Schlagwort: Ralph Siegel

Time to say goodbye

Lettland gewinnt den Grand Prix, und Deutschland muß sich nach dem 21. Platz etwas Neues überlegen.

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TALLINN, 26. Mai. Ein Radioreporter schaffte es, die ganze Verzweiflung in eine Frage zu stecken. „Was ist los in Europa, daß ihr kleinen Länder immer gewinnt“, fragte er die siegreiche Lettin. „Was machen wir Deutschen falsch?“ Und Marija Naumova hatte eine erstaunlich konkrete Antwort: „Ihr müßt Wärme ausstrahlen. Ihr müßt auf die Bühne gehen und vergessen, was ihr macht, vergessen, daß ihr Deutsche seid, den ersten Platz vergessen und einfach eine warmherzige Show abliefern.“

Wer sagt noch, der Song Contest sei eine bedeutungslose Veranstaltung? Im vergangenen Jahr bot der deutsche Vorentscheid die Bühne für die öffentliche Hinrichtung der Medienfigur „Zlatko“, in diesem Jahr war das Finale der Rahmen für die endgültige Demontage des Mythos Ralph Siegel. Wenn er es an diesem Samstag nicht gemerkt hat, wird er es nie merken. Diesmal hat ihm die gesamte europäische Fernsehgemeinde mitgeteilt, daß die Zeit seiner bis zur Unkenntlichkeit auf Sieg getrimmten Produkte vorbei ist. Aus keinem Land gab es mehr als vier Punkte, aus den meisten Ländern überhaupt keinen Punkt, Corinna May kam in Tallinn auf den viertletzten Platz. Nachdem selbst einige seiner Mitarbeiter schon begonnen hatten, sich von ihm abzuwenden, entzog ihm gestern auch noch die „Bild“-Zeitung die Unterstützung: „Noch eine gute Nachricht gibt es seit der Grand-Prix-Katastrophe gestern Abend“, formulierte sie mit böser Ironie. „Ralph Siegel wird nie mehr beim großen Schlager-Wettstreit für Deutschland antreten.“

Die ersten Verschwörungstheorien machten am Samstag abend im fassungslosen Fantroß die Runde, der bereits Sieges-T-Shirts gedruckt und getragen hatte: Der Sieg der Lettin, die mit fünf Tänzerinnen und Tänzern eine große lateinamerikanische Show auf der Bühne zeigte und dabei mehrfach ihr Kleid wechselte, zeige, daß nicht das beste Lied gewinne, sondern die auffälligste Show. Hätten sie recht, wären allerdings nicht die unprätentios, aber eindringlich vorgetragenen Balladen von Großbritannien und Frankreich so weit nach vorne gekommen. Marija Naumova, die im vergangenen Jahr mit modernen Versionen französischer Chansons auffiel und am Entstehen ihres Liedes „I Wanna“ selbst mitwirkte, hält dagegen ihre auffällige Show für einen wesentlichen Grund für den Sieg. „Dieser Wettbewerb heißt zwar Song Contest, aber wenn er wirklich einer wäre, würde er im Radio stattfinden. Dies hier ist Fernsehen. Es geht nicht darum, was man hat, sondern wie man es präsentiert.“

Sie hatte eine nette Ricky-Martin-Nummer, trat auf voller Leichtigkeit und Lebensfreude und bekam aus ganz Europa dafür Punkte, von Spanien bis Israel. Und weil Ähnliches schon in den vergangenen Jahren passiert war, ist das katastrophale Abschneiden Deutschlands für den ARD-Grand-Prix-Chef Jürgen Meier-Beer ein positives Signal: „Die Esten haben den Song Contest wie noch nie zuvor als eine moderne Popshow inszeniert“, sagte er. „Auf dieser Bühne sah der deutsche Beitrag besonders altbacken aus. Die eindeutige Niederlage gibt mir die Möglichkeit, jetzt auch in Deutschland endgültig vom alten Grand-Prix-Image wegzukommen.“ Deutschland habe in den vergangenen Jahren entweder traditionelle, konservative Schlager ins Rennen geschickt oder – mit Stefan Raab und Guildo Horn – die schräge Parodie darauf. Am meisten Erfolg, das zeigten die Siege der vergangenen Jahre, verspreche aber moderner Pop, der Leichtigkeit ausstrahle. Er hat sich zum Ziel gesetzt, im kommenden Jahr einen Vorentscheid zu organisieren, der einen Gewinner mit solch unverkrampfter Leichtigkeit produziert.

