Schlagwort: Robert Enke

Über Enke und Werther

Die Medien arbeiten seit einer Woche daran, die Zahl der Selbstmorde in Deutschland in die Höhe zu treiben.

Selbstmord ist ansteckend. Berichterstattung über Suizide erhöht die Zahl der Suizide. Das ist der sogenannte „Werther“-Effekt, benannt nach Goethes Roman. Nachdem er erschienen war, soll sich eine Reihe von Lesern in ähnlicher Form das Leben genommen haben wie die liebeskranke Titelfigur.

Der amerikanische Soziologe David Philipps wies vor 35 Jahren nach, dass immer, wenn die „New York Times“ prominent über einen Selbstmord berichtet hatte, die Zahl der Selbstmorde signifikant anstieg. In vielen weiteren Untersuchungen wurde der beunruhigende Effekt seitdem immer wieder bestätigt: Je länger und prominenter über den Suizid berichtet wurde, umso größer war der folgende Anstieg der Selbstmordrate. Wenn ein Selbstmord nur in New York groß auf der Titelseite behandelt wurde, nicht aber in Chicago, stieg die Zahl der Selbstmorde in New York stärker als in Chicago. Während eines neunmonatigen Zeitungsstreiks in Detroit 1967/68 sank die Zahl der Selbstmorde hier signifikant.

1981 zeigte das ZDF in bester Absicht Robert Strombergers realistisches Drama „Tod eines Schülers“ über einen Jugendlichen, der sich vom Zug überrollen lässt. Hinterher nahm die Zahl der Eisenbahnsuizide bei jungen Männern um 175 Prozent zu. Auch bei der Wiederholung der Serie eineinhalb Jahre später stellten Wissenschaftler noch einen erheblichen Nachahmungseffekt fest.

Der australische Psychiater Robert D. Goldney‌ fasste die Ergebnisse der Forschung 1989 so zusammen, dass sich auch Journalisten verstehen könnten:

„Es besteht kein begründeter Zweifel mehr, dass die Medien zu Selbstmorden beitragen. Eine unreflektierte Berichterstattung wird zwangsläufig zu weiteren Selbstmorden führen.“

Wäre es also am besten, wenn Medien gar nicht über Selbstmorde berichten? In den meisten Fällen, wenn es zum Beispiel nicht darum geht, etwa die Missstände in einer Schule aufzudecken, wo sich plötzlich viele Jugendliche das Leben nehmen, lautet die Antwort: Ja. Es wäre am besten, wenn Medien gar nicht über Selbstmorde berichten.

Das ist für Journalisten eine unerträgliche Antwort. Journalisten gehen davon aus, dass es gut ist, wenn etwas an die Öffentlichkeit kommt. Dass es erlaubt sein muss, über etwas zu berichten, das sich unzweifelhaft ereignet hat.

Kleiner kommunikationswissenschaftlicher Exkurs: Nach Max Weber lässt sich zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik unterscheiden. Verantwortungsethik bewertet Handlungen nicht danach, ob sie in bester Absicht geschehen, sondern nach den Folgen, die sie haben („zweckrationales Handeln“). Gesinnungsethik bewertet Handlungen dagegen vor allem aufgrund von Überzeugungen und Werten wie dem der Wahrhaftigheit. Ein Journalist, der sich gesinnungsethisch richtig verhält, muss allein dafür Sorge tragen, dass das, was er berichtet, wahr ist. Man spricht dabei vom wertrationalen Handeln, das Weber so definiert:

„[Wertrational handelt], wer ohne Rücksicht auf die vorauszusehenden Folgen handelt im Dienst seiner Überzeugung von dem, was Pflicht, Würde, Schönheit, religiöse Weisung, Pietät oder die Wichtigkeit einer ‚Sache‘ gleichviel welcher Art, ihm zu gebieten scheinen. Stets ist […] wertrationales Handeln ein Handeln nach ‚Geboten‘ oder oder gemäß ‚Forderungen‘, die der Handelnde an sich gestellt glaubt.“

Journalisten (nicht nur) in Deutschland fühlen sich, wie unschwer zu erraten ist, ganz überwiegend einer Gesinnungsethik verpflichtet und lehnen Verantwortung für die Folgen ihres Handelns ab. So glaube sie, die Pflicht zu haben, über Suizide zu berichten — unabhängig davon, ob diese Berichterstattung zu weiteren Suiziden führt.

