow der Welt inszeniert – Übertragungen von Fußballspielen oder Konzerten nicht mitgerechnet. Da ist der Anspruch hoch, und die Gefahr für ein kleines Land, daran zu scheitern, ebenso. Mehr als 15 Millionen Mark soll die Sendung in diesem Jahr gekostet haben.

Für die Grand-Prix-verrückten Esten ist das Ergebnis ein Traum. Für die knapp geschlagenen Dänen eigentlich auch, die nun langsam anfangen können, die „Grand-Prix-Sonderangebote“ aus Einrichtungsläden und Modegeschäften in Kopenhagen abzuräumen. Die Mehrheit der 38000 Zuschauer im Fußballstadion „Parken“ ließ sich von dem Veranstaltungsort zwar zu einer Art Hooligan-Atmosphäre anstecken, buhte schlechte Wertungen für das eigene Land aus und sparte mit Applaus für die Sieger. Aber den Organisatoren war der zweite Platz lieber als ein Sieg. „Ich glaube nicht, dass man die gleiche Begeisterung hier noch einmal hinkriegen und die Besten des Landes aus allen Bereichen ins Team bekommen würde“, sagt Oberorganisator Jorgen Ramskov, der selbst für die Produktion des Festivals vor einem Jahr seinen Posten als Chef des staatlichen Fernsehsenders DR aufgegeben hatte. Er hatte sich das Ziel gesetzt, den Wettbewerb „nicht zu verjüngen, aber zu modernisieren“.

Ob das gelungen ist, ist schwer zu sagen. Einerseits waren nicht nur die Dänen im generationenübergreifenden Grand-Prix-Rausch, auch in Hamburg nutzten viele Tausend Menschen das schöne Wetter und den Hafengeburtstag, sich auf der Reeperbahn das Spektakel anzuschauen. Und mit mehr als acht Millionen Quote hat der Song-Contest das einzige für die ARD zählende Kriterium erfüllt. Andererseits waren viele Beiträge von einer Art, dass man hofft, dass die jeweils führende Boulevardzeitung in Bild-Manier wenigstens vorher mahnend gefragt hat, ob die für ihr Land überhaupt singen dürfen. Nach einem neuen Reglement müssen die sieben Länder mit den schlechtesten Ergebnissen im nächsten Jahr aussetzen – das trifft unter anderem große Grand-Prix-Nationen wie die Niederlande und Irland.

Deutschland wäre wie Frankreich, England und Italien selbst bei einem schlechten Ergebnis davon ausgenommen – aber Michelle landete ohnehin weit oberhalb der Abstiegszone, obwohl ihre Ballade „Wer Liebe lebt“ nur aus Portugal und Spanien nennswerte Punkte erhielt. Sie sagte, sie sei mit dem achten Platz sehr zufrieden und der Sieg für Estland gehe in Ordnung, weil das „ein kleines Land“ sei. Anders als bei der Probe zeigte sie im Finale stimmliche Schwächen – aber ob so etwas die abstimmenden Europäer überhaupt interessiert, bleibt eine der vielen ungeklärten Fragen dieser Veranstaltung.

(c) Süddeutsche Zeitung

Aber hallø!

Kleines Land, großer Wahnsinn: Die Dänen wollen es mit ihrem European Song Contest am Samstag erheblich krachen lassen.

Wie in einem Märchenwald wirft Sonnenlicht Staubstreifen in die dunkle Arena. Das Gestänge, an dem das Dach aufgehängt ist, lässt dem Licht ein paar Lücken. Dem Wind auch. Kalt ist es. Draußen feiern die Kopenhagener den Frühling: Auf jedem Bordstein sitzt einer, lässt sich anstrahlen und strahlt zurück. Drinnen erinnern sich ein paar Deutsche, die auf den Rängen frösteln, wie die Nationalmannschaft hier vor einem halben Jahr verloren hat. Damals war das Parken-Stadion noch ein normales Fußballstadion, ohne Dach. Der Prospekt sagt, dass man die Halle schnell mit heißer Luft füllen kann. Am Samstag Abend findet hier also der Schlager-Grand-Prix statt (ARD, 21 Uhr).