Die Letten dürfen sich unterdessen an die ungleich größere Aufgabe machen, den Song Contest auszurichten und sich einen Platz im öffentlichen europäischen Bewußtsein zu sichern. Der lettische Ministerpräsident sagte bereits zu, daß seine Regierung es halten werde wie die Esten im vergangenen Jahr: Die mehreren Millionen Euro Kosten, die dem ausrichtenden Sender trotz Erlösen aus Sponsoring und Kartenverkauf entstehen, sollen aus dem Staatshaushalt bezahlt werden. In Estland sind diese Ausgaben angeblich allein durch zusätzliche Steuereinnahmen und das Geld, das die angereisten Fans und Delegierten im Land ließen, wieder hereingekommen, hinzu kommt ein unschätzbarer Imagegewinn. Das Land, unter dem sich die meisten im Ausland bisher ein Brachland kurz vor Sibirien vorstellten, präsentierte sich Hunderten Millionen Zuschauern – allein fast zehn Millionen in Deutschland – als modernen, kreativen und ehrgeizigen Teil Europas. Erstmals in der Geschichte des Gesangswettbewerbs gab es ein Thema, „ein modernes Märchen“, aus dem Design, Bühnenbild, alle Elemente der Show entwickelt wurden. Und weil man so eine scheinbar harmlose Gelegenheit nicht ungenutzt lassen sollte, waren die kleinen Postkarten-Filme vor den einzelnen Beiträgen voll bedeutungsschwangerer Anspielungen. In einem verglich sich Estland mit Dornröschen, das jahrhundertelang erstarrt war – unschwer als Metapher auf die russische Besatzung zu verstehen. Und ausgerechnet vor dem Titel der verhaßten Russen stand ein Film, der mit dem Wort „Freiheit“ endete. Den Finnen wiederum machten die Esten die Erfindung der Sauna streitig. Daß jedoch ausgerechnet vor dem Auftritt der blinden Corinna May ein holzgeschnitzter Pinocchio zum Behinderten wurde, indem ihm die Nase abfiel, soll unglücklicher Zufall gewesen sein.

Fast alle Favoriten fielen bei der Abstimmung durch. Anders als Deutschland, das als einer der größten Geldgeber der Eurovision gesetzt ist, müssen viele Länder, die sich noch Stunden zuvor Hoffnung auf einen Triumph gemacht hatten, im nächsten Jahr aussetzen. Doch so überraschend das Ergebnis war, so übereinstimmend war das Votum aus den unterschiedlichsten Ländern. Auch das macht die Faszination dieses Wettbewerbs aus: Es gibt ganz offensichtlich ein gemeinsames europäisches Bewußtsein – nur kennt es niemand.

Die Esten feierten den Song Contest mit einer Party auf dem mittelalterlichen Marktplatz ihrer Hauptstadt Tallinn. Unter dem in dieser Jahreszeit nie ganz dunkel werdenden Himmel und im gelben Schein der Laternen standen Esten, Russen und internationale Fans zu Tausenden in gefährlicher Enge, um bei ihren Beiträgen in Ekstase zu geraten. Als sich abzeichnete, daß Estland nicht mehr als einen hervorragenden dritten Platz erringen könnte, verlagerten sich die Sympathien zu den sonst nur bedingt geschätzten Nachbarn aus Lettland, die sich bis zum Schluß ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Malta lieferten. Daß deren glatter ultrakommerzieller Pop, der vor allem bei den Ländern ankam, die nicht die Zuschauer, sondern Jurys abstimmen ließen, dank des Votums der Nachbarn aus Litauen vom entspannten Latinosound aus Lettland überrundet wurde, rief auf den Straßen Freudenfeste hervor.

Ralph Siegel aber hielt es, wie Corinna May, tapfer und pflichtbewußt eine gute Weile auf der Aftershow-Party aus. Er wünschte seinen Nachfolgern ein glücklicheres Händchen und sagte, es gebe Wichtigeres als den Grand Prix. Er wird nur noch herausfinden müssen, was es ist.

(c) Frankfurter Allgemeine Zeitung

Ralph Siegel

He can’t live without music. Ralph Siegel braucht den Sieg beim Grand Prix d’Eurovision in Tallinn

TALLINN, 24. Mai. Nichts braucht er mehr als diesen Sieg, und niemand braucht diesen Sieg mehr als er. Er muß gewinnen, er glaubt, er kann gewinnen, und beides zusammen macht ihn halb wahnsinnig. Die Mitarbeiter seiner Plattenfirma, die mitgereist sind nach Tallinn, haben es sich in diesen letzten Tagen zur Hauptaufgabe gemacht, Ralph Siegel von Corinna May und ihren fünf Begleiterinnen fernzuhalten. Damit sich sein Wahnsinn nicht auf die Sängerinnen überträgt. Damit der Druck, den er mit seiner Aufregung hervorruft, nicht noch größer wird, als er schon ist. Damit sie eine Chance haben, das hier einigermaßen zu überstehen.

Deshalb lenken sie ihn weg von den sechs Frauen und lassen ihn lieber noch einmal über die Details seines privaten Abendessens gehen, das er am Donnerstag abend für sein Team und einige Journalisten und Ehrengäste gibt, etwa 50 Personen insgesamt. Das Restaurant Gloria ist das Beste der Stadt, der Papst hat hier gegessen, aber Siegel ist unsicher, zweifelt am Menü, sucht akribisch die richtigen Weine aus und grübelt immer wieder über der Tischordnung. Auch das hier muß perfekt sein, wie alles, was mit dem Grand Prix zu tun hat. Zum Glück ist seine Freundin Kriemhild an seiner Seite, die ihn in seiner Manie gelegentlich bremst und beruhigt. Mit seiner außerordentlichen Aufmerksamkeit, die seine Mitarbeiter an ihm rühmen, der positiven Kehrseite des oft schwer erträglichen Perfektionismus, hat er beim Essen noch gesehen, daß einige Kollegen etwas unglücklich fernab saßen, und eigenhändig geholfen, Tische und Stühle herüberzutragen. Dann, nach dem zweiten Gang, steht er auf und hält eine Rede. Und in dieser Rede, in dieser knappen halben Stunde, steckt das ganze Drama um Ralph Siegel und seinen Grand Prix. Sein Pathos erfüllt den Raum schon nach dem ersten Satz, in dem er sich nur bei dem Pianisten des Restaurants bedankt. Er sagt: „Thank you for the music!“