Die Erkenntnis, dass es am besten wäre, wenn Medien über die meisten Suizide gar nicht berichten würden, widerspricht also nicht nur dem Wettlauf um Auflage und Quote, sondern auch ganz fundamental dem journalistischen Selbstverständnis eines ganzen Berufsstandes.

Aber dem besinnungslosen Kampf um Aufmerksamkeit, Auflage und Quote widerspricht es natürlich auch, und vermutlich lässt sich nur so die flächendeckend grotesk verantwortungslose Berichterstattung der vergangenen Tage erklären. Man könnte den Eindruck haben, eine ganze Branche hätte sich zu einem großen Feldversuch entschlossen, einmal zu testen, wie weit sich die Zahl der Selbstmörder in die Höhe treiben lässt, wenn man jeden einzelnen Ratschlag zur Suizidprävention ignoriert.

Studien haben gezeigt, dass die Suizidrate nach Berichten über Suizide unter anderem ansteigt,

  • wenn das Opfer besonders prominent ist
  • wenn die Berichterstattung prominent auf den Titelseiten stattfindet
  • wenn sich die Berichterstattung über Tage hinzieht
  • wenn der Ort und die Methode des Suizids genau beschrieben wird
  • wenn sich gefährdete Menschen mit dem Opfer identifizieren können.

Der „Spiegelfechter“ Jens Berger ist schon am vergangenen Mittwoch die Medien-Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft zur Suizidprävention durchgegangen:

Ein Suizid sollte nicht als Aufmacher auf der Titelseite erscheinen. Geschenkt, bis auf die FTD erschien heute kein einziges Publikumsmedium mit einem anderen Thema als Aufmacher.

Es sollten weder Fotos noch Dokumente wie der Abschiedsbrief publiziert werden. Natürlich wäre es naiv, anzunehmen, dass eine Berichterstattung über den Freitod eines Sportstars ohne Foto auskäme. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Abschiedsbrief nicht in den nächsten Tagen 1:1 von der BILD-Zeitung abgedruckt wird, geht derweil allerdings gegen Null.

Der Suizid sollte nicht als nachvollziehbare, konsequente oder unausweichliche Reaktion dargestellt werden oder als alternativlos dargestellt werden. Im Falle Enke hatten die lieben Kollegen der schreibenden Zunft bereits am gestrigen Abend nichts Besseres zu tun, als den Freitod als nachvollziehbare Reaktion auf den Tod seiner Tochter darzustellen.

Die Suizidmethode und der Ort des Suizids sollten weder detailliert beschrieben, noch abgebildet werden. „Natürlich“ weiß heute ganz Deutschland ganz genau, an welchem Ort sich Robert Enke wie umgebracht hat. Selbst komplett irrelevante Details werden in den Rang einer Sondernachricht gehoben.

Und es ist nicht nur die „Bild“-Zeitung, die seit einer Woche alles dafür tut, Auflage, Leid der Angehörigen und Zahl der Suizide zu steigern — und sich im Zweifelsfall wie immer auf ihre „Informationspflicht“ berufen würde. Und nicht nur die genauso skrupellose Fernsehversion namens RTL.

Bei kaum einem Medium (die „FAZ“ vielleicht ausgenommen, bei der ich allerdings natürlich befangen bin) habe ich in den vergangenen Tagen so etwas wie Zurückhaltung aus Sorge um den „Werther-Effekt“ feststellen können. Schon am Dienstagabend enthielten die Meldungen der Nachrichtenagentur dpa jedes verdammte Detail über den Ort und den Ablauf des Geschehens.

Dabei lässt sich sogar zeigen, dass eine veränderte, zurückhaltende Berichterstattung Leben rettet. In Wien gelang es, die Zahl der Suizide und Suizidversuche in der U-Bahn um 60 Prozent zu senken, nachdem die Redaktionen Empfehlungen des österreichischen Vereins für Suizidverhütung umgesetzt hatten, über Selbstmorde nicht emotional, auf keinen Fall mit Foto, nicht auf der Titelseite und möglichst kurz zu berichten.