Ganz so ist es nicht, dass das Stadion extra dafür ein teures Dach bekommen hat. Die Pläne lagen schon in den Schubladen. Aber für das längst totgesagte Fernsehritual hat man sie ‚rausgeholt. Deshalb werden die Kopenhagener in Zukunft, wenn sie hier Madonna zujubeln, dem Grand Prix dankbar sein – auch eine Antwort auf die ewige Frage nach dessen Sinn und Daseinsberechtigung.

Nicht, dass die in Kopenhagen in diesen Tagen viele stellen würden. Die Feuerwehrleute nicht, die eine Woche lang als Sicherheitsleute hinter den Kulissen stehen und sich ein paar Kronen dazu verdienen, damit sie in einem Monat zu den internationalen Polizei- und Feuerwehr-Spielen nach Amerika fliegen können. Die Tourismus-Leute von „Wonderful Copenhagen“ nicht, die jedem Delegationsmitglied am Flughafen das Gefühl geben, die „Wonder Brass“- Band spiele nur für ihn. Und die Leute vom dänischen Fernsehen schon gar nicht. Die haben seit einem Jahr eine Mission. Nach dem Sieg der Olsen-Brüder in Stockholm wollen sie die größte Fernsehshow aller Zeiten veranstalten. Um es den Schweden, den dänischen Lieblingsgegnern, mal richtig zu zeigen? „Nein“, sagt der örtliche Event-Manager Christian Have, „um es der Welt zu zeigen“.

Vielleicht muss man sich einmal vorstellen, was passieren würde, wenn unsere süße Michelle gewänne: Bild würde zwei Wochen komplett ausrasten und die Nation abstimmen lassen, ob Ex-Freund Matthias Reim zurück darf zu Michelle oder nicht. RTL und Sat 1 würden jeden ihrer Schritte zu ewigem Ruhm oder mal eben in den Abgrund mit der steady cam begleiten. Ralph Siegel würde sich heulend in seinem Studio einschließen, weil nicht er es war, der den Grand Prix nach Deutschland holte.

Aber sonst? Der NDR würde routinemäßig die Preussag-Arena buchen und die Fernsehleute engagieren, die die Arena schon bei der Vorentscheidung ganz fürchterlich nach Hannover aussehen ließen. Grand-Prix-Koordinator Jürgen Meier-Beer würde versuchen, Claudia Schiffer als Moderationspartnerin für Axel Bulthaupt zu gewinnen. Die schwulen Grand-Prix-Fanclubs könnten die Tickets unter sich aufteilen. Stefan Raab würde ein paar Sondersendungen machen. Und den meisten Menschen wäre die Geschichte, jenseits eines kultigen Fernsehabend mit Käse-Igeln und viel Alkohol, egal. Grand Prix halt.

In Dänemark ist es so, dass heute sämtliche Minister und der Regierungschef in der ersten Reihe sitzen werden, um sich anzusehen, wie junge unbekannte Menschen mit erstaunlich guten Stimmen erstaunlich uninspirierte Lieder um die Wette singen. „In diesem Jahr ist das für uns kein Song Contest“, sagt Cheforganisator Jørgen Ramskov: „Es ist ein Staatsakt.“ Der Stroget, die Einkaufsstraße, die der Reiseführer als möglicherweise längste Fußgängerzone der Welt beschreibt, hat sich in die sicherlich größte Ausstellung von Grand-Prix-Wahnsinn verwandelt: Eine Konditorei hat in ihrer Auslage den Titel jedes dänischen Beitrags der Geschichte in einer Torte dargestellt. Rosendahl hat seine Schaufenster leergeräumt und ein einzelnes Besteckset hineingestellt, das offizielle Grand-Prix-Besteck, in edler Box, statt 1624 nur 999 Kronen.

In den Plattenläden steht die CD mit den Liedern aller Teilnehmer, der Verkäufer rechnet fest damit, dass die bald auf Platz eins der Hitparade sein wird. Gleich neben den Sammlungen vom „Danske Melodi Grand Prix“ 2000, 1999 und 1954-1998, diversen Best-Ofs und der Platte von Johnny Logan, dem Iren, der zweimal gewonnen hat; die Platte hat er gerade extra für die Dänen aufgenommen. Rund um den Kongens Nytorv Platz strahlt ein Blumenbild mit Blütenklecksen, das die Noten des dänischen Beitrags darstellen soll.