Musik, sagt Ralph Siegel, haben die Menschen schon vor Jahrtausenden gebraucht, nicht nur Essen und Liebe. Was er selbst braucht, ist viel konkreter: „Der Grand Prix“, sagt er, „ist mein Lebenselixier.“ Dann fällt sein Blick auf den Texter Bernd Meinunger, für den der Grand Prix kein Lebenselixier ist, sondern eine Verrücktheit, die er aus Loyalität und Freundschaft zu Siegel mitmacht. Er sagt: „Bernd, wir schaffen’s doch immer wieder“ und erinnert sich an die vielen gemeinsamen Jahre und Abendessen wie diese, und er muß das Mikrofon für ein paar Sekunden zur Seite nehmen, weil Tränen in ihm aufsteigen, seine Kehle zuschnüren und seine Augen füllen. Seine engsten Freunde und Mitarbeiter befinden sich in diesem Raum, aber vermutlich niemand, der wirklich verstehen kann, was ihn immer wieder zu diesem Wettbewerb treibt. „Ralph, nicht noch einmal Grand Prix“, haben sie ihn angefleht. Und er hat gesagt: „Laßt es uns noch einmal probieren, Kinder.“

Für ihn ist der Grand Prix wie die Teilnahme an den Olympischen Spielen, und er meint damit nicht die Floskel, daß dabeisein alles ist. Er meint damit, daß es um nationale Ehre geht, weshalb er auch nicht versteht, wie Journalisten und Komiker so abfällig über ihn oder Corinna May schreiben können, wo beide doch auch für sie kämpften, für die Deutschen, für Deutschland. Und er meint damit, daß dieser Wettbewerb nicht einfach ein Witz ist, wo man mal hinfährt und sieht, wo man landet, sondern wo man alles, alles dafür tut, daß man gewinnt. Den Sängerinnen hat er Mitte der Woche erzählt, sie müßten nicht unbedingt gewinnen, Platz zwei und drei seien auch in Ordnung. Aber erstens glaubt ihm das hier kaum einer. Und zweitens bedeutet das ja auch, daß Platz vier schon nicht mehr in Ordnung ist.

Kein anderes Land setzt sich in diesem Jahr einem solchen Druck aus. Aber niemand anders als Siegel hat auch mit einer solchen Akribie fast ein Jahr lang auf den Sieg hingearbeitet. Im vergangenen Juli schon setzte er sich mit Meinunger zusammen und suchte nach einem passenden Titel zum Thema Musik, bis sie schließlich auf „I can’t live without music“ kamen. Auf den Text komponierte Siegel zehn verschiedene Melodien und überlegte drei Monate, bis er wußte: „Die ist es.“ Doch auch dann hörte er nicht auf zu basteln und zu schrauben. Die komplizierte Struktur des Liedes zeugt davon, daß er letztlich so viele Elemente aus den anderen Fassungen wie möglich in dieses eine Stück retten wollte. „Ich schreibe Titel gerne mal an einem Wochenende, aber hieran habe ich viele Monate gefeilt“, sagt er. Ralph Siegel hat sich nicht hingesetzt, einen Beitrag für die deutsche Vorentscheidung oder für Tallinn zu schreiben. Er hat sich hingesetzt, den Siegertitel des diesjährigen Grand Prix zu schreiben.

Und jetzt, bei diesem halböffentlichen Abendessen, beschwört er alles, was dafür sprechen könnte, daß dieses Projekt den einzigen angemessenen Abschluß findet. Johnny Logan, der zweimalige Grand-Prix-Sieger aus Irland, hat ein handgeschriebenes Fax mit „besten Wünschen“ geschickt: „Wenn das kein gutes Zeichen ist!“ Fast überall in Europa setzen die Buchmacher Deutschland auf Platz eins, was ja bedeute, erklärt Siegel, daß Menschen so sehr an sein Stück glaubten, daß sie sogar Geld dafür ausgäben. „Da habe ich doch das Gefühl, daß wir nicht so falsch liegen.“ In Internetforen findet er Zustimmung, Anrufer wünschen ihm Glück. „Das Feedback ist so schön, daß man’s gar nicht glauben kann“, sagt er. Und: „Ganz Deutschland drückt dir, Corinna, die Daumen aus ganzem Herzen.“

Er sagt, er wolle gewinnen, um die alte Entertainer- und Sportler-Regel „They never come back“ zu widerlegen, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Siegel braucht diesen Sieg, um all die Demütigungen der vergangenen Jahre zu überwinden. Die Niederlagen in den Vorentscheiden, das schlechte Abschneiden vor fünf Jahren im Finale, die traurigen Verkaufszahlen vieler seiner Künstler, die Behauptung, er sei einer von gestern. In dieser Rede in Tallinn tauchen sie alle wieder auf. Er erzählt von der Gruppe Sürpriz, mit der er 1999 den dritten Platz belegte – „aber das hat man in Deutschland nie so richtig bemerkt“. Er erzählt von Stefan Raab, „der mit allen Wassern gewaschene und mit allen Talenten gesegnete Stefan Raab“, der verhindert habe, daß er und Corinna May im Jahr darauf den Vorentscheid gewannen. Er erzählt von den Leuten in den Medien, „die nicht gecheckt haben, was für eine wunderbare Persönlichkeit du bist, Corinna, und was für eine großartige Stimme du hast“.

