Schlagwort: Qualitätsjournalismus

Effizienter arbeiten mit der WAZ

Lustig, die Kollegen von der Westdeutschen Allgemeinen. Aber gut, wenn ein Journalist das Thema schon mal so schön aufgeschrieben hat, muss man sich ja nicht selber nochmal unnötig verausgaben.

Meine Lieblingsstelle ist die, wo die Kollegin, die einen Artikel von Peer offenbar mit recht großer Selbstverständlichkeit recycelt hat, ihm hinterher in der Mail schreibt: „Mir wäre es ganz lieb, wenn wir vorerst umständliche Briefwechsel vermeiden könnten.“

„Frischer Fisch und Sonnenwonne“

Darf ich mir etwas wünschen?

Könnte, wenn das nächste Mal Mathias Müller von Blumencron oder ein anderer „Spiegel Online“-Vertreter auf irgendeinem Podium sitzen und über Qualitätsjournalismus im Internet sprechen, jemand bitte diesen „Spiegel Online“-Artikel dabei haben, der ausschließlich daraus besteht, zu berichten, dass Angela Merkel auf dem Weg in den Osterurlaub „wie jeder normale Tourist am Hafen ein Ticket für ein Tragflügelboot bezahlt und in 45 Minuten nach Ischia übergesetzt“ habe und am nächsten Tag „frischen Fisch gekauft und anschließend mit ihrem Mann Kaffee getrunken habe“, inklusive einer siebenteiligen Fotoserie, die genau das zeigt — übrigens, wie ich sagen würde, zur „bloßen Befriedigung von Neugier“?

Je nachdem, wie hoch das Ross war, auf das sich Müller von Blumencron oder einer seiner Vertreter vorher gesetzt haben, würde ich mir dann noch Gelächter wünschen, aber das ist optional.

Qualitätsmedien im Netz, Folge 3272

Vor ein paar Tagen habe ich den Chef von sueddeutsche.de Hans-Jürgen Jakobs gefragt, wie seine Redaktion mit „Bild“ als Nachrichtenquelle umgeht. Antworten ist er mir schuldig geblieben. Das von ihm geleitete Online-Angebot gibt sie auch so.

Am späten Donnerstag unserer Zeit zitiert die amerikanische Nachrichtenagentur AP exklusiv und ausführlich aus den Tagebüchern von Anna Nicole Smith. Am Freitagnachmittag berichtet die deutsche Nachrichtenagentur dpa ebenfalls ausführlich und mit vielen Zitaten über den Inhalt der Bücher. Am Samstagmorgen bringt „Bild“ einen größeren Artikel, der keine exklusiven Information enthält, über den Inhalt der Tagebücher. Am Samstagmittag meldet die französische Agentur AFP, dass die „Bild“-Zeitung aus dem Tagebuch von Anna Nicole Smith zitiere. Eine Stunde später berichtet sueddeutsche.de über den Inhalt der Tagebücher von Anna Nicole Smith.

Also: sueddeutsche.de zitiert die Agentur AFP, die „Bild“ zitiert, die die Agentur AP zitiert, die aus den Tagebüchern zitiert.

Erstaunlicherweise scheinen sich diesmal bei dem Stille-Post-Spiel keine Fehler eingeschlichen zu haben. Aber vielleicht könnte jemand den Qualitätsjournalisten von sueddeutsche.de den Tipp geben, dass es in Deutschland gar keine Pflicht gibt, ein Boulevardthema erst dann aufzugreifen, nachdem „Bild“ darüber berichtet hat. Und dass es in Zeiten des „Zukunftsmediums“ Internet möglich ist, sich ohne den Umweg über mehrere Agenturen und eine unzuverlässige Boulevardzeitung über solche Dinge zu informieren.

Qualitätsmedien im Netz, Folge 3271

Gelegentlich wird BILDblog ja vorgeworfen, unsere Arbeit sei schon deshalb unsinnig, weil die meisten Leser eh nicht glaubten, was in der „Bild“-Zeitung steht. Interessanterweise aber glauben Journalisten, was in der „Bild“-Zeitung steht. Tag für Tag übernehmen sie „Bild“-Meldungen ungeprüft in ihre eigenen Medien — nicht nur in den Redaktionen der Boulevardmagazine im Fernsehen, auch bei vermeintlich seriösen Medien und deren Online-Ablegern.