„Es ist eine Geschichte ganz nach dem Geschmack der Dänen“, sagt Christian Have, „wir sind ein kleines Land, wir halten nicht viel von großem Startum. Wir lieben es, dass im vergangenen Jahr mit den Olsen-Brüdern zwei alte Männer gewonnen haben, die ihre große Zeit vor 20 Jahren hatten – und die niemand wirklich auf der Liste hatte.“ Nein, man kann nicht sagen, dass die Dänen vorbereitet waren auf diesen Sieg: Die öffentlich-rechtliche Anstalt Danske Radio hatte gerade beschlossen, ihre Unterhaltungsabteilung aufzulösen. Der frühere Grand-Prix-Beauftrage musste in eine kaufmännische Abteilung wechseln.

Nun hatten auch die Dänen vor ein paar Jahren noch ihre Zweifel an dieser merkwürdigen Veranstaltung. Nach dem Sieg erkannten sie schnell, dass dies die Chance war, der Welt etwas zu beweisen. Danske Radio ist ein kleiner Sender, wie man ihn sich in einem kleinen Land wie Dänemark vorstellt, in dessen Fernsehabteilung nachts und morgens noch das Testbild läuft. Ramskov, der eher auf Rockkonzerte geht und dem Michelle nicht in den CD-Player käme, kündigte seine Position als Fernsehchef, um ein Jahr lang etwas vorzubereiten, das nicht mehr Schlagerwettbewerb, sondern Mammut-Party werden sollte: „Wir erfinden den Song Contest neu. Entweder man macht ihn richtig oder gar nicht.“

Etwas beunruhigt verfolgten die Eurovisions-Kollegen den Gigantismus der Dänen und fragten sich nicht nur, ob das Dach über Parken rechtzeitig fertig würde, sondern auch, ob es überhaupt genügend Leute gebe für die 38 000 Plätze. Das Dach steht, die Karten für die Veranstaltung und zwei Generalproben waren innerhalb von 50 Minuten ausverkauft. Junge Menschen übernachteten in Schlafsäcken auf dem Rathausplatz, um Tickets zu ergattern, die heute für fast 1000 Mark auf dem Schwarzmarkt gehandelt werden.

15 Millionen Mark soll die ganze Veranstaltung kosten, sechs Millionen bekommt Danske Radio von den größeren Eurovisions-Kollegen, den Rest sollen Sponsoren und Partner decken.

„Es war ein Pokerspiel“, sagt der deutsche Grand-Prix-Mann Jürgen Meier Beer. Er verfolgt diesmal nicht nur fasziniert, warum ernstzunehmende Menschen heftig über die Frage streiten können, wie furchtbar es ist, dass alle Teilnehmer plötzlich eine Strophe auf Englisch singen. Für ihn wäre so ein finanzielles und organisatorisches Pokerspiel kaum zu machen – „der Stellenwert des Grand Prix ist für ein kleines Land einfach ein anderer“. Andererseits hat er es geschafft, dass der deutsche Botschafter in Kopenhagen einen Empfang für Schlagermaus Michelle gegeben hat, in einer Kirche, deren Kirchenvorstand darum bat, die Sängerin auf seiner Harley fahren zu dürfen, bevor sie von den Olsen Brothers mit dem Lied „Michelle“ überrascht wurde. Ah, schön!

Am Samstag wird sie auf der Bühne stehen und ihr Lied „Wer Liebe lebt“ singen, von dem sie sagt, dass es eine Botschaft habe: Dass wir alle mehr lieben müssen. Außer von Nicole damals werde das ja viel zu selten gesungen. Die Russen zeigen, dass auch aus Wladiwostok erfolgreiche Musiker kommen können und diese aber trotzdem nicht gut sein müssen. Die Schweden könnten dafür sorgen, dass in Zukunft auch Abba-Kopien als Verstoß gegen die Genfer Menschenrechtskonvention gewertet werden. Aus England kommt eine junge Frau, die aussieht, als habe man sie bei Hempels unterm Sofa gefunden, aber sie singt wie eine Göttin.

Am Ende könnten die Franzosen gewinnen, was gut wäre, weil die keine Lust mehr haben auf einen Grand Prix, bei dem sie dauernd verlieren. Oder die Slowenen, was auch gut wäre, weil es dann auch im nächsten Jahr wieder einen Staatsakt statt eines Schlager-Wettbewerbs gäbe.

Ach ja, die Schlager. Dieses Problem haben die Dänen in ihrem Eifer noch verschlimmert: Auf einer riesigen Bühne sieht man schnell ganz klein aus.

(c) Süddeutsche Zeitung

Michelles Grand-Prix-Tagebuch

Lustig, lustig, tralalalalaaa. Grand Prix: Michelle wundert sich in Kopenhagen über ihr angeblich eigenes „Bild“-Tagebuch.

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Kein Sänger sollte das Haus ohne seine fleischfarbenen Ohrstöpsel verlassen. Sonst muss er im Fall eines Auftritts vor größeren Menschenmengen in windigen Hallen, wo man nicht einfach Lautsprecher-Monitore für die Interpreten aufstellen kann, fremde Ohrstöpsel benutzen, die nie richtig passen, was im Ausland besonders schlimm ist, weil es die Techniker dort ja nie schaffen, einen vernünftigen Ton draufzulegen. Michelle, deutsche Vertreterin beim Grand Prix in Kopenhagen, auch bekannt als „unsere Schlager-Prinzessin“, hat extra auf einer Tournee mit dieser Technik geübt. Und was hat sie nun zu Hause gelassen? Ihre fleischfarbenen Ohrstöpsel.

So steht sie bei der ersten Probe am Dienstagabend auf der Bühne im Kopenhagener Fußballstadion Parken, quengelt, der Ton sei „total überkoppelt“, erträgt die fremden Stöpsel beim Singen nicht, kann aber ohne sie nicht singen, tut sie rein, tut sie raus, einen rein, anderen rein, kommt gegen ihre Backgroundsänger nicht an, vergisst, dass sie den letzten Refrain auf Englisch singen soll, obwohl es ihr Chor aber tut (was zusammen witzig klingt), ist auch beim vierten Durchgang ahnungslos, welche Kamera auf sie gerichtet ist, weint fast.

Der erste Auftritt war also eine Katastrophe. Mit anderen Worten: „Gestern hatte ich meine erste Probe. Es ist schon ein gigantisches Gefühl, auf einer so großen Bühne zu stehen.“ Schreibt Michelle in ihrem „Tagebuch“, das die Bild-Zeitung täglich unter der Autorenzeile „Von MICHELLE (zur Zeit in Kopenhagen)“ veröffentlicht. Gigantisch? Soso.

Man muss nun daraus nicht schließen, dass es in Wahrheit Freudentränen waren, die in Michelles Augen standen. Es ist eher so, dass speziell dieses Tagebuch durch eine bemerkenswerte Kombination aus Gedankenlesen und Hellsehen entsteht, was — eine lästige Nebenwirkung solch‘ journalistischen Extremsports — nicht immer zu den verlässlichsten Resultaten führt. Der Tagebucheintrag über die Probe jedenfalls („Mein Herz zittert. Meine Knie werden weich.“) entstand, bevor die Probe begonnen hatte. Und auch wenn man auf einem Foto sieht, wie Michelle mit Block und Stift „allein in ihrem Hotelbett“ sitzt -– es ist Bild-Redakteur Mark Pittelkau, der ihre geheimsten Sehnsüchte und Sorgen beschreibt. Er kennt Michelle sozusagen besser als sie sich selbst. Er denkt sie sich aus.

Das ist soweit nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich ist, dass die Schlagerprinzessin „ihr“ Tagebuch am Anfang nicht einmal gelesen hat, bevor es in Druck ging — was, neben der Sache mit den fleischfarbenen Ohrstöpseln, daran zweifeln lässt, ob sie mit ihrem Manager gut beraten ist. Jedenfalls ergibt sich dadurch gleich am ersten Morgen, vor einer gemeinsamen Stadtrundfahrt, die folgende Szene, die Generationen von Studenten der Kommunikationswissenschaft Stoff für Seminare zum Thema Medieninszenierungen und Wirklichkeit geben könnte: Da steht also Michelle in der warmen dänischen Frühlingssonne und bekommt die Bild-Zeitung mit ihrem Tagebuch- Artikel in die Hand gedrückt. Drei deutsche Kamerateams filmen nun, wie Michelle zum ersten Mal „ihr“ Tagebuch liest, über die Schlagzeile „Nachts im Hotel fühle ich mich oft so einsam“ staunt, erschrickt, lacht und dann sagt, das sei ja ein Quatsch.