Dann verliert er noch einmal die Fassung, kämpft wieder gegen die Tränen und läßt sich vom Pathos vollends überwältigen. Dankt den Background-Sängerinnen, die, das sagt er wirklich, „devot und trotzdem sehr engagiert ihre Unterstützung geben“. Dankt dem deutschen Kommentator Peter Urban, der ja das Glück habe, jedes Jahr die Reise zum Song Contest antreten zu dürfen – „ich darf sie ja nur manchmal machen“. Dankt Mark Pittelkau von der „Bild“-Zeitung, daß er täglich Geschichten schreibt, „die wir mal mit Freude, mal mit Verbitterung lesen, aber auch das ist ja eine Leistung“. Und er dankt Corinna May – „so wie du singst, kenne ich selten jemanden, obwohl ich viele Künstler gehört habe“ – und schwärmt von dem Album, das er gerade mit ihr aufgenommen habe, in wochen- und monatelanger harter Arbeit, das so etwas Besonderes sei. Später läuft die Platte im Hintergrund, aber es fällt schwer, mehr darin zu hören als sehr konventionelle Cover-Versionen sehr naheliegender Evergreens wie „Come on baby light my fire“ oder „Blowing in the wind“.

Schließlich greift noch der Präsident des deutschen Grand-Prix-Fanclubs OGAE nach dem Mikrofon und hält eine atemberaubend devote Hymne auf Siegel. Er bedankt sich, daß der Meister nur die Ehrennadel seines Clubs trage (und nicht die des verfeindeten anderen deutschen Fanclubs) und fleht Siegel an, nicht wie – wieder einmal – angekündigt, zum letzten Mal für Deutschland beim Grand-Prix teilgenommen zu haben. Ohne seine Beteiligung seit inzwischen genau 30 Jahren hätte Deutschland all die großen, wunderbaren, zauberhaften Erfolge nicht feiern können, sagt er und setzt den Höhepunkt dieses höchst nationalen und höchst persönlichen Abends mit einer Handbewegung auf die jungen Background-Sängerinnen und dem Satz: „Ihr seid eine Zierde für unser Land.“

Ralph Siegel aber beendet seine Ansprache mit den Worten: „Wenn ich bei all den Anstrengungen der letzten Monate das Lachen manchmal verloren habe – ich hoffe, daß ich es am Samstag wiederfinde.“ Nicht auszudenken, wenn es anders käme.

(c) Frankfurter Allgemeine Zeitung

Bernd Meinunger

Höchstens ein bißchen Frieden. Warum Bernd Meinunger, der Songschreiber von Corinna May, den Grand-Prix pervers findet und eigentlich nicht gewinnen möchte.

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TALLINN, 23. Mai. Es ist nicht so, daß alle hier verrückt wären nach dieser Veranstaltung. Bernd Meinunger hat sich auf die Suche nach einem Golfplatz in der Nähe gemacht und einen gefunden, keine dreißig Kilometer von Tallinn entfernt, den einzigen in Estland. Dort hat er mit seiner Frau Golf gespielt, wie er das jedes Jahr tut, wenn ein Lied seines Freundes und Kollegen Ralph Siegel Deutschland beim Song Contest vertritt und er wieder den Text geschrieben hat. Beim Empfang des Bürgermeisters ist Meinunger schnell verschwunden, da waren ihm zu viele Leute; das Gedränge in der Residenz des deutschen Botschafters am Tag darauf hielt er kaum eine Minute aus. Und während Siegel durch die Hallen tigert, aufgekratzter noch als früher, und in jedes Mikrofon diktiert, mit dem Herzen glaube er zu gewinnen, nur sein Verstand mahne ihn, sich nicht sicher zu sein, ist Meinunger eher genervt, sich überhaupt eine Stunde mit einem Journalisten hinsetzen zu sollen. „Der Grand-Prix ist pervers“, sagt er und krault sich den grauen Bart, „ich verstehe nicht, warum sich der Ralph da so reinsteigert und wo er diesen unglaublichen Enthusiasmus hernimmt. Sicher würde ich mich freuen, wenn wir gewinnen. Aber soviel Energie da reinstecken? Dafür ist mir das nicht wichtig genug.“

Dann sagt er noch, daß es irgendwie auch schade wäre, wenn Deutschland gewänne, schade für Nicole, die dann nicht mehr unsere Einzige wäre, wenn ausgerechnet Siegel zwanzig Jahre später den Erfolg wiederhole. Das ist ein Satz, der an Blasphemie grenzt, aber Meinunger darf so was sagen. Er und Siegel arbeiten seit einem Vierteljahrhundert zusammen, und ihre Beziehung lebt von dem Kontrast zweier Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Siegel, der Getriebene, der die totale Öffentlichkeit genießt und alles zu einem Kampf um Ehre, nationale und persönliche, verklärt. Meinunger, der Abgeklärte, der am liebsten im Hintergrund bleibt und schreibt, was andere bei ihm bestellen.

Seit 1978 sind die Texte des gelernten Agrarwissenschaftlers die Alltagslyrik und das Grundrauschen der Deutschen. Als er das letzte Mal nachzählte in seinem Computer, kam er auf 3800 Titel, die Platten hat er archiviert, „aber ich höre sie mir eigentlich nie an“. Die großen Siegelschen Grand-Prix-Nummern wie „Ein bißchen Frieden“, „Dschingis Khan“, „Theater“ stammen von ihm, die späten Platten von Rex Gildo und die frühen von Peter Maffay, er textet heute für Nicole und für Gaby Altenburg, leistet sich begeistert Ausflüge in deutschen Rap und erfüllt pflichtgemäß Anfragen aus der volkstümlichen Musik. Er sagt, daß er kaum einen seiner Texte auswendig könne und viele nicht einmal wiedererkennen würde.