Noch einmal die Empfehlungen, was Medien tun können, um den „Werther-Effekt“ möglichst gering zu halten:

  • Sie sollten jede Bewertung von Suiziden als heroisch, romantisch oder tragisch vermeiden, um möglichen Nachahmern keine post-mortalen Gratifikationen in Form von Anerkennung, Verehrung oder Mitleid in Aussicht zu stellen.
  • Sie sollten weder den Namen der Suizidenten noch sein Alter und sein Geschlecht angeben, um eine Zielgruppen-Identifizierung auszuschließen.
  • Sie sollten die Suizidmethode und – besonders bei spektakulären Fällen – den Ort des Suizides nicht erwähnen, um die konkrete Imitation unmöglich zu machen.
  • Sie sollten vor allem keine Informationen über die Motivation, die äußeren und inneren Ursachen des Suizides andeuten, um so jede Identifikations-Möglichkeit und Motivations-Brücke mit den entsprechenden Lebensumständen und Problemen des Suizidenten vermeiden.

Oder in konkreter Empfehlung:

  • Beschreibe den Suizidenten, die Methode, den Ort, die Lebensverhältnisse und die Gründe so abstrakt, dass sie kein Anschauungsmaterial mehr enthalten, das einer möglichen Identifikation und Enthemmung Vorschub leisten könnte (nach W. Ziegler und U. Hegerl, 2002).

Nun kann man natürlich sagen, dass es unrealistisch ist, diese Empfehlungen im Fall eines so prominenten und beliebten Menschen wie Robert Enke umzusetzen. Allerdings sind es gerade die Suizide von solchen Menschen, die besonders viele Nachahmungstäter herausfordern. Und bei aller Trauer um den Nationaltorwart, bei aller Anerkennung, was für ein besonderer Sportler und Mensch er gewesen sein mag, muss man die Frage auch stellen, inweit die grenzenlose Heroisierung, die in den vergangenen Tagen passiert ist, gefährlich ist.

Und natürlich hilft es wenig, wenn sich nur zwei, drei Medien an die Empfehlungen halten und sich alle anderen mit spektakulären Bildern, knalligen Titelseiten, detaillierten Grafiken und exklusiven Abschiedsbriefen überbieten. Natürlich müsste es eine Absprache, eine Vereinbarung der Medien geben, sich gemeinsam an bestimmte Vorgaben bei der Suizid-Berichterstattung zu halten. Ich kann aber auch sechs Tage nach dem Tod von Robert Enke keinen Beteiligten, kein Medium erkennen, das überhaupt eine Diskussion über einen solchen Kodex in Gang setzt.

Mag sein, dass es unrealistisch ist, davon auszugehen, dass die Medien anders über einen Fall wie den des Robert Enke berichten könnten. Dann seien wir aber auch ehrlich genug zu sagen, was der Preis für diese vermeintliche Informationspflicht und diesen Verkaufswettkampf ist. Er lässt sich in Menschenleben zählen.

Freigegeben


(„Bild“, 14. November 2009)

Es hat natürlich eine gewisse Konsequenz, das dazuzuschreiben, dass die Paparazzi-Fotos von der Fotografierten „freigegeben“ wurden, bei einer Zeitung, für die Selbstverständlichkeiten keine Selbstverständlichkeit sind. Und wahrscheinlich sind sie bei „Bild“ am Donnerstagabend mit einem seltenen, wohligen Gefühl ins Bett gegangen, endlich mal das Richtige getan zu haben, und trotzdem nicht darauf verzichten zu müssen, die Trauer einer Frau in großen Bildern ausstellen zu können.

