Georg Mascolo glaubte schon vor dem ersten Wahlgang zu wissen, wie er ausgehen würde:
Vielleicht sollten sich Journalisten doch eher auf die Berichterstattung über Nachrichten konzentrieren als auf den Versuch, sie vorherzusagen.
Georg Mascolo glaubte schon vor dem ersten Wahlgang zu wissen, wie er ausgehen würde:
Vielleicht sollten sich Journalisten doch eher auf die Berichterstattung über Nachrichten konzentrieren als auf den Versuch, sie vorherzusagen.
Ich stand am Donnerstag voriger Woche gerade im Nieselregen in der Hamburger Fußgängerzone, als mich Martin U. Müller vom „Spiegel“ auf dem Handy erreichte. Nach ein bisschen Small Talk wechselte er den Tonfall und klang plötzlich, als müsse er etwas sehr Unangenehmes mit mir besprechen. Ihm sei da nämlich eine Information zugespielt worden.
Es stellte sich heraus, dass es nicht um die Sache mit den Schafen im Keller und den missglückten Sex-Experimenten ging, sondern bloß um einen Beitrag, den ich für das Online-Magazin screen.tv geschrieben habe, das die Sendergruppe ProSiebenSat.1 herausgibt. Müller konfrontierte mich mit der Beobachtung, dass ich da sogar im Impressum stünde und wollte wissen: Ob ich kein Problem damit hätte, für ein Unternehmen zu arbeiten, das sonst Gegenstand meiner Berichterstattung sei. Ob ich in Zukunft regelmäßig für die arbeiten würde. Ob die Bezahlung im üblichen Rahmen gewesen sei oder es sich um einen dieser sagenumwobenen Aufträge handele, für die man ein halbes Reihenhaus bekomme. Ob mir bekannt sei, dass der Berufsverband Freischreiber, bei dem ich ja Mitglied sei, eine strikte Trennung von Journalismus und PR-Arbeit fordere.
Ich versuchte, dem „Spiegel“-Redakteur zu erklären, dass es sich nicht um PR handelt, sondern einen journalistischen Artikel, den ich ohne jede Einflussnahme oder inhaltliche Vorgabe geschrieben habe. Bei screen.tv handelt es sich nicht um eine Werbebroschüre, sondern ein journalistisches Magazin, das nur insofern möglicherweise PR für ProSiebenSat.1 darstellt, als damit vielleicht die Hoffnung auf einen Imagegewinn verbunden ist: Dass ein solches Unternehmen es sich in solchen Zeiten leistet, Geld für ein solches Magazin auszugeben.
Ich versuchte den Verdacht, dass ich hier PR für ProSiebenSat.1 betreibe, noch dadurch zu entkräften, dass ich ihn darauf hinwies, dass deren Töchter in meinem Stück keineswegs gut wegkommen, woraufhin er fragte, ob ich das extra gemacht hätte, quasi als Demonstration der Unabhängigkeit, und ich erwiderte: Nein, einfach weil die Streaming-Angebote der Gruppe so schlecht sind. Es war ein anstrengendes Gespräch, was sicher auch daran lag, dass ich nicht verstand, was er mir eigentlich vorwarf, und noch weniger, was daran ein Thema für den „Spiegel“ sein könnte.
Medienjournalismus. Schon das Wort belustigt Begriffsstutze wie Henryk M. Broder, weil sie so tun, als wäre es analog zu Zeitungs-, Fernseh- und Onlinejournalismus gebildet und stelle also eigentlich einen Pleonasmus dar. Dabei steht es in einer Reihe mit Sport-, Politik- oder Wirtschaftsjournalismus; der erste Wortteil bezeichnet nicht das Medium, sondern seinen Gegenstand.