Meinungers Texte sind schlicht und handeln von der Liebe. Und wenn man ihn fragt, ob das nicht ein bißchen wenig ist, schaut er treuherzig und fragt, ob es überhaupt ein anderes wichtiges Thema gebe, aber er sieht dabei aus, als wüßte er, daß das weder die Frage noch die Antwort ist. Morgens um neun setzt er sich in seinem Büro in München an den Computer, meistens bekommt er per E-Mail die Melodie, einen halben Tag später ist die neue Herzschmerz-Kombination fertig. Er sieht sich als Handwerker und lehnt auch den Ausdruck „Fließband-Arbeit“ nicht ab, aber er legt Wert darauf, das Optimale für den Zweck abzuliefern, nicht diesen „peinlichen Schrott“, der seit zehn Jahren die deutsche Schlagerlandschaft verhunze. Es sind Auftragsproduktionen, bei denen sich Meinunger selber ausdenken muß, worüber der Sänger wohl gerne singen würde, weil der oft nicht einmal das selbst formulieren kann. „Ich arbeite extrem künstlerorientiert; ich schreibe nicht, was ich denke und fühle“, beteuert er. Und er fragt sich, warum nicht viel mehr Menschen den Beruf ausüben, gerade 300 sind es in Deutschland bei fünfmal so vielen Komponisten, wo er doch der einfachste der Welt sei.

„Schlager haben nur eine Botschaft: Fühlt euch wohl!“, sagt er. Allergisch sei er gegen den Wunsch, daß Lieder „Themen anpacken“ sollen. Doch zu seinem Leidwesen sehnen sich offenbar auch die Künstler nach Bedeutungsschwere. „Nach Jahren, in denen sie erfolgreich über Liebe und sonst nichts gesungen haben, kommen sie plötzlich an und wollen was über Seehunde. Aber da sage ich: Nicht mit mir!“ Ein Umwelt-Lied namens „Verlorenes Paradies“, das er für Vicky Leandros geschrieben hat, hört er heute nur noch „mit Schaudern“. Aber beim Grand gelten ja eben andere Regeln. „Ein Grand-Prix-Lied braucht natürlich eine Botschaft“, sagt Meinunger, weil Siegel das sage. „Da bin ich von Ralph inzwischen gedrillt, da muß alles kalkuliert sein: Das Stück muß in Deutschland ankommen, um die Vorentscheidung zu überstehen, es muß überall in Europa gefallen, sogar in Österreich, es muß perfekt zum Künstler passen, und früher, als es noch Jurys gab, mußte immer noch ein bißchen Kunst drin sein. Absurd, oder?“ Der Siegertitel 1982 entstand, weil Siegel in dem Jahr unbedingt ein Friedenslied machen wollte, Meinunger aber auf gar keinen Fall ein Friedenslied schreiben wollte, und er irgendwann sagte: „Höchstens ein bißchen Frieden“. Damit war der Titel, die sogenannte „Zeile“, gefunden. Und Meinunger schwört, daß die Geschichte nicht nur schön, sondern auch wahr sei.

Die „Zeile“ sei das allerwichtigste, wichtiger oft noch als die Musik. Zu Meinungers unangenehmsten Aufgaben gehört, wenn Siegel anruft und sagt, er brauche jetzt schnell eine Handvoll Zeilen für Nicole, oder, schlimmer, ein Produzent mal eben fünfzig Zeilen für die Kastelruther Spatzen bestellt. Die meisten davon landen im Papierkorb, zu den wenigen anderen darf Meinunger später den restlichen Text dazuerfinden. Dessen Stellenwert sei aber nicht mehr hoch. Bei „I can’t live without music“ für Corinna May komme es eigentlich nur auf die Person der Sängerin, die Musik und die Titelzeile an. Der Rest ist kaum mehr als Füllmaterial.

„Zudringliche Weltbeschwörungsphantasien“ findet der Grand-Prix-Experte Jan Feddersen Jahr für Jahr in Meinungers Texten. Dahinter steckt ein Handwerk, das aus wenig mehr zu bestehen scheint, als die Begriffe „Traum“ und „Freiheit“ immer neu zu kombinieren. 1987: „Gib dem Traum ein bißchen Freiheit“. 1999: „Wir haben einen Traum, der nie die Kraft verliert. Leben ist eine Reise, die nach morgen führt“ (wohin sonst?). 1992, ungewöhnlich konkret und dadurch besonders perfide: „Siehst du dort das junge Mädchen, auf dem Bahnsteig stehn/Sie glaubt einer von den Zügen/wird in die Freiheit gehn/Und der Mann, der seinen Job verlor/träumt, daß er’s allen zeigt/Wie Phönix aus der Asche steigt.“ Das Werk trug den Titel „Träume sind für alle da“, der Meinungers ganzes Ruhigstellungs-Pathos und leeres Glücksversprechen wie kein anderer auf den Punkt bringt.