Am vergangenen Wochenende fielen sie reihenweise auf das „Bild“-Märchen von Angelina Jolies „Schock-Beichte“ herein, mit dem das Blatt groß aufmachte.

Zum Beispiel das Online-Angebot von der „Rheinischen Post“. Nach meiner Wahrnehmung bestückt kaum ein anderer Online-Ableger sein Angebot so konsequent mit selbst umgeschriebenen „Bild“-Meldungen, was natürlich damit zusammenhängen könnte, dass sowohl Zeitungs- als auch Online-Chef von „Bild“ kommen. Jedenfalls hieß es auf „RP Online“:

Angelina Jolies schockierende Sex-Beichte

Sie gehört zu den schönsten Frauen Hollywoods aber auch zu den exzentrischtsten. Angelina Jolie ist Schauspielerin, Mutter und Femme fatale zu gleich. Jetzt geht die 31-Jährige mit einem intimen Buch an die Öffentlichkeit und gesteht: „Ich wollte eine Frau heiraten!“ (…)

Das ist Quark und (mal ganz abgesehen von den sprachlichen Schwächen) sogar noch falscher als die „Bild“-Geschichte. „Bild“ hatte nämlich nur geschickt suggeriert, das Buch sei von Angelina Jolie selbst. Inzwischen glaubt anscheinend auch „RP Online“ nicht mehr an die Richtigkeit des eigenen und des „Bild“-Artikels:

„Spiegel Online“ konnte ebenfalls nicht widerstehen, verbreitete den Unsinn von „Bild“ ebenfalls weiter — und nannte das aus alten Zitaten zusammengequirlte Buch entsprechend schon in der Dachmarke ein „ENTHÜLLUNGSBUCH“. Bei „Spiegel Online“ ist der Artikel auch heute noch online, aber in einer leicht veränderten Version. Der ursprüngliche Satz „In wenigen Tagen kommt die Biographie der schönen Schauspielerin in Deutschland auf den Markt“, bekam den Nebensatz: „die allerdings nicht autorisiert ist.“

Hm. Sah es zwischenzeitlich nicht mal so aus, als würde „Spiegel Online“ solche nachträglichen Korrekturen kenntlich machen? Oder gilt das nicht für Verschlimmbesserungen — denn um die Frage der Autorisierung geht es eigentlich gar nicht. Die Zitate, die „Bild“ aus dem Buch bringt, kommen teilweise durchaus aus respektablen Quellen, sind also vermutlich auch autorisiert, aber eben schon viele Jahre alt. Was will uns „Spiegel Online“ also mit dieser Änderung sagen? Auf eine Anfrage an „Spiegel Online“-Chef Mathias Müller von Blumencron habe ich leider keine Antwort erhalten.

Geantwortet hat mir aber Hans-Jürgen Jakobs, Chef von sueddeutsche.de. Der Internet-Auftritt der „Süddeutschen Zeitung“ hatte, wie „RP Online“, die „Bild“-Fehler noch verschärft:

Nachdem BILDblog über den Fall berichtet hatte, wurden ein paar merkwürdige Sätze in den Text redigiert, die (wie bei „Spiegel Online“) am Kern vorbeigingen:

Bei diesem Buch handelt es sich um eine unautorisierte Biographie. (…) Aber wie gesagt: Das Buch „Angelina Jolie“ zitiert Angelina Jolie rauf und runter, aber Angelina Jolie selber hat dieses Buch nie autorisiert.

Am Dienstagnachmittag teilte mir Jakobs auf meine grundsätzlichen Fragen zum Umgang mit „Bild“ folgendes mit:

Gibt es bei sueddeutsche.de Regeln für den Umgang mit Quellen im Allgemeinen und „Bild“ im Besonderen?

Der Umgang mit Quellen unterscheidet sich bei sde nicht von den Prinzipien der Süddeutschen Zeitung oder anderer etablierter Medien. In der Regel werden Nachrichten mit Quellenangaben zitiert, wie auch in dem von Ihnen betrachteten Fall.

Gelten vermeintliche „Bild“-Exklusiv-Meldungen bei sueddeutsche.de grundsätzlich als vertrauenswürdig? Und sogar so vertrauenswürdig, dass die Redakteure auf eine Plausibilitäts-Kontrolle durch eine kurze Google-Suche verzichten können?

Die Meldung beruhte auf einer „Bild“-Geschichte, die am Samstag erschien. Am Wochenende sind in der Regel die Personenen aus den Ressorts Panorama und Leben & Stil nicht im Büro. Zu einer gesonderten Überprüfung kam es in diesem speziellen Fall nicht. Die sde-Seite, auf die BildBlog zunächst verlinkt hat, ist längst gelöscht.

Ich kann mich ja irren, aber ich habe das Gefühl, Herr Jakobs hat zwar meine Mail, aber nicht meine Fragen beantwortet.

Tatsächlich erhält aber, wer den Angelina-Jolie-Artikel auf sueddeutsche.de aufruft, nun dies:

Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil sich unter dem Artikel eine lange, heftige und teilweise kontroverse Diskussion entwickelt hatte:

Mehrere Dutzend Leserkommentare sind nun, zusammen mit dem Artikel, gelöscht worden. Wenn diese Kommentare ein Mittel sein sollen, um Leser zu binden, und wenn Hans-Jürgen Jakobs beim Relaunch von sueddeutsche.de einen „verstärkten Dialog mit den Lesern“ ankündigte: Wie wirkt das eigentlich auf Leser, wenn eine Diskussion, an der sie sich beteiligt haben, und ihr Gegenstand ohne Erklärung von einer Minute auf die andere verschwindet?

Und: Woran erkennt man nochmal ein Qualitätsmedium im Netz? An seinem Umgang mit zweifelhaften Nachrichtenquellen? An der Transparenz, wie es mit eigenen Fehlern umgeht? An seinem Umgang mit Leserkommentaren? Oder doch nur daran, dass es sich für etwas Besseres hält?

Fehlende Reflexe

Vorgestern schreibt der ehemalige Microsoft-Blogger Robert Scoble in seinem Blog „Scobleizer“:

Microsoft’s Internet execution sucks (on whole). Its search sucks. Its advertising sucks (…).

Die britische „Sunday Times“ findet das bemerkenswert und schreibt heute einen Artikel darüber („‚Microsoft sucks‘, says top blogger“).

Ein Redakteur aus dem „Multimedia“-Ressort von „Spiegel Online“ liest den „Sunday Times“-Artikel, findet die Geschichte ebenfalls bemerkenswert, schreibt ebenfalls einen Artikel darüber („‚Microsoft sucks‘ — Top-Blogger rechnet mit Microsoft ab“) — kommt aber offenbar nicht auf die Idee, dass er durch eine schlichte Google-Suche das entsprechende Blog und den entsprechenden Eintrag finden könnte.

Stattdessen verlässt er sich ausschließlich auf die Sekundärquelle und schreibt:

„Microsofts Internet-Anwendungen, die Suche und die Werbung sind Mist“, erklärte Scoble nach Angaben der „Sunday Times“.
(Hervorhebung von mir.)

Himmel! Wenn heute noch selbst ein fürs Internet zuständiger Redakteur eines Internet-Mediums nicht reflexartig in einem solchen Fall die Originalquelle aufsucht und sich dort ein eigenes Bild macht (geschweige denn, sie für seine Leser gleich zu verlinken) und nicht einmal merkt, wie absurd es ist, eine Zeitung als Quelle für den Inhalt eines Blogs (!) anzugeben, wie viele Jahre mag es noch dauern, bis es die breite Masse der Kollegen begreift?

Nachtrag. „Spiegel Online“ hat inzwischen den Verweis auf die Zeitung entfernt und verlinkt direkt auf das Blog. Dort können sich die Leser ja dann direkt davon überzeugen, dass Scoble gar nicht meint, dass Microsoft insgesamt saugt, wie „Spiegel Online“ und „Sunday Times“ in ihren Überschriften behaupten.

Wiederholungstäter IV

Gast in der heutigen Folge unserer beliebten Serie „Die Qualitätspresse schreibt über Blogs“: die Zeitschrift „Tomorrow“ („Enjoy digital life!“).

In der aktuellen Ausgabe (4/07) schafft es Autorin Ernestine von der Osten-Sacken, sich in ihrem Artikel über Blogs im Gegensatz zu anderen Medien bei den Besucherzahlen nur um den Faktor zehn statt dreißig zu verrechnen, überrascht dafür aber mit neuen Fehlern:

(via thiema.com)

Heute schon Zugangsdaten mitgeschnitten?

Andererseits: Was soll man erwarten von einer Seite wie sueddeutsche.de, die ihren Lesern in einem (gemeinsam mit Langenscheidt veröffentlichten) Internetlexikon den Begriff Weblog allen Ernstes so erklärt:

Website mit nicht kommerziellem Inhalt und personalisierter Information, die regelmäßig mit Informationen zu einem bestimmten Thema aktualisiert wird. (…) Der Name ist dabei Programm und kommt von den Logfiles, in denen ein Webserver Zugangsdaten mitschneidet (…).

Wiederholungstäter III

Oktober 2006. Die „Frankfurter Rundschau“ schreibt über Blogs — und verwechselt Monate mit Tagen. Zwei Wochen später macht derselbe Autor denselben Fehler noch einmal.

Dezember 2006. „Jetzt.de“ schreibt über Blogs — und verwechselt Monate mit Tagen. Als er von den Lesern in den Kommentaren auf seinen Fehler hingewiesen wird, wiederholt der Autor ihn pampig. (Der Artikel ist bis heute nicht korrigiert.)

März 2007. Die „Fach“-Zeitschrift „werben & verkaufen“ schreibt über Blogs — und verwechselt Monate mit Tagen.

Es muss eine Berufskrankheit sein. Journalisten können nicht über Blogs schreiben, ohne sie um den Faktor 30 zu klein zu machen. Der neueste Fall trägt die Überschrift „Das Ende des Blogging-Wahns“ — und natürlich hätte man da schon aufhören sollen zu lesen.

Nachdem ich es trotzdem getan habe, hätte ich so einige Fragen an den Autor Gregor Fuchs. Zum Beispiel, was er mit seiner gleich zweimal gebrauchten kryptischen Formulierung meint, diese oder jene Firmen hätten „so etwas wie einen Blog“. Vielleicht wäre ich nach Ansehen der entsprechenden Seiten schlauer, wie Blog-ähnlich sie sind. Aber dazu müsste ich jede einzelne mühsam recherchieren. sueddeutsche.de hat es geschafft, den „w&v“-Artikel über das Internet im Internet zu veröffentlichen, ohne einen einzigen Link zu setzen.

Fuchs beruft sich auf die Blogstudie der Universität Leipzig und schreibt:

Nur gut ein Viertel (26,4 Prozent) aller Teilnehmer gab an, den Inhalten von Corporate Blogs zu trauen.

Im Gegenteil: Nur gut ein Viertel gab an, ihnen nicht zu trauen.

Und schließlich behaupten w&v bzw. sueddeutsche.de über das Schlämmerblog:

Die von der Agentur Tribal DDB betreute Site kommt pro Monat auf vergleichsweise hohe 25000 Nutzer …

Nein, nicht pro Monat. Pro Tag.

Journalisten verrechnen sich, was Blogs angeht. In jeder Hinsicht.

Finale Journalisten-Fantasien

Die Jugendlichen, die ein Ehepaar in Tessin auf brutale Art getötet haben sollen, haben sich also vor der Tat anscheinend den Film „Final Fantasy VII — Advent Children“ angesehen.

Einen Trailer kann man sich hier (.mov) ansehen. [Nachtrag: Die Filmfreunde haben eine ausführliche Kritik.] Es scheint alles andere als ein friedlich-harmonischer Film zu sein. Andererseits schreiben uns BILDblog-Leser, die ihn gesehen haben, dass kein Blut fließe, niemand mit einem Schwert niedergemetzelt werde und die Gesamtzahl der Toten etwa vier betrage. Der Film ist in Deutschland ab 12 Jahren freigegeben, in den USA (wegen „intensiver Science-Fiction-Action-Gewalt“) ab 13, in Großbritannien (wegen „milder Fantasy-Gewalt“) de facto ab 8.

Das ist doch interessant: Wenn ein Film, der harmlos genug ist, um von Zwölfjährigen gesehen zu werden, dazu taugt, zwei Jugendlichen irgendwie als Vorlage für eine grauenhafte Gewalttat zu dienen — deutet das nicht darauf hin, dass nicht die Filme Menschen gewalttätig machen, sondern gewalttätige Menschen sich irgendwo die Vorlagen für ihre Gewalt suchen? Und sie sogar dort finden, wo andere Menschen nur mehr oder weniger harmlose Inhalte sehen?

Ohne den naheliegenden Fehler zu begehen, von diesem Einzelfall auf alle zu schließen, scheint er doch ein interessantes Beispiel zu sein, um die Debatte um die Wirkung von Gewaltdarstellungen in Filmen und Computerspielen zu versachlichen. Und von den simplen, falschen Kausalitäten wegzukommen.

Aber was machen die Medien? Sie verhindern diese Versachlichung der Diskussion schon dadurch, dass sie diesen Film nun reflexartig einen „Gewaltfilm“ nennen, so wie sie vorher das Computer-Rollenspiel „Final Fantasy VII“ (ebenfalls frei ab 12) als „Killerspiel“ bezeichneten. Die Nachrichtenagentur dpa schreibt:

Den seit Tagen diskutierten Zusammenhang der Tat mit Gewaltfilmen und Computerspielen bekräftigte die 15-jährige Geisel, die in „Stern TV“ von den Geschehnissen am Tatabend berichtete: Die beiden Jungen hätten zunächst im Haus von Felix den Gewaltfilm „Final Fantasy“ angesehen. Sie seien auch von dem dazugehörenden Computerspiel begeistert gewesen.

Die Nachrichtenagentur AP berichtet unter der Überschrift:

Jugendliche sahen vor Tessiner Bluttat Gewaltvideo

Und am Mittwoch abend behauptet dpa:

Die Hinweise verdichten sich den Erkenntnissen nach, dass sich die beiden 17-Jährigen bei ihrer Tat von „Final Fantasy“ leiten ließen, von dem es auch eine Computerspiel-Variante gibt.

Bei n-tv.de scheint immerhin jemand noch soviel Verstand gehabt zu haben, die Überschrift „Gewaltvideo ‚Final Fantasy‘ wird Wirklichkeit“ nachträglich abzuschwächen.

Wenn schon keiner der Kollegen in die Videothek geht, um sich diesen verdammten Film einmal selbst anzusehen (ich ja auch nicht) — könnten sie nicht wenigstens stutzen, wenn sie die Überschrift „Schüler sahen vor Tötung Gewalt-Video an“ über einen Artikel setzen, in dem es heißt: „Das Video ist bereits für Zwölfjährige freigegeben“?

Manchmal denke ich wirklich, es ist hoffnungslos mit den Journalisten.

„Come on reader, make my day“

Es war der Vormittag des 28. Dezember 2006, und Toby Harnden, USA-Chef der britischen Zeitung „Daily Telegraph“, saß in seinem Büro in Washington und hatte ein Problem. Die Hinrichtung Saddam Husseins schien unmittelbar bevorzustehen, aber was auch unmittelbar bevorstand, war der Redaktionsschluss der Zeitung. Das Interesse der Menschen, etwas über das Geschehen in Bagdad zu erfahren, würde am nächsten Morgen vermutlich riesengroß sein, und der „Daily Telegraph“ fand, dass dieses Geschehen deshalb in der Zeitung nicht fehlen durfte. Aber da es zuvor bereits Dutzende Hinrichtungen gegeben hatte und Iraker und Amerikaner die Journalisten über den Ablauf informiert hatten, dachte Harnden, er könnte vorab ein fundiertes Stück schreiben, was wohl geschehen werde. Bzw., aus Sicht der Leser, was wohl geschehen ist.

