Schlagwort: Paul Jandl

Mit Googles Riesenfröschen durch Raum & Zeit

Kann es sein, dass es einen heimlichen Journalistenwettbewerb um den abwegigsten Zeitungsartikel über Google Street View gibt? Falls ja, ist die „Welt“ am vergangenen Samstag uneinholbar in Führung gegangen.

Feuilletonkorrespondent Paul Jandl hat etwas entdeckt, das Google Street View noch kaputt macht (außer allem anderen): die Literatur. Nämlich dadurch, dass man sich jetzt die realen Schauplätze großer Romane einfach im Internet angucken kann und dabei feststellt, dass es sich in Wirklichkeit um schnöde Orte handelt.

Montauk, zum Beispiel, ist auf Street View nur ein Ort, „Montauk“ bei Max Frisch hingegen ein Sehnsuchtsort. Jandl schreibt:

Die autobiografische Erzählung ist Literatur mit Schauplatz. Google ist bloßer Schauplatz. Ohne Aura, reine Plattheit! Will man rufen und Datenschutz fordern.

Ich will rufen: Was haben Sie denn gedacht? Das eine ist ein realer Ort, das andere seine literarische Überhöhung. Wäre beides dasselbe, würden die Menschen Ansichtskarten sammeln statt Bücher zu lesen. Und wenn Sie das nicht sehen wollen, will ich weiter rufen, wenn Sie sich das Bild von Montauk bewahren wollen, das Max Frisch in Ihnen geweckt hat, dann gehen Sie doch einfach nicht auf Google Street View, statt es gleich verbieten zu wollen.

Vielleicht ist Paul Jandl jemand, der abends verzweifelt zu seiner Frau sagt: „Verdammt, Schatz, Bauer hat einen neuen Fruchtjoghurt mit Kirsch-Kiwi-Geschmack rausgebracht, jetzt muss ich den auch noch essen.“ Vielleicht macht er den Kurzschluss aber auch nur im Internet, dass er jedes neue Angebot nicht als Angebot, sondern als Pflicht wahrnimmt.

Jandl meint ernsthaft, dass Google Street View nicht nur den Literaturgenuss von ihm, den Zwangs-Google-Street-View-Nutzer, bedroht, sondern die Literatur an sich. Er schreibt: „Solange der Streit um Street View dauert, ist die Literatur noch halbwegs aus dem Schneider.“ Und dann formuliert er diesen Satz:

(…) die topografische Wahrheit des Unternehmens Google Street View ist auch ein Eingriff in die Privatsphäre der Literatur.

Das ist in einem Maße prätentiöser Unsinn, in sprachlicher wie in logischer Hinsicht, dass es schwer fällt, sich damit überhaupt auseinanderzusetzen, weshalb ich einfach darauf verzichte.

Jandl fährt fort:

Will der Leser denn wirklich wissen, wie die Froschperspektive der Google-Kameras Joyces Dublin sieht?

Gute Frage, deren Antwort vermutlich seine ganze Kolumne überflüssig machen würde. Andere Frage: Wo fände der Leser, der Joyces Dublin sehen wollte, auf Google Street View Aufnahmen der irischen Stadt von der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts? Und was ist das für ein drei Meter großer Frosch?

Am Ende kommt Marcel Proust zu Wort:

„Hätten meine Eltern mir erlaubt, den Schauplatz eines Buches, das ich las, selber aufzusuchen, so hätte das meiner Meinung nach einen unschätzbaren Fortschritt in der Eroberung der Wahrheit bedeutet.“

Warum Jandl diesen Satz zitiert, ist unklar, denn dem „Welt“-Journalisten geht es ja nicht um die Eroberung der Wahrheit, sondern die Bewahrung der Fiktion. Aber Proust war, wenn ich Jandl richtig verstehe, ein glücklicher Mensch, weil er in einer Zeit lebte, als es das noch nicht gab, was er sich wünschte. Er wusste nicht, „was auf die Welt noch zukommt“.

Und aus der „Welt“, möchte ich hinzufügen.