Nicht, daß er ein Reaktionärer wäre. Er engagierte sich politisch auf der Uni, war im linken SDS, fand nichts entsetzlicher als Chris-Roberts-Schlager. Siegel lernte er kennen, weil er ein Stück für sich selbst geschrieben hatte: „Song of emancipation“. Am Ende sangen ihn andere und brachten ihm 25 Pfennig Tantiemen ein, und Meinunger verabschiedete sich von den Idealen und begann mit dem Geldverdienen. „Was für Ideale soll man beim Schlagertexten haben? Das interessiert kein Schwein.“ Und Michael Kunze, auch ein erfolgreicher Texter, der Schlager wie das „Ehrenwerte Haus“ für Udo Jürgens und „Aufrecht gehn“ für Mary Roos geschrieben hat, die genau das Maß an Sozialkritik und Lebenswahrheit enthalten, die so ein kleines Lied enthalten kann – hat der es nicht geschafft, sich ein paar Ideale zu bewahren? Das sei die Ausnahme, sagt Meinunger. „Neunzig Prozent von dem, was Kunze schreibt, ist auch ganz braver Schlager.“

„Braver Schlager“ ist einer der freundlicheren Ausdrücke für die Musik, die er hauptsächlich produzieren hilft. Das Adjektiv „beschissen“ benutzt er für einen Achtundfünfzigjährigen mit der Ausstrahlung eines ruhigen bayerischen Brummbärens erstaunlich oft, auch für den Disco-Trash der Gruppe „E-Rotic“, der er mit viel Spaß Texte wie „Max don’t have sex with your ex“ bescherte. Peter Maffay warf ihm einmal vor, daß er neben seiner Arbeit für ihn für so viele andere entsetzliche Leute arbeite. Meinunger erwiderte, er sei Architekt: „Ich kann nicht jeden Tag Villen zaubern, ich muß auch viele Garagen bauen.“ Vielleicht fünf Prozent dessen, was er so getextet habe, sei „ganz schön“, zu dem Rest sagt er: „Es wäre genauso gut gewesen, wenn ich es nicht gemacht hätte“ — auch in finanzieller Hinsicht, weil sich das meiste dann doch nicht verkauft. Andererseits kann er sich nicht vorstellen, daß ihm je die Lust vergeht, auch noch den fünftausendsten Schlager-Text aufzuschreiben.

Er hat Chris Roberts dann irgendwann kennengelernt und gemerkt, daß das ein ganz belesener, kluger Mann ist. Und er hat sich in einem ähnlichen Maß von der Branche korrumpieren lassen, wie er es bei ihm und anderen feststellte. Nur die Leidenschaft, die läßt er sich nicht absprechen. „Ich habe nicht weniger Leidenschaft als Ralph Siegel, aber ich bin realistischer. Ich lebe nicht mehr in der Zeit vor zwanzig Jahren, als der Grand Prix wichtig war und Platten verkaufte und Karrieren begann.“ Aber ins Schwärmen kommt er nur bei den alten Geschichten, wenn er über die anstrengende Zusammenarbeit mit Maffay redet und darüber, wieviel Spaß es machte, für Dschingis Khan zu schreiben, die nie eine Botschaft hatten. Und dann schwärmt er noch für Reinhard May, der Alltagsgeschichten so grandios erzähle, wie er es nicht könne. Und wie er schon in dessen allererste Platte „reingekrochen“ ist.

In welches Lied von Bernd Meinunger möchte man reinkriechen?

(c) Frankfurter Allgemeine Zeitung

Ein bißchen Soufflé

Viel heiße Luft beim deutschen Grand-Prix-Vorentscheid.

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Der Grand Prix ist wie ein überfahrenes Tier auf der Landstraße. Man mag es nicht sehen und kann doch nicht aufhören hinzugucken. Und so sehen wir eine junge, blinde Frau, die es im dritten Versuch endlich geschafft hat, für Deutschland beim Song Contest singen zu dürfen, weshalb sie für die dreißig, vierzig Fotografen und Kameramänner, die sich vor ihr aufgebaut haben, immer und immer wieder die Arme zu einer Siegerpose hochreißen muß. Auf Zuruf der Fotografen reißt sie die Fäuste mit abgewinkeltem Ellenbogen hoch, und alle knipsen, und niemand sagt ihr, wie traurig das aussieht.

Und wir sehen neben ihr auf dem Podium Ralph Siegel, den sie „Mister Grand Prix“ nennen, weil bei ihm Lebenswerk und Schlagerwettstreit eine fast tragische Verbindung eingegangen sind. Und neben ihm Bernd Meinunger, über den man ähnliches nur deshalb nicht sagt, weil der Texter meist im Hintergrund steht, der aber Siegel fast immer die Texte zu seinen Melodien schreibt. Meinunger sagt, die Inspiration zu den Zeilen, die er für Corinna May geschrieben habe – „Ich kann nicht ohne Musik leben, nur du läßt mich weitermachen“ -, die Inspiration dazu stamme von der Künstlerin, für die Musik wirklich alles sei, einfach alles, und er sagt es, als habe er die Musikwelt damit revolutioniert, als hätten nicht Tausende Künstler die gleichen Zeilen, die gleiche Wahrheit millionenfach formuliert. Und Siegel sagt, seine Komposition sei „einfach ein so gelungenes Lied, auch von der Musik her“ und fügt tatsächlich hinzu, daß diese Musik, eine Mischung aus Boney M. und den immer gleichen Siegel’schen Versatzstücken, höchst modern sei, ja, Musik, wie Kylie Minogue sie gerade mache. So sitzen die beiden da und loben die „Super-Konkurrenz“ und erzählen, in wieviele Sprachen das Lied übersetzt werde, falls man im Mai in Estland gewinne, und plötzlich ist es 1982 und man wird den Gedanken nicht mehr los, wie Siegel jetzt nach Hause fährt, eine Gitarre weiß lackieren läßt und ein schwarzes Glitzerkleid kauft, denn Corinna May wird in Estland mit der Startnummer 18 auftreten, genau wie Nicole damals in Harrogate, wo sie gewann: „ein gutes Omen“.