Ich wär aber trotzdem gern dabei gewesen, bei dem Gespräch, in dem Teresa Enke die Fotos von ihr „freigab“, und stelle mir das ungefähr so vor:

Ding Dong, wir sind’s, „Bild“ Hannover. Hallo Frau Enke, können wir kurz reinkommen? Nee, danke, wir haben schon was getrunken. Ja, Frau Enke, hamSe ja sicher gemerkt, dass wir Sie heute den ganzen Tag verfolgt haben, vorm Haus, auf dem Weg zum Auto, auf dem Friedhof, mit Ihrer süßen Tochter — die ist aber auch wirklich ein Schatz. Ja, das haben wir natürlich alles fotografiert. Doch, auch auf dem Friedhof, haben Sie vielleicht gar nicht mitgekriegt, mit so einem Tele, von hinter dieser kleinen Baumgruppe! Na, wir wollten da ja auch nicht mehr stören als nötig. Jedenfalls, sehen Sie mal, das hier sind die Fotos, die wir gemacht haben, also unsere kleine Vorauswahl. Und, naja, das soll ja nicht so aussehen, als würden wir die gegen Ihren Willen veröffentlichen, ist ja auch eine schwere Zeit für Sie. Vielleicht können Sie einfach welche raussuchen, die Ihnen gefallen, die okay wären? Das hier, aus dem parkenden Auto, wo der Rückspiegel so eine malerische Unschärfe macht, und Sie ganz in Schwarz in der Ferne, das hat doch was. Ach, eine Handvoll würde schon reichen, muss gar nicht viel sein, das hier, wo Sie allein mit einem Regenschirm am Grab Ihrer Tochter Lara stehen, das können wir zum Beispiel ganz groß ziehen, das wär schon schön. Also, Frau Enke, überlegenSe sich’s. Und Beileid nochmal!

Das Geschäft mit den Bildern

Die Firma, die die Bergungsarbeiten am Bahnübergang gefilmt hat, an dem sich Robert Enke das Leben genommen hat, und die das Glück hatte, auch Teresa Enke in dem Moment gefilmt zu haben, als sie an die Unglücksstelle kommt und verzweifelt die Polizisten fragt, was mit ihrem Mann ist, diese Firma heißt NonstopNews.

Sie ist nach eigenen Angaben der zweitgrößte „unabhängige Nachrichtendienst“ Deutschlands, und Aufnahmen von Unfällen und Bergungsarbeiten, eingeklemmten Verletzten und weggetragenen Leichen sind ihr Geschäft.

Am Dienstag verschickte sie um kurz vor Mitternacht das Angebot per E-Mail an die Redaktionen.

Bilderangebot: Schock für ganz Fußball-Deutschland: Nationaltorwart Robert Enke von Zug erfasst und tödlich verletzt

NewsNr. 10007
Stand: 2009-11-10 20:54:30
Länge: 6+6:00 Min.
Verfügbar: 23.55 Uhr (…)

Datum: Dienstag , 10. November 2009, 18:30 Uhr
Ort: Eilvese, Region Hannover, Niedersachsen
(…)

Die aktuellen NonstopNews-Bilder und die O-Töne :

  • Totale der Einsatzstelle, Großaufgebot Feuerwehr und Polizei vor Ort
  • Regionalbahn auf den Gleisen,
  • Feuerwehrleute stehen rund um den Regionalzug
  • Auto von Robert Enke unweite des Bahnübergangs,
  • Exklusiv: Abfahrt Rettungswagen
  • Exklusiv: Mercedes M-Klasse von Robert Enke wird auf Abschlepper sichergestellt
  • Notfallseelsorger vor Ort Polizei bei Unfallaufnahme
  • Bahnhof Eilvese
  • Seelsorger mit Feuerwehrleuten im Gespräch
  • Frau von Robert Enke, Teresa: „Jetzt sagen sie mir endlich was mit meinem Mann ist“
  • Abfahrt Leichenwagen
  • Zahlreiche Fans an der Einsatzstelle, Regionalzug fährt an stehenden Zug vorbei
  • Fans mit Hannover 96 Trikots und Schals legen Kerzen nieder
  • O-Töne mit mehreren Fans an der Einsatzstelle: …kann gar nicht sein dass Robert Enke tot ist…können uns nicht vorstellen das er das ist…haben aus dem Fernsehen davon erfahren und sind zur Einsatzstelle gefahren…trifft uns wie ein Schlag…kann nicht glauben das er das getan hat…können uns aber nicht vorstellen das er sich umgebracht hat weil Jogi Löw ihn nicht in der Nationalelf spielen lässt…kenne ihn persönlich aus dem Dorf und ist als superlieber netter Typ bekannt, hat ihm aus dem Dorf keiner zugetraut…
  • O-Ton Polizei Hannover (Name auf Band): …Lokführer meldete Person auf den Gleisen… vollbesetzte Regionalbahn…als wir gemerkt haben wer das ist waren wir alle sehr erschüttert…haben Auto gefunden…
  • O-Ton Stefan Wittke, Sprecher von Robert Enke:…sind alle sehr betroffen…habe ihn am Montag das letzte Mal gesehen, gab keine Anzeichen das was nicht in Ordnung ist…war ein großer Mann der uns verloren gehr…man kann noch nicht abschätzen was das für den Verein für Konsequenzen hat…
  • Schnittbilder