Doch die scheinbare Doppeldeutigkeit des Wortes zeigt auch das Spezielle an der Arbeit als Medienjournalist, das Dilemma beim Schreiben in den Medien über die Medien. Fast jeder Text ist zwangsläufig ein Text über ehemalige oder potentielle zukünftige Auftrag- oder Arbeitgeber, über direkte Kollegen oder Konkurrenten. Fast jeder medienjournalistische Text steht somit unter dem Generalverdacht einer Interessenskollision, eines Kalküls jenseits journalistischer Kriterien.
Ich nehme an, dass diese Situation auch den Medienjournalisten beim „Spiegel“ nicht fremd ist. Was ihnen aber offenbar fremd ist: Dass ein journalistisches Leben außerhalb der „Spiegel“-Redaktion existiert. Dass es Journalisten gibt, sogar Medienjournalisten, die nicht angestellte Redakteure sind, mit festem Gehalt und Einbindung in eine Hierarchie, sondern frei arbeiten, und das sogar freiwillig, nicht aus Not. Und dass diese Freiheit auch eine Form von Unabhängigkeit ist.
Als freier Journalist arbeite ich für verschiedene Auftraggeber. Die Auftraggeber sind Medienunternehmen. Medienunternehmen sind Gegenstand meiner Berichterstattung. Fast jeder Text ist insofern angreifbar, und dagegen hilft nur eines: der Beweis der Unabhängigkeit in der täglichen Arbeit.
Und damit sind wir wieder beim „Spiegel“, der tatsächlich Platz fand in seiner Ausgabe vom vergangenen Montag für ein Stück über mich und meinen Artikel im von ihm anonymisierten „Online-Magazin der ProSiebenSat.1 AG“. Der „Spiegel“ wirft mir nicht vor, einen bestellten PR-Text für ProSiebenSat.1 geschrieben zu haben. Er findet ausdrücklich, dass mein Text sich „nicht wie eine Eloge auf die Sendergruppe“ lese. Warum es sonst verwerflich ist, als Medienjournalist für ein journalistisches Magazin zu schreiben, wenn es nicht von einem Verlag, sondern einem Fernsehsender herausgegeben wird, lässt der „Spiegel“ offen. Martin U. Müller raunt nur, ich nähme es „offenbar nicht ganz so genau, was die Distanz zum Gegenstand [meiner] Berichterstattung betrifft“.
„Kritiker in der Kritik“ steht übrigens als Überschrift über der „Spiegel“-Meldung, und das ist einerseits natürlich ein alter Journalisten-Trick, sich quasi unsichtbar zu machen, aber die Wirkung des eigenen Tuns vorwegzunehmen. Der Kommentator dot tilde dot beschreibt den Effekt so:
interessant an dieser kritik ist, dass sie nur „ist“ und gar nicht stattfindet – außer im spiegel-artikel, der über die kritik berichtet. die aber gar nicht stattfindet, außer im spiegel-artikel, der über sie berichtet. obwohl sie nicht stattfindet.
(mir wird schwindelig. ich habe das gefühl, abschweifen zu müssen, um beim thema zu bleiben.)
Andererseits gab es die „Kritik“ aber tatsächlich schon vor dem Artikel, und das ist womöglich die interessantere Geschichte als die Frage, warum der „Spiegel“ mich kritisiert. Martin U. Müller ist nämlich nicht über die offizielle Pressemitteilung auf meine Mitwirkung an dem Magazin aufmerksam geworden, oder über Google oder Turi2, sondern über eine anonyme Mail. Der Absender hat sie in ähnlicher Form auch als Kommentar an verschiedenen Orten abgegeben, unter anderem hier im Blog unter dem Namen „finanzbeamter“:
Seit Februar2009 gab es für Herrn Niggemeier im Bereich Call TV nichts mehr über 9live zu berichten.Dafür engagiert er sich aber gerne für die Unternehmenskommunikation der Gesellschafterin, zusammen mit seinem Spezi Peer Schader. Wenn das mal kein Gschmäckle hat.