Es ist diese Mischung aus unendlicher Banalität und unendlicher Wichtigkeit, die dazu führt, daß man den Grand Prix nicht ansehen kann und es trotzdem immer wieder tut. Dabei ist der Grand Prix auch eine Veranstaltung, in der Spaß und Geschäft und, ja, so etwas wie Talentförderung sich wunderbar verbinden. Um das zu erleben, hilft es hinzufahren, in diesem Jahr also in die Ostseehalle nach Kiel.

Ausverkauft ist sie nicht, kein Wunder – bis zu 50 Euro pro Karte, aber knapp 6000 Zuschauer sollen gekommen sein. Anders als in den Jahren, als Guildo Horn antrat oder Stefan Raab, ist es schwer, die Besucher nach Klischees zu sortieren und den Teilnehmern zuzuordnen. Erstaunlich viele Frauen mittleren Alters sind gekommen, unauffällig, ein bißchen herausgeputzt. Es ist nicht das Musikantenstadl-Publikum, auch kein reiner Tuntentreff, es sind viele junge Leute darunter, die nicht weiter auffallen. Man fragt sich, ob viele davon vielleicht nur wegen der Abwechslung hier sind, weil das Fernsehen eher selten nach Kiel kommt, doch dann treten, nachdem eine Aufwärmerin des Schlagerradios „NDR Welle Nord“ alles versucht hat, das Publikum einzuschläfern, die Weather Girls auf die Bühne, und der Laden explodiert. Innerhalb einer Sekunde ist das Publikum mitgerissen, applaudiert, trampelt, schwenkt Fähnchen und freut sich, dabeisein zu dürfen. Sie scheinen wirklich Spaß zu haben, nicht in seiner ironischen Brechung als „Kult“, einfach: Spaß. Wie die Weather Girls, die offensichtlich glücklich sind, den Laden (und mutmaßlich Millionen zu Hause) in Schwung zu bringen; wie vier Punks aus Cottbus namens SPN-X, die eine halbe Stunde vor der Sendung noch an der Bar im Pressezelt lehnen und Bier trinken, und dann auf die Bühne gehen, ihre Show machen, sich freuen, daß sie damit nicht nur ihren kleinen angereisten Fantrupp, sondern die halbe Halle mitreißen, und hinterher finden, daß die ganze Veranstaltung zwar „irgendwie peinlich“ gewesen sei, aber auch gut, weil die Kollegen nett waren und sie gar nicht so als Exoten behandelt haben. Diese Jungs sind beim Grand Prix, weil sie für ihre Musik leben und nicht für den Grand Prix.

Es geht trotzdem um viel. Nach Jahren völliger Belanglosigkeit ist die Veranstaltung zumindest für die Plattenindustrie höchst relevant. Außer bei „Wetten, daß. . .“ gibt es keine Möglichkeit, einen Künstler mit einem Schlag so vielen Millionen Menschen zu präsentieren, und bei „Wetten, daß. . .“ hat Nachwuchs eher keine Chance. Die Professionalisierung der Sendung und Titelauswahl führt leider auch dazu, daß sich spätestens nach der dritten wohlgeplanten Mainstream-Ballade Langeweile im Saal breit macht. Aber zum ersten Mal seit Jahren ist mehr als die Hälfte der Vorentscheidungsteilnehmer tatsächlich einigermaßen talentiert, stimmgewaltig und sogar in der Lage, live zu singen. Das ist doch was.

Bei solcher Bedeutung überläßt man lieber wenig dem Zufall, und so bestehen die Fanclubs, die man im Fernsehen jubeln sieht, überwiegend aus Mitarbeitern der Plattenfirma oder Freunden und Verwandten der Künstler. Der wahre Fan gibt sich mit so etwas nicht ab, und so sitzt auf der Tribüne eine sehr blonde junge Frau, die sich alle Mühe gibt, trotz kurzer Arme ihr selbstgestaltetes großes Plakat ins Bild zu bringen, dessen Text sie eher als Amateur im Plakatgestalten ausweist: „Go Linda Go“ hat sie darauf geschrieben, und darunter: „3 P steht für Musik mit Qualität, darum sind wir für die neue Soul-Königin“. Zwischen ein paar fröhlich pöbelnden Hools, die ein Ordner mit großer, aber letztlich nicht ausreichender Ausdauer immer wieder ermahnt, nicht auf die Stühle zu steigen, sitzt eine Rothaarige, um deren Oberkörper nur eine Art goldfarbene Serviette schlabbert, die gelegentlich ihren handgemalten Satz „SPN-X ich will ein Kindl von Euch“ hochhält, ein Kumpel in der Reihe vor ihr hat sich für die schlichte Aussage entschieden: „Bernhard Brinkts nicht“. (Dabei werden die Jungs von der Band später sagen, daß Bernhard Brink, der in der Halle gnadenlos ausgebuht wurde, ein dufter Typ sei und sie die einzigen waren, die morgens beim Frühstückstisch über seine Witze lachen konnten.) Außer bei der Kelly Family und der von „Bild“ und Dieter Bohlen ins Rennen geschickten jungen Isabel schien sich das Publikum mit allem anfreunden zu können, was ihnen geboten wurde: Die Anhänger des Mädchenduos Unity 2 zogen sich, nachdem ihre Favoritinnen fertig waren, die Einheits-Fan-T-Shirts aus, hielten sie an den Ärmeln hoch und schwenkten sie im Takt. Und ein einsames Mädchen im Parkett fand, daß es völlig reichte, ihre Werbe-Baseballkappe mit „Quam“-Aufdruck ein paar Zentimeter über dem Kopf zu schwenken. Und zu Hause saßen – trotz Olympia und Günther Jauch – nicht weniger als achteinhalb Millionen Zuschauer vor ihren Fernsehern und sahen sich an, wie Corinna May vor Joy Fleming, der Christen-Boygroup Normal Generation und den Kellys gewann.

Es war ein merkwürdiger Kontrast zwischen der genügsamen Menge im Publikum und dem unglaublichen Aufwand dieser Live-Sendung. Zwischen den unauffälligen Plätscherstücken und den Skandal-Geschichten, die die „Bild“-Zeitung täglich erfand. Noch nie, auch nicht zu Guildo-Horn-Zeiten, war das Medieninteresse an einem Grand-Prix-Vorentscheid so groß wie dieses Mal, 550 Journalisten waren akkreditiert. Und noch nie war die Diskrepanz so groß zwischen diesem offensichtlichen Interesse und dem, was sie an Substanz vorfanden, wobei Grand-Prix-Organisator Jürgen Meier-Beer gerne darauf hinweist, daß auch das beste Soufflé zur Hälfte aus Luft besteht. Aber vielleicht spiegelt sich in diesem scheinbaren Widerspruch ja nur eine Grand-Prix-Normalität, die in den Jahren der Verwahrlosung, aber auch den folgenden Jahren des Irrwitzes abhanden gekommen war: eine Mischung aus höchster Aufregung um eine schlichte Veranstaltung, die inzwischen höchst professionell auf musikalisch nicht ganz so hohem Niveau organisiert wird. So gesehen scheint der Grand Prix endlich zu Hause angekommen: in den frühen achtziger Jahren, bei Nicoles bißchen Frieden und mit Corinna Mays bißchen Musik.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

König der Zwerge

Die Sonne geht unter, der Schlager-Grand-Prix kommt.

Ich steh hier für euch / Das Mikro in der Hand / Ich steh hier meinen Mann / Tu alles was ich kann. / Ich steh hier für euch / Ich sag’s total direkt / Ich bin zwar nicht perfekt / Doch ich geh hier nicht weg. / Denn wir ham keine Angst . . .

Falsch! Wir ham Angst! Das Schlimmste ist nicht, dass Zlatko mit diesem Lied bei der Vorentscheidung zum Schlager-Grand-Prix antritt. Das Schlimmste ist, dass ihm trotzdem der Titel des peinlichsten Beitrages nicht gewiss ist. Dass es soweit gekommen ist, dass man der Bild-Zeitung recht geben muss in ihrem furchtbaren Lamento, wie weit es gekommen ist. Und dass man am Ende erleichtert sein wird, falls Michelle gewinnt, die ein konventionelles Schlagerlied im Stil der 80er über die Liebe singt, aber wenigstens eins, bei dem man von „Lied“ und „Stil“ und „singen“ sprechen kann.

Drei Arten von Beiträgen treten am 2. März an: die Unauffälligen, die Gutgemeinten und die Durchgeknallten. Michelle gehört zur ersten Gruppe, wie ein Trio um Joy Fleming. Nett, belanglos, Grand-Prix-Material halt, das noch in zehn Jahren auf kultigen Parties bejubelt wird und sonst nirgends. Mit gutem Willen kann man auch zwei Beiträge Ralph Siegels dazu zählen, der seine alten Ideen mit neuen Sängern recycelt, aber vorsichtig sein sollte mit der Forderung, manche Beiträge zu verbieten, weil er sonst selbst halb im Knast stünde.

Dann sind da die, die sich erschreckenderweise für die Retter des Grand Prix halten: Wolf Maahn, der die Idee zu seinem Lied in Sarajewo hatte und am Anfang ruft: „Welcome, yeah, this is Radio Open Mind, broadcasting to all humankind. “ Oder anständige Jungs namens Tagträumer, die man für Pur halten könnte, wäre ihr Lied nicht weitgehend eine Kopie des Hits Never had a dream come true von S Club 7. Womit wir bei Zlakto und den Durchgeknallten wären. Natürlich haben auch Leute, die keinen Ton treffen, das Recht zu singen. Aber doch nicht die Pflicht! An einem selbst für Billig-Techno-Verhältnisse entsetzlich entsetzlichen Stück haben fünf Leute mitgeschrieben! Und Donna Moshammer groovt: „Hier spricht der König der Welt. “

Was soll das? Fragen wir die Gruppe Illegal2001: „Ist Dieter Bohlen musikalisch oder fehlt im das Talent? Hat unser Schumi nen kleinen Penis, weil er so große Autos fährt? Kann man dem lieben Gott vertrauen, wenn’s ihn wirklich gibt? Ich weiß es nicht, und trotzdem bin ich am Leben. Doch steht die Sonne tief am Himmel, werfen Zwerge lange Schatten, und dann weiß ich, dass ich nicht klein und unbedeutend bin. “

Eine geplante Striptease-Nummer der Mädchencombo Love Rocket hat der NDR gerade noch verhindert. Trotzdem steht die Sonne verdammt tief vor der ARD.

(c) Süddeutsche Zeitung