Der Autor Pittelkau, der ein paar Schritte daneben steht, wird am Nachmittag in Michelles Bild-Tagebuch den Eintrag machen, zum bevorstehenden ersten Geburtstag ihrer Tochter habe sich der Vater des Kindes, der Schlagersänger Matthias Reim, noch nicht gemeldet, was ja wohl mal wieder typisch sei. Am Tag darauf stellt Michelle ihren Ghost-Writer zur Rede.

In Zukunft will sie vorher wissen, was sie in ihr Tagebuch schreiben wird.

(c) Süddeutsche Zeitung

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Waterloo

Beim deutschen Schlager Grand Prix stirbt die Figur Zlatko.

Schwäbisch-mazedonisches Schimpfwort mit neun Buchstaben? Kotzköppe. Nicht gerade der verbreitetste Schmähruf. „Vielen herzlichen Dank, liebe Kotzköppe“ lautet der Satz, mit dem sich Zlatko am Freitag entnervt von den buhenden Zuschauern beim Grand Prix verabschiedete – und von der großen Bühne überhaupt. Denn es war nicht so, dass am Freitagabend in der Hannoveraner Preussag-Arena nur die notorisch schlageraffinen Grand Prix-Insider buhten. Außer einer Hand voll Jubelperser, die der Containerbetreiber Endemol bestellt hatte, buhten alle. Dabei wäre in der Halle durchaus Platz gewesen für ein paar Hundert Zlatko-Fans. Doch Unterstützung gab es hier so wenig wie bei der Abstimmung per Telefon, wo Zlakto angeblich auf Platz sieben, sicher aber nicht unter den ersten Dreien landete.

Der Star Zlatko ist Geschichte. RTL und Bild, die ihn erst zu dem machten, was er am Freitag war, haben längst die Seiten gewechselt und sind nun ganz vorne bei denen, die nachtreten. Zlatkos Auftritt war so verheerend, dass man immerhin hoffen kann, dass ein paar Leute bei Endemol und Bertelsmann – deren Produkt er ist, deren „Schützling“ er sein sollte und die ihn in eine Rolle drängten, der er nicht gewachsen war und ihm ein Lied schrieben, das er nicht singen konnte – dass also ein paar von denen jetzt schlecht schlafen. Wenn schon nicht aus Sorge um Zlatko, dann wenigstens aus Sorge um die verschenkten Millionen, weil sie ihre Milchkuh nicht gemolken, sondern geschlachtet haben.

Es war ein denkwürdiger Abend. Voll von diesen Grand Prix-Momenten, die sich ins Gehirn brennen und Therapeuten auf Jahre hinaus beschäftigen: Wie Rudolph Moshammer darum bat, für ihn zu stimmen, damit er das Geld den Obdachlosen geben könne. Wie sich die Begleiterinnen von DJ Baloon am Ende je einen Wassereimer griffen und über sich ausschütteten, damit man einen deutlicheren Blick auf ihre Anatomie werfen konnte. Wie Joy Fleming in einer Art Komposthaufen auf die Bühne kam, einem Kleid von so unfassbarer Schrecklichkeit, dass alle Sinne minutenlang mit der Verarbeitung und Verdrängung beschäftigt waren, anstatt auf das nette Lied zu achten. Und wie Joy die Gewinnerin Michelle umarmte, wobei sich irgendetwas an Michelle in den Stoffbergen verfing, weshalb eine Minute lang ein kleines Grüppchen von Frauen auf der Bühne stand, das aneinander herumnestelte.

Über neun Millionen Menschen sahen sich das an, und die ARD, die auch nicht alle Tage eine solche Quote hat, stellte sich als gefällige Werbeplattform zur Verfügung: für die Telekom, für T-D1, für den Verlag Hoffmann und Campe, für Jeanette Biedermann und diverse Tonträger. Nur für die inzwischen sehr ansehnliche und erfolgreiche deutsche Popmusikszene, dafür warb sie nicht. Kein deutscher Soul von Ayman, kein Mainstream-Hip-Hop der 3. Generation, kein moderner Pop eines Laith Al-Deen.

Mit Michelles Wer Liebe lebt gewann zwar ein klassischer Schlager, aber wenigstens der fast einzige zeitgemäße und ordentlich produzierte Beitrag des Abends. Der ARD Grand Prix-Chef Jürgen Meier-Beer hat es geschafft, dass der Wettbewerb an Aufmerksamkeit gewonnen hat.

An Relevanz nicht.