Es war keine gute Entscheidung.

Harndens Stück erschien am 29. Dezember und beschrieb höchst detailliert die Hinrichtung, die es hätte werden sollen. Der Artikel [zu lesen hier in den Kommentaren] machte an verschiedenen Stellen deutlich, dass er vor dem tatsächlichen Geschehen geschrieben wurde. Doch das minderte seine Peinlichkeit nur minimal, als sich herausstellte, wie sehr die tatsächliche Prozedur von der theoretischen abwich. Die Zeitung hatte für den Artikel zudem ausgerechnet die Überschrift „Humiliated and hooded…“ gewählt, so dass einer der vielen Fehler auch noch herausstach (Saddam trug keine Maske) .

Nun lässt der „Daily Telegraph“ in seinem Internetangebot eine Reihe von Kolumnisten und Korrespondenten bloggen, und Harnden nutzte sein Blog, um die Geschichte hinter dieser Geschichte zu erzählen. Er antwortete dort einem Kritiker, der ihm eine heftige Beschwerde-E-Mail geschrieben hatte:

You’re right that writing about Saddam’s hanging before it happened was not my finest hour. It was one of those tricky journalistic challenges when no matter how much you hedge and speculate, the reality will always mischievously diverge from the finely-turned piece one filed.

Er begründete die Idee, die Hinrichtung zu beschreiben, bevor sie überhaupt stattgefunden hatte, mit dem Leser-Interesse gerade an den makaberen Details der Prozedur. Er beschrieb die Überlegungen in der Redaktion und erklärte das Geschehen mit der Schwierigkeit der „alten Medien“ mit ihren feststehenden Deadlines und den Komplikationen, über verschiedene Zeitzonen zu schreiben.

Harndens Erklärungen waren nicht immer überzeugend und warfen kein gutes Licht auf die faulen Kompromisse, die die Print-Journalisten bereit waren einzugehen, um den Nachteil des frühen Redaktionsschlusses zu verschleiern. Aber sie waren beeindruckend offen und transparent – einem Blog angemessen.

Diese Offenheit zahlte sich nicht aus. In Dutzenden Kommentaren wurde Harnden teils heftig beschimpft. Am Donnerstag wurde es dem „Daily Telegraph“ wohl zuviel mit der Transparenz – er entfernte den Eintrag mitsamt den Kommentaren ohne Erklärung von der Seite. Ein Sprecher der Zeitung sagte später, dies sei aus „rechtlichen Gründen“ geschehen.

Und der „Telegraph“ beließ es nicht dabei. Seine Blogger sollen nach einem Bericht des „Guardian“ nun nicht mehr über die Zeitung selbst oder Kunstgriffe und Praktiken der Branche schreiben und ihre Einträge vor der Veröffentlichung von einem Redakteur gegenchecken lassen.

Der „Telegraph“-Online-Nachrichtenchef Shane Richmond teilte seinen bloggenden Kollegen mit, dass Beschimpfungen des Bloggers oder von Lesern nicht mehr geduldet würden, und riet ihnen, auf solche ausfälligen Leser auch nicht in den Kommentaren einzugehen. Vor allem aber warnte er sie:

Please avoid blogging about your relationship with your employer, whether the Telegraph Media Group as an entity, ‚the desk‘ or ‚my boss‘, even in jest. Such comments are frequently misconstrued and can easily backfire.

Think carefully before blogging about journalistic ‚tricks of the trade‘. We don’t want to discourage this because it is one of the things people enjoy reading on the blogs but please be aware of anything that could be misunderstood or turned against you.

In seinem ursprünglichen Eintrag [zu finden hier unter den Kommentaren] hatte Harnden noch unter der Überschrift „Come on reader, make my day“ geschrieben, er könne mit dem heftigen, direkten Feedback der Leser in der heutigen Zeit umgehen. Seine Zeitung kann es offenkundig nicht. Und sie lässt ihn nicht einmal mehr das Dilemma selbst thematisieren.