Ich kenne den Absender nicht, der allem Anschein nach auch schon unter anderem Namen hier kommentiert hat; offenkundig ist aber, dass er aus dem Umfeld der Call-TV-Branche und ihrer besonders schwarzen Schafe kommt. Dieselbe E-Mail-Adresse wurde auch schon benutzt, um als Drohungen zu verstehende Nachrichten an Kritiker des dubiosen Treibens von Call-TV-Firmen wie Primavera.TV verschickt.
Dieser Unbekannte hatte also Lust, mir ein bisschen Ärger zu machen – und fand ausgerechnet beim „Spiegel“ tatsächlich ein offenes Ohr. Die lustige Verschwörungstheorie, wonach ich (wenn ich das richtig verstehe) von ProSiebenSat.1 gekauft worden sei und deshalb nicht mehr kritisch über 9live berichte, hat zwar explizit dann doch keinen Weg in den „Spiegel“ gefunden. Aber Martin U. Müller konfrontierte mich im Telefongespräch tatsächlich auch mit diesem Vorwurf.
Und das, obwohl der nicht einmal einer schlichten Überprüfung der Fakten standhält: Ich habe noch im August 2009 über 9live berichtet. (Kann natürlich sein, dass ich erst danach gekauft wurde.)
Das ist das einzig wirklich Ärgerliche an meinem unfreiwilligen Gastauftritt im „Spiegel“: Dass das Nachrichtenmagazin sich beim Versuch, mich ein bisschen zu ärgern, zum Erfüllungsgehilfen irgendeines dubiosen Dunkelmanns gemacht hat, der gerade versucht, Call-TV-Kritiker einzuschüchtern.
In einem Punkt immerhin gibt der „Spiegel“ zu, in seiner Berichterstattung über Oskar Lafontaine und sein angebliches Verhältnis zu Sahra Wagenknecht einen Fehler gemacht zu haben.
Aber machen wir vorher noch einen kurzen Abstecher in die heutige Medienkolumne von Kai-Hinrich Renner im „Hamburger Abendblatt“, in der er schreibt:
In Berliner Politik-Kreisen gilt es mittlerweile als gesichert, dass die „Spiegel“-Story stimmig ist. Der klagefreudige Lafontaine hat bisher nicht mal eine Gegendarstellung verlangt.
„Stimmig“ ist ein schönes Wort in diesem Zusammenhang. Offenbar wissen weder Renner noch die „Kreise“, mit denen er gesprochen hat, ob die „Spiegel“-Geschichte stimmt. Vielleicht hatte das „Abendblatt“ auch nur keine Lust, die angebliche Klagefreude des Politikers doch noch herauszufordern.
Aber das erleichtert die journalistische Arbeit natürlich ungemein, wenn sich Stimmigkeit oder Plausibilität als neues publizistisches Kritierium durchsetzt: Endlich nicht mehr recherchieren müssen, was war, sondern nur noch, was gewesen sein könnte. Das veröffentlicht man dann, und wenn der Betroffene „nicht mal eine Gegendarstellung verlangt“, nimmt man es fortan als wahr an. (Was hätte Lafontaine in der vergangenen Woche auch anderes zu tun gehabt, als sich um Gegendarstellungen zu kümmern — mal abgesehen von der Frage, wie klug ein solches Vorgehen gewesen wäre. Im übrigen behauptet der „Spiegel“ nicht einmal, Lafontaine habe ein Verhältnis zu Wagenknecht, sondern nur, dass es Gerüchte in der Linkspartei gebe, die ihm das unterstellen. Was hängen bleibt, ist natürlich etwas anderes.)
Ich kann nicht beurteilen, ob die „Spiegel“-Behauptungen über Lafontaine wahr (oder auch nur „stimmig“) sind, und zu der perfiden Art, wie der „Spiegel“ seine Umwidmung zum Klatschblatt rechtfertigt, ist an anderen Stellen schon genug gesagt worden. Aber nachhaltig faszinierend finde ich es, wie die „Spiegel“-Autoren sich zu ihrem Gerüchtