Schlagwort: NPD

Die tote Michelle, die Neonazis — und RTL

Das Mischmagazin „Extra“ ist einer der besonders hilflosen Versuche von RTL, Journalismus zu simulieren. Die Sendung am Montag versuchte sich an dem Thema der Ermordung der achtjährigen Michelle. In der Ankündigung formulierte der Sender:

Der Fall der missbrauchten und ermordeten Michelle aus Leipzig sorgt nicht nur bei Angehörigen für Zorn und Verzweiflung.

Der „Fall der missbrauchten Michelle“? Bis jetzt hat die Polizei ausdrücklich offen gelassen, ob das Mädchen sexuell missbraucht wurde. RTL unterstellt das einfach. RTL muss das auch unterstellen, denn „Extra“ hat — scheinbar passend zum Thema — offenbar in Eile mithilfe von Archivmaterial einen Beitrag zusammengeklöppelt, in dem es um Möglichkeiten der Kastration pädophiler Täter geht.

Am Ende kriegt der Beitrag wieder die Kurve nach Leipzig. Die Sprecherin sagt:

Diese Angst treibt auch die Menschen in Leipzig auf die Straße. Sie machen sich Sorgen um ihre Kinder, solange der Mörder von Michelle noch frei herumläuft und fordern drakonische Strafen. Allein im Raum Leipzig sollen 350 Kinderschänder registriert sein. Die Bürger hier wollen jetzt keine Haftstrafen mehr für verurteilte Pädophile, sie fordern die Todesstrafe.

Das ist zu hören. Gemeinsam skandieren die Menschen „Todesstrafe für Kinderschänder“. Und es ist zu sehen. Es steht auf den Transparenten, hinter denen die Demonstranten, darunter viele junge Frauen mit Kindern, hinterher laufen.

RTL zeigt eines groß:

An dem Banner ist nicht nur die Forderung und die Illustration bemerkenswert. Auch der angegebene Absender ist es. Das „Freie Netz“ ist ein Verbund von Internetseiten meist jüngerer Neonazis in Sachsen-Anhalt, Thüringen, Sachsen und Nordbayern. Hinter ihrem Banner laufen die Menschen, die RTL zeigt. Ihr Banner, ihre Demonstration ist es, die RTL — ohne ein Wort der Erklärung — als Ausdruck dessen nimmt, was „die Bürger hier“ wollen.

Die ahnungslosen und sensationslüsternen Möchtgernjournalisten von RTL haben der Strategie der Neonazis nichts entgegenzusetzen. Sie gehen ihr gleich doppelt auf den Leim, wenn sie zumindest voreilig die Fixierung auf das Thema „Kinderschänder“ übernehmen und die Nationalen gleichzeitig als diejenigen zeigen, die den Volkswillen repräsentieren.

Dabei ist diese Strategie kein Geheimnis. Schon am Donnerstag, dem Tag, an dem Michelle tot gefunden wurde, gab die NPD-Fraktion im sächsischen Landtag eine Pressemitteilung heraus, in der sie den Fall als Beweis der „Berechtigung“ ihrer Forderung nach der Todesstrafe für Kindermörder bezeichnete. Fast wie später RTL behauptete die NPD: „Offenbar wurde das Mädchen das Opfer eines Sexualverbrechens.“ Und ganz wie später implizit RTL machte die NPD sich selbst zum Sprachrohr der „berechtigten Empörung der Bürger“.

Ein Beitrag auf Indymedia schildert die Entwicklung am Donnerstag so:

Gegen 17 Uhr am Nachmittag sammelten sich im Leipziger Stadtteil Reudnitz mehrere Nazis des „Freien Netzes“ und meldeten eine Spontankundgebung an. Mit diversen schwarzen Fahnen, Fackeln und Transparenten des „Freien Netzes“ zogen bis gegen 19:30 Uhr bis zu 250 Nazis unter der Parole „Todesstrafe für Kinderschänder“ durch das Viertel. Trotz der Optik des Aufzugs und der Forderung nach der Todesstrafe schlossen sich rund 80 Anwohner der Demonstration an, zudem brachten sowohl Nazis als auch Anwohner nicht wenige Kinder mit zum Aufzug. Die Polizei begleitete die Demonstration mit mehreren Fahrzeugen.

Da aufgrund der tagesaktuellen Berichterstattung auch mehrere Kamerateams vor Ort waren, wurden Bilder des Aufmarschs auch im ZDF gezeigt. Zu sehen war der vordere Teil, inclusive der Forderung nach Todesstrafe auf Transparenten sowie dutzende Fackeln und Fahnen. Kommentiert wurde die Herkunft der Initiatoren mit „…nicht zuordenbaren Jugendlichen.“.

Die NPD beschreibt den Verlauf so:

So schaffte man es innerhalb kürzester Zeit eine Demonstration zu organisieren. In nicht einmal einer halben Stunde wurden Megaphone, Fahnen, Transparente und Fackeln organisiert, ein Ordnerdienst gebildet welcher sich eine Umfassende Strategie ausdachte um eine würdevolle Demonstration zu gewährleisten. Während die Polizei sich kooperativ zeigte, strömten immer mehr Menschen und Nationale Sozialisten auf den Platz vor der Schule. Die Beamten mussten die komplette Straße absperren, dass passieren der Straße wurde aufgrund der Menschenmenge unmöglich. Für jeden Teilnehmer war bekannt, wer die Demonstration angemeldet und organisiert hatte und dennoch blieb keiner Fern und keiner wurde ausgeschlossen. So entschied man sich auch politische Parolen, egal welcher Art zu unterlassen.

Nicht unwichtig ist in diesem Zusammenhang, dass der Onkel des ermordeten Mädchens Isztvan Repaczki ist — ein bekannter Aktivist der örtlichen Neonazi-Szene. (Das Nazi-Portal altermedia.info zeigt ihn im Gespräch mit einer RTL-Reporterin.) Das scheint eine Ursache für das große Engagement der NPD gewesen zu sein — und natürlich vor allem die Tatsache, dass die rechtsextremistische Szene, wie die „Südwest-Presse“ berichtet, „das Thema Kinderschändung für sich entdeckt“ habe: „Sie instrumentalisiert es gezielt.“

Im Bericht des rechtsextremen „Freien Netzes Leipzig“ liest sich das so:

Außer den etwa 200 nationalen Sozialisten beteiligten sich noch Hunderte Bürger an dem Gedenkzug. Bei einer kurzen Kundgebung sprach der Onkel der Mädels, selbst volkstreuer Aktivist, einige Worte zu den Anwesenden.

Als Deutscher unter Deutschen, sprach er davon, dass nur eine gesunde Volksgemeinschaft eine sichere Zukunft für unsere Kinder bieten kann. Kinder müssen wieder das höchste Gut unseres Volkes sein, ihr Schutz und ihr behütetes Aufwachsen muss zur heiligen Aufgabe aller deutschen Menschen werden. Kranke die sich an ihnen vergehen sind aus der Gemeinschaft zu entfernen da sie eine Gefahr für sie darstellen. Die moderne Hirnforschung hat bewiesen, dass das sexuelle Verlangen nach Kindern nicht heilbar ist, sondern eine Störung im Kleinhirn. Damit steht unwiderrufbar fest, dass es für diese Subjekte keine andere Strafe geben kann als die Todesstrafe. Im Knast liegen diese perversen dem schaffenden Volk nur auf der Tasche, und wenn sie frei herumlaufen sind sie eine tickende Zeitbombe.

Wer eine Ahnung davon bekommen will, was es bedeutet, wenn sich die kalkulierte Agenda der Neonazis und die ehrliche Erschütterung der Bürger treffen, mischen und hochschaukeln, muss lesen, was „Flohbude“ darüber schreibt, der dabei war:

Ein bulliger Mann trifft ein. Großes Hallo. Wüsste man sich nicht auf einer Demo anlässlich einer Kindstötung, könnte man dem Trugschluss erliegen, einer großen Familienfeier beizuwohnen. „Todesstrafe für Kinderschänder“ steht in großen Buchstaben auf der Heckscheibe seines BMW. Er übernimmt die Organisation. Keine zehn Minuten später: Ein gutes Dutzend schwarzer Fahnen am Anfang des Zuges. Schwarzgekleidete Jugendliche mit Sonnenbrillen und Handschuhen. Es werden die Auflagen der Stadt verlesen: Der Todesstrafen-Slogan ist nicht erwünscht, ebenso das Trinken von Alkohol und Rauchen. Gelächter.

Der Zug setzt sich in Bewegung. Von der Schule aus geht es ins Stötteritzer Wäldchen. Abgelaufen wird die Strecke, die wahrscheinlich Michelles letzter Weg war. Auch hier dauert es keine Viertelstunde, dann erschallt der Ruf nach Todesstrafe. Die gnadenlos unterbesetzte Polizei ist handlungsunfähig, kann gerade so den Verkehr regeln. Fackeln werden neben den schwarzen Fahnen entzündet. Die ursprünglichen Organisatoren erscheinen ratlos. Weder können sie sich erklären, woher die Fahnen kommen, noch wieso sechsmal so viele Menschen erschienen sind als geplant. Weiter hinten im Zug versucht man die Radikalforderungen der Vorderleute abzuschwächen: „Keine Gnade für Kinderschänder!“. Vergebens. (…)

Welch skurriler Anblick: Zwischen Transparenten mit der Aufschrift „Nationaler Sozialismus, jetzt!“ laufen Nachbarn, Supermarktmitarbeiter, ältere Leute. Ist ihnen Wohl bei der ganzen Sache? Wissen sie, wer vor und hinter ihnen läuft, mit wem sie sich in diesen zwei Stunden gemein machen? Ich mag nicht darüber urteilen, denn ein Befragen ist angesichts der Menge an Aufpassern zu riskant. (…)

Die Köpfe der Bewegung können sich auf eine breite Basis stützen. Sie sind in die Wohnstuben derer eingesickert, deren Selbstbild das des Verlierers ist, der sich aber trotz aller Benachteiligungen ein ordentliches Maß an Kampfgeist und Widerspruchsrecht bewahrt. Der alle Schuld beim “System” findet, bei „denen da oben“. Wenn es eine unausgesprochene, aber von jedem im Kopf mitgeführte Parole gibt, dann lautet sie „Wir sind denen doch egal!“. Man fühlt sich verlassen, nicht ernst genommen. Eine Forderung will, dass OBM Jung auf einer der kommenden Demos spricht. Geschickter Schachzug: Tut er es, sind die Fordernden ganz oben angekommen und können ihrer Folgschaft zeigen, zu was sie in der Lage sind. Spricht er nicht, ist das wieder willkommene Selbstbestätigung. „Gesinnungsentscheidung“ werden die einen dann märtyrern. „Da sieht man’s wieder: Egal!“, die anderen. Schlechte Menschen sehen dennoch anders aus. Wo der akademische Ignorant Bosheit vermuten mag, herrscht pure Ratlosigkeit. Nicht nur im Fall des Kindermordes. Es geht um die gesamte Situation einer hetrogenen Gruppe, die sich in einem System verliert, welches sie nicht auffangen kann. Alles mündet in den Willen des Geführtwerdens. Jede Alternative ist willkommen, so lange sie einfach begreifbar ist. Und die Führer stehen bereit.

(Filme von den Demonstrationen bei YouTube.)

[mit Dank an Torsten Schilling!]

Nachtrag, 19:50 Uhr. Das Online-Medienmagazin „Meedia“ zitiert einen RTL-Sprecher mit den Worten:

„Uns sind Fehler unterlaufen. Das ist ärgerlich und darf trotz des grossen Zeitdrucks unmittelbar vor der Sendung nicht passieren. Wir haben das zum Anlaß genommen, unsere diesbezüglichen Kontrollmechanismen noch einmal zu verschärfen.“

Die NPD in der „Torgauer Zeitung“ (2)

In der „Frankfurter Rundschau“ äußert sich die „Torgauer Zeitung“ zu der Frage, warum das Blatt (wie berichtet) eine Pressemitteilung der NPD unkommentiert, in voller, erstaunlicher Länge und inklusive des NSDAP-Kampfbegriffs „Systempartei“ abdruckte:

Chefredakteur Thomas Stöber räumt ein, dass eine redaktionelle Auseinandersetzung besser gewesen wäre: „Der Kollege hat das nicht ordentlich bearbeitet, weil ihm da der Einblick fehlt“, sagte er der FR. Der für die Rechtsextremen zuständige Redakteur war in Urlaub.

Stöber klagt zudem, dass ihm gute Leute und Geld fehlten.

Gegenüber dem „Störungsmelder“ der „Zeit“ schloss Stöber aus, die Pressemitteilung von der Internetseite seiner Zeitung zu entfernen: Schließlich würden auch die Pressemitteilungen anderer Parteien mitunter kommentarlos veröffentlicht.

Das ist die beste Begründung von allen. Im Klartext lautet sie: Wir arbeiten doch sonst auch nicht journalistisch, warum sollten wir es bei Neonazis tun?!

Die „Torgauer Zeitung“ ist eine Lokalausgabe der „Leipziger Volkszeitung“, die je zur Hälfte der Axel-Springer-AG und der Verlagsgesellschaft Madsack gehört. Madsack wiederum gehört zu gut einem Fünftel der SPD. Da sind ja alle staatstragenden Garanten für guten Journalismus zusammen.

Das NPD-Blog kommentiert die Sache ausführlicher.

Klarstellung, 27. August: Die „Torgauer Zeitung“ ist eine Regionalausgabe der „Leipziger Volkszeitung“, gehört ihr aber nur zu 24,9 Prozent.

Die NPD in der „Torgauer Zeitung“

Der Axel-Springer-Verlag hat bekanntlich vor der letzten Bundestagswahl beschlossen, dass keine seiner Zeitungen oder Zeitschriften Anzeigen der „Linken“ abdruckt. Es gebe Zweifel an der „Verfassungskonformität“, begründete der Verlag seinen Boykott, der „ein sachlicher Vorgang und nicht politisch motiviert“ sei.

Und damit zu einem ganz anderen Thema.

Am vergangenen Mittwoch gab der NPD-Landesverband Sachsen eine Pressemitteilung heraus, in dem der Kreisverband Nordsachsen die „Selbstbedienung“ der von der NPD so genannten „Systemparteien“ kritisierte. Und wie gingen die Journalisten der „Torgauer Zeitung“, einer Lokalausgabe der „Leipziger Volkszeitung“, die von der Axel-Springer-AG gemeinsam mit dem Madsack-Verlag herausgegeben wird, mit dieser Pressemitteilung um?

Sie veröffentlichten sie ungekürzt und im Wortlaut.

[via NPD-Blog, Stralau-Blog]

Klarstellung, 27. August: Die „Torgauer Zeitung“ ist eine Regionalausgabe der „Leipziger Volkszeitung“, gehört ihr aber nur zu 24,9 Prozent.

Wie es zum „NPD-Eklat“ kommen konnte

Was ist da heute passiert?

Ich glaube, der Hype um den angeblichen Nazi-Eklat im sächsischen Landtag, der heute kollektiv die deutschen Medien erfasste, ist ein Lehrstück dafür, welch beunruhigende Wirkung die Dominanz von „Spiegel Online“ als einsames Internet-Leitmedium entwickeln kann.

Eigene Recherche oder auch nur der Rückgriff auf vorhandenes Expertenwissen spielen im Alltag deutscher Online-Redaktionen kaum eine Rolle. Dort sitzen überwiegend Menschen, die nicht mehr tun, als am Fließband die unaufhörlich eintrudelnden Meldungen von Nachrichtenagenturen in Form zu bringen (besten- oder schlechtestenfalls ergänzt um blind aus „Bild“ übernommene Meldungen). Auf der Suche nach Orientierung tun sie das, was auch die meisten Leser machen: Sie schauen auf „Spiegel Online“ nach.

„Spiegel Online“ aber ist ein Boulevardmedium. Und das eigentliche Problem daran ist nicht, dass „Spiegel Online“ Boulevardgeschichten breiten Raum gibt. Sondern dass „Spiegel Online“ auch die anderen Themen nach den Regeln des Boulevard aufbereitet: Meldungen werden zugespitzt, Kleinigkeiten zu Sensationen hochgeschrieben, Themen personalisiert. Die Welt, wie sie ein „Spiegel Online“-Leser erlebt, ist hundertmal aufregender als die Welt, die tagesschau.de präsentiert. Im Minutentakt durchleben hier Politiker, Prominente und Wirtschaftsbosse persönliche Niederlagen und Triumphe; jagen einander Skandale und Eklats, historische Umfragetiefs und verheerende Katastrophen.

„Spiegel Online“ zeichnet sich nicht nur durch einen hohen Anteil von selbst geschriebenen Artikeln aus. Auch Agenturmeldungen bekommen den „Spiegel Online“-typischen erregten Tonfall und fast immer einen kommentierenden Drall.

So geschah es auch mit der dpa-Meldung von heute, 10:50 Uhr, die im Original so begann:

CDU-Politiker Stanislaw Tillich neuer Ministerpräsident in Sachsen

Dresden (dpa) — Der CDU-Politiker Stanislaw Tillich ist neuer Ministerpräsident des Landes Sachsen. Der 49-Jährige erhielt am Mittwoch im Landtag bereits im ersten Wahlgang die erforderliche Mehrheit. Tillich kam auf 66 von 121 möglichen Stimmen. Der Kandidat der rechtsextremen NPD, Johannes Müller, erhielt 11 Stimmen und damit 3 mehr als die Fraktion Sitze hat. (…)

Der letzte Satz war korrekt, aber irreführend, weil er die ehemaligen NPD-Fraktionsmitglieder außer acht ließ. Aber der dpa-Mann scheint keinen erhöhten Puls gehabt zu haben, als er die Meldung schrieb.

Anders als der „Spiegel Online“-Mensch, der aus der Meldung eine Eilmeldung machte und aus dem vielleicht wenig überraschenden Stimmverhalten einen „Eklat“. Um 10:55 Uhr erschien sein Artikel online.

Ich kann es nicht beweisen, aber ich glaube, dass es diese Vorgabe von „Spiegel Online“ war, die die Berichterstattung der anderen Medien so fatal beeinflusst hat. Das Wort „Eklat“ oder auch „Skandal“ zum Beispiel, das sie in so großer Zahl gewählt haben, taucht in Bezug auf die heutige Wahl in keiner Agenturmeldung auf.

Bezeichnend ist, wie sich die Berichterstattung auf „Welt Online“ veränderte. Der Artikel über die Wahl ging dort bereits um 10:54 Uhr online. Er enthielt die irreführende Formulierung: „Sein Gegenkandidat von der NPD war zwar chancenlos, aber er erhielt drei Stimmen mehr, als seine Fraktion groß ist. Woher die zusätzlichen Stimmen kamen, ist unklar.“ Aber die Überschrift lautete schlicht: „Tillich zum neuen Regierungschef gewählt“. Erst nachdem „Spiegel Online“ „Eklat“ rief, änderte „Welt Online“ die Überschrift zu: „NPD-Eklat bei Tillichs Wahl zum Regierungschef?“ (Inzwischen ist „Welt Online“ wieder zur ursprünglichen Überschrift zurückgerudert.)

Es kann natürlich sein, dass nicht jedes Medium, das die dpa-Meldung bekam, erst den Anstoß von „Spiegel Online“ brauchte, um daraus einen Eklat zu konstruieren. Die markante Art von „Spiegel Online“, Themen aufzubereiten, ist im deutschen Online-Journalismus fast zu einer Art Standard geworden — vermutlich greifen viele ganz alleine zu solchen Schlagworten. Das ist natürlich auch eine schlichte Konsequenz aus dem verschärften Wettbewerb im Internet: Im Zweifel gewinnt derjenige die Aufmerksamkeit und die Klicks der Leser, der aus einer Nachricht den größeren Skandal macht. Voraussetzung dafür war in diesem Fall allerdings, dass man ungefähr noch nie mit der Berichterstattung über den sächsischen Landtag zu tun hatte — sonst wäre der Denkfehler aufgefallen.

Jedenfalls nahm die Eklatomanie ihren Lauf, und möglicherweise war sie auch Schuld daran, dass um 12:24 Uhr ein besonders blöder Satz in eine dpa-Meldung geriet:

Gerätselt wurde, wer von CDU, SPD, FDP, Grünen oder der Linken für den Rechtsextremisten gestimmt hat.

Gut möglich, dass dpa-Korrespondent Jörg Schurig den Satz nicht selbst geschrieben hat, sondern er ihm von jemandem in der Zentrale hineinredigiert wurde, der beobachtet hatte, wie plötzlich tatsächlich von ahnungslosen Medien wie Bild.de genau das „gerätselt wurde“. Ein Indiz dafür ist auch, dass Schurig nur eine gute halbe Stunde später einen ausführlichen Korrespondentenbericht schickte, der die ganz und gar eklatfreie Überschrift „Neustart ohne Nebengeräusch“ trug und in dem es korrekt heißt:

Das Resultat des rechtsextremen Kandidaten Johannes Müller lag drei Stimmen über der Zahl der NPD-Mandate. Trotzdem wurde das [von der Regierungskoalition] als Randnotiz abgetan: Da die NPD nach Austritten und einem Rauswurf auf acht Sitze und damit zwei Drittel ihrer einstigen Stärke schrumpfte, gibt es im Landtag vier Fraktionslose mit unklarer Stimmungslage.

Die Kollegen von stern.de aber krempelten diesen Bericht — ich vermute, angesichts des Tonfalls der anderen Online-Medien — zu einem Artikel um, unter dem zwar noch der Name „Jörg Schurig“ stand, in dem aber plötzlich ebenfalls von einem „Eklat“ die Rede war, und davon, dass die NPD in Dresden „gepunktet“ habe.

„Spiegel Online“ hatte die übergeigte eigene Meldung zu diesem Zeitpunkt längst aufgegeben und sich dafür entschuldigt — aber die ursprüngliche Interpretation beherrschte noch die Berichterstattung und war nur mühsam aus der Welt zu bekommen. Um 14:39 Uhr gab dpa eine Meldung raus, in der der Satz „Gerätselt wurde, wer von CDU, SPD, FDP, Grünen oder der Linken für den Rechtsextremisten gestimmt hat“ explizit gestrichen wurde. Gleichzeitig veröffentlichte dpa eine neue, korrekte Zusammenfassung. (Die Agenturen AP und Reuters hatten um 12:35 Uhr bzw. 13:08 Uhr in längeren Meldungen ebenfalls auf die Ex-NPD’ler hingewiesen.)

So also funktioniert der Qualitätsjournalismus im Internet, von dem die Verlage so schwärmen: Ein Agenturkorrespondent, der sich nicht ganz klar ausdrückt, ein Online-Leitmedium, das im Schlagzeilen- und Klickrausch den größtmöglichen Verstärker mit Verzerrer einschaltet, und Dutzende Kopiermaschinen, die ohne Wissen, Recherche und jeden eigenen Gedanken hinterhertaumeln.

Ich glaube nicht, dass die Geschichte mit dem „NPD-Eklat“ ein Sonderfall war. Ich glaube, das passiert so ähnlich, nur viel weniger anschaulich, jeden Tag.

Der sächsische NPD-Eklat-Eklat

Glaubt man „Spiegel Online“ und „Welt Online“, ist heute etwas Schlimmes im Sächsischen Landtag passiert:

Tja, von welcher anderen Partei mögen wohl die Stimmen für den NPD-Kandidaten gekommen sein? Ich weiß es auch nicht, hätte aber einen Verdacht: Für die NPD sind vor dreieinhalb Jahren nicht acht, sondern zwölf Abgeordnete in den Landtag eingezogen; vier davon schieden später teils freiwillig, teils unfreiwillig aus der NPD-Fraktion aus und sind jetzt fraktionslos.

Den Gedanken, dass drei Abgeordnete, die für die NPD in den Landtag gezogen sind, für einen Ministerpräsidentenkandidaten der NPD stimmen, finde ich sehr, sehr uneklatiös.

Aber jede Wette, dass die „Eklat“-Artikel um ein vielfaches häufiger geklickt werden als alle Nicht-„Eklat“-Berichte über die Wahl. Ahnungslosigkeit und Lautstärke — eine Erfolgskombination im Online-Journalismus.

[mit Dank an Martin]

Nachtrag, 12.39 Uhr. Bei „Spiegel Online“ ist von einem Eklat nicht mehr die Rede:
Anm. d Red.: In der ursprünglichen Fassung dieses Artikels war in der Überschrift von einem "Eklat" bei der Wahl Tillichs zum sächsischen Regierungschef die Rede. Dies bezog sich auf die Anzahl der Stimmen für den NPD-Kandidaten Müller. Die Redaktion hat dabei nicht bedacht, dass mehrere frühere NPD-Abgeordnete inzwischen als Unabhängige im Landtag sitzen, die möglicherweise bei der geheimen Wahl für Müller votiert haben. Wir bitten um Entschuldigung.

Nachtrag, 13.00 Uhr. Bild.de, natürlich:

Und wie gerne würde ich in solchen Fällen auf tagesschau.de und heute.de als positive Gegenbeispiele verweisen können. Keine Chance:

Nachtrag, 13.19 Uhr. Die „taz“ weiß es auch nicht besser:
Pseudo-Demokraten stimmen für NPD. Entsetzen über die Ministerpräsidenten-Wahl in Sachsen: Der NPD-Kandidat erhielt drei Stimmen mehr als die Fraktion Sitze hat. CDU-Politiker Tillich ist erwartungsgemäß neuer Landeschef. ... Doch es gibt noch eine andere Nachricht: Der Kandidat der rechtsextremen NPD, Johannes Müller, erhielt 11 Stimmen und damit 3 mehr als die Fraktion Sitze hat. Das heißt: Er wurde er von mindestens drei Abgeordneten einer demokratischen Partei gewählt. Es ist nicht das erste Mal, dass ein rechtsextremer Kandidat bei einer Ministerpräsidentenwahl in Sachsen mehr Stimmen bekommt, als seine Partei im Landtag über Mandate verfügt.

Nachtrag, 13:40 Uhr. Stern.de kommt spät, aber darum nicht weniger falsch. Im Gegenteil:

NPD punktet in Sachsen. Ein Erfolg der rechtsextremen NPD überschattet die Wahl des CDU-Politikers Stanislaw Tillich zum neuen sächsischen Ministerpräsidenten. Drei Abgeordnete der anderen Parteien haben für den NPD-Gegenkandidaten gestimmt. Schon bei der Wahl von Tillichs Vorgänger war es zu einem ähnlichen Eklat gekommen. Die rechtsextreme NPD hat bei der Wahl des sächsischen Ministerpräsidenten unverhofft einen Erfolg verzeichnen können: Ihr Kandidat wurde zwar nicht zum Regierungschef gekürt, erhielt aber mit elf Stimmen drei mehr als die Fraktion Sitze hat. Demnach haben mindestens drei Abgeordnete der anderen Parteien - im sächsischen Landtag vertreten sind noch die CDU, die SPD, die Linkspartei und die Grünen - für den rechtsextremen Kandidaten Johannes Müller gestimmt. Neu ist dieses Wahlverhalten in Sachsen allerdings nicht. Bei der Wahl von Georg Milbradt (CDU) im Herbst 2004 hatte der Bewerber der rechtsextremen NPD zwei Stimmen mehr erhalten als die Partei Mandate besaß.

Nachtrag, 14:10 Uhr. Und so profiliert sich das „Hamburger Abendblatt“:

Nachtrag, 14:55 Uhr. Wie konnte ich vergesse, bei meinen Freunden von der Netzeitung vorbeizuschauen?
Eklat im sächsischen Landtag: NPD-Kandidat unerwartet beliebt

Nachtrag, 15:10 Uhr. stern.de hat den Artikel geändert und zeitweise folgende Erklärung hinzugefügt:

Korrektur: Liebe Leser, in einem Artikel zur Wahl des sächsischen Ministerpräsidenten haben wir ursprünglich behauptet, dass die rechtsextreme NPD bei der Wahl des Ministerpräsidenten einen Überraschungserfolg verbuchen konnte, weil ihr Kandidat drei Stimmen mehr erhalten hat, als die NPD-Fraktion Mitglieder hat. Diesen Sachverhalt haben wir auch in die Überschrift genommen. Die Meldung erschien uns wichtig, weil das auf den ersten Blick zu bedeuten schien, dass Abgeordnete aus anderen Parteien sich für den rechtsextremen NPD-Kandidaten entschieden haben. Erst nachträglich haben wir bemerkt, dass es im sächsischen Landtag vier Fraktionslose gibt, die früher der NPD-Fraktion angehörten. Insofern liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei den Stimmen für den NPD-Kandidaten nicht um Stimmen von Abgeordneten aus anderen Parteien handelt, sondern die Stimmen von diesen Fraktionslosen kommen. Wir haben die Ausrichtung des Artikels deshalb nachträglich geändert. Für die unsaubere Darstellung bitten wir um Entschuldigung. Stern.de.

Inzwischen ist diese Erklärung aber wieder entfernt worden.

Nachtrag, 15.55 Uhr. Nun ist sie wieder da.