Bestellen Sie das TV-Material unter (…) – Standort: Hannover (…)

(Alle Formatierungen im Original)

Und die Fernsehsender nahmen das Angebot an und kauften die Aufnahmen. Mindestens das ZDF, RTL und Kabel 1 zeigten auch die Szene, in der wir erfahren, wie es aussieht, wenn eine Frau an den Ort kommt, an dem sich ihr Mann gerade das Leben genommen hat — ProSieben sogar unverpixelt, mit Ton und, für alle Fälle, Untertiteln.

„Lebt er noch?“

Mittwochabend, 18 Uhr. Die ProSieben-Nachrichtensendung „Newstime“ macht mit dem Tod von Nationaltorwart Robert Enke auf. Stefan Landgraf berichtet.

„Der 32-Jährige hatte sich am Abend vor einen Zug geworfen, ganz in der Nähe seines Wohnortes. Enkes Ehefrau Teresa eilt sofort zum Ort der Tragödie.“

Wir sehen den Zug auf den Gleisen, das hellerleuchtete Führerhaus, Feuerwehrleute, die unter die Lok sehen. Dann die Straße, die Gleise, den Bahnübergang. Und eine junge Frau, die aufgeregt mit einer Gruppe von Helfern spricht. Sie dreht sich einem Polizisten zu. Wir hören, was sie sagt, aber weil ihre Stimme schrill und panisch ist, hat ProSieben es sicherheitshalber dazugeschrieben:

"Sagen Sie bitte, was mit meinem Mann ist."
(Screenshot: Pro Sieben. Unkenntlichmachung von mir.)

Von links läuft ein weitere Helfer ins Bild. Wir hören, wie der Polizist antwortet: „Das kann ich Ihnen jetzt nicht sagen.“ Die Stimme der Frau überschlägt sich jetzt:

"Lebt er noch?"
(Screenshot: Pro Sieben. Unkenntlichmachung von mir.)

Der Polizist sagt noch einmal: „Das kann ich Ihnen jetzt nicht sagen.“ Dann geht der Beitrag weiter mit Bildern derselben Frau Enke auf dem Weg zur Pressekonferenz. „Eine tapfere Frau“, nennt sie der Sprecher.

Als ich bei N24 anrufe, den Sender, von dem ProSieben seine Nachrichten bezieht, versteht man erst meine Frage nach irgendwelchen Reaktionen auf die Ausstrahlung dieser Szene nicht. (Ich wollte nicht gleich fragen, ob der verantwortliche Chefredakteur noch im Amt ist.) Außerdem sei das überall gelaufen, heißt es aus der Sendergruppe, teilweise allerdings verpixelt.

ProSieben-Sprecher Christoph Körfer sagt: „Aus Sicht der Nachrichtenredaktion war es angemessen, die Bilder zu zeigen.“

Nachtrag, 13. November. Mehr dazu hier.

Johannes B. Kerner sucht den „Mini-Mini-Mini-Sinn“ im Tod von Robert Enke

Es ging auf Mitternacht zu, die Medien hatten schon über 24 Stunden lang aus der Sprachlosigkeit über Robert Enkes Tod ein dröhnendes, nicht enden wollendes Geplapper gemacht, als Johannes B. Kerner es schaffte, diese Sprachlosigkeit doch noch einmal kurz wieder herzustellen. Er ließ eine Karte zeigen und sagte zu Jörg Sievers, dem Torwarttrainer von Enke:

„Wir können hier anhand einer Grafik noch einmal darlegen, wie nah [Enkes] Todesort dem Ort ist, wo seine Tochter begraben ist. Das ganze ist ein paar Kilometer nordwestlich von Hannover, Neustadt am Rübenberge, da ist der Friedhof, und ungefähr zwei Kilometer, 2200 Meter entfernt, in Eilvese hat Robert Enke gestern sein Leben beendet. Jörg, glauben Sie, dass es irgendwas miteinander zu tun hat, dass er diesen Ort in der Nähe der Grabstätte seiner vor drei Jahren gestorbenen kleinen Tochter gewählt hat, um sein Leben zu beenden?“

Jörg Sievers, der Torwarttrainer, schnappte einen stillen Moment lang nach Luft, bevor er sich fasste und antwortete:

„Das wäre reine Spekulation, was ich jetzt sage. Wir spekulieren eh sehr, sehr viel. Deswegen möchte ich auf diese Frage nicht antworten.“

Es wäre ein Augenblick gewesen, innezuhalten und kurz zu reflektieren, in welchem Maß sich alle in einen Rausch spekuliert hatten, auf der Suche nach Erklärungen für das Unerklärliche und rationalen Gründen für die Irrationalität einer Krankheit, zu deren Komplikationen der Suizid gehört. Aber Kerner zuckte nicht mit der Wimper, sondern hatte schon ein neues Spekulations-Angebot für Jörg Sievers: Ob nicht vielleicht hinter der rätselhaften Darmerkrankung Enkes vor ein paar Monaten in Wahrheit auch nur die Depression gesteckt habe…

Ein „Fraeulein Tessa“ hatte schon am Dienstagabend, nachdem bekannt wurde, dass Robert Enke sich das Leben genommen hat, getwittert: „Könnte man nun bitte präventiv Kerner und Beckmann absetzen? Danke.“ Es half nichts. Sat.1 kündigte prompt ein „Kerner Spezial“ und wies darauf hin, dass der Fernsehmann den Toten ja von seinen Länderspielen-Moderationen her kenne. Er kam dann aber nicht so schlimm, wie es hätte kommen können.

Dank Kerner hat Sat.1 nun erstmals seit längerer Zeit die Möglichkeit, aktuelle Themen aufmerksamkeitsstark im Programm zu behandeln – und muss die heillosen Spekulationen, das übertriebene Pathos, die pseudojournalistische Aufarbeitung (und vielleicht: die Quote) nicht mehr den Konkurrenten überlassen.

Kerners Gäste Jörg Sievers und Martin Kind, der Präsident von Hannover 96, waren vom NDR herübergekommen, wo sie kurz zuvor in der Sendung „Menschen & Schlagzeilen“ schon von Susanne Stichler zum Spekulieren aufgefordert worden waren. Bei Kerner musste das Drama des Dramas natürlich noch größer werden. Nicht nur von einem trauernden, sondern gleich einem „traumatisierten Land“ sprach er zur Begrüßung, rühmte die Pressekonferenz von Enkes Witwe als „beeindruckenden Auftritt einer wirklich starken Frau“ und stellte dem Vereinspräsidenten zum Einstieg die programmatische Frage: „Herr Kind, wie haben Sie diese Stärke empfunden?“

Nach einem Tag, an dem auf allen Kanälen viel mehr zu dem Thema gesagt wurde, als es zu sagen gab, der Nachrichtensender n-tv selbst die Bilder der Pressekonferenz noch mit dramatisch-kitschiger Musik unterlegte und sich im DSF Sportreporter über Stunden als Experten für das Krankheitsbild Depression versuchten, war dieses „Kerner Spezial“ ein fast unauffälliger Abschluss.

Kerner bemühte sich rührend, das Gespräch vom unbegreiflichen Thema Depression zum viel handlicheren Thema Überforderung und Druck zu lenken, worunter ja nicht nur Profi-Fußballer leiden würden, sondern zum Beispiel auch Geschäftsleute. Und er versuchte, der Tat etwas Gutes abzugewinnen und fragte in seiner unnachahmlichen Art, „ob wir möglicherweise damit rechnen müssen, dass wir in den nächsten Tagen, Wochen und Monaten vermehrt Fälle hören, wo Fußballprofis den Mut finden zu sagen: Auch ich war einmal in der Situation, wo ich, ganz ehrlich, das Gefühl hatte, ich kann nicht mehr.“ Und wenn nun eine offene Diskussion entstehe über die Notwendigkeit, auch Schwächen zeigen zu können: Ob das „möglicherweise einen Mini-Mini-Mini-Sinn des Freitodes von Robert Enke gewesen sein könnte“? Dabei legte er den Kopf ganz treuherzig schief, bevor jemand auf die Idee kommen konnte, dass auch die Medien mit ihrer Gnadenlosigkeit gerade im Sport zu dem unmenschlichen Druck beitragen könnten.

Und dann schaffte er es, dass Sievers und Kind ganz am Schluss noch die Tränen in die Augen stiegen, als sie den großen Robert Enke auf Kerners Bitte hin noch einmal rühmten, und so gesehen muss man es wohl als eine gelungene Sendung bezeichnen.

„Eilmeldung“


Ich fürchte, ich könnte es den Kollegen von „Spiegel Online“ in ihrem Dauerzustand professioneller Atemlosigkeit nicht einmal erklären, was daran so abstoßend ist, die aufgeregt präsentierten Meldungen über den Tod von Robert Enke noch unter dem Banner „Eilmeldung“ zu verkaufen.

(Die Variante, die die Konkurrenz von stern.de gewählt hat, müssen Sie sich in Originalgröße ansehen, um die passende Eigenanzeige ganz oben lesen zu können.)

„Sprachlosigkeit“ ist das Wort, das Journalisten seit gestern immer wieder gebrauchen, um die Reaktionen auf den Tod zu beschreiben, und während sie reden und reden, merken sie gar nicht, dass das eigentlich eine angemessene Reaktion ist: Sprachlosigkeit. Man muss sich, zum Beispiel, das Gespräch im „heute journal“ gestern ansehen, in dem der Reporter Boris Büchler im Studio beschreibt, dass alle trauernden Menschen, die er noch am Abend angerufen hatte, trauern und viele davon sogar so sehr, dass sie gar nicht ans Telefon gegangen seien, um mit ihm darüber zu reden.

Marietta Slomka wusste, dass Robert Enke „vom Pech verfolgt“ war, und Boris Büchler wusste, dass er ein Ausnahmefußballer war, weil er Musicals mochte und lesen konnte und mental so stark war, also, jedenfalls, schien. Für die Sender der Pro-Sieben-Sat.1-Gruppe musste ein Reporter den ganzen Morgen vor dem Hotel der DFB-Mannschaft stehen und im Minutentakt erzählen, dass sich immer noch keiner habe blicken lassen, aber alle geschockt seien und trauerten.

Die Kollegen von „11 Freunde“ haben vor der Aufgabe, über Enkes Tod zu „informieren“, nach eigenen Worten „kapituliert“. Wenige Stunden später wich die Fassungslosigkeit der Empörung:

Diese Art von enthemmtem Journalismus legitimiert sich gern selbst durch die vermeintliche Pflicht, informieren zu müssen. Doch wie kann diese Information an einem solchen Abend aussehen? Archive werden durchwühlt, Formkrisen und Schicksalsschläge des Robert Enke bilden Resonanzräume, in die man gierig hinein lauscht. Gerüchte werden zu Fakten, Hypothesen zu Erklärungen. Aus der scherenschnittartigen Charakteristik der öffentlichen Person, die Robert Enke war, werden Diagnosen für eine private Person konstruiert, von der niemand, der sich daran beteiligt, behaupten kann, dass er sie kannte.

Mutmaßungen sind hier nichts als Anmaßungen. Niemand weiß, was in Robert Enke vorging.

Und noch einmal: Wer will es wissen? Und wen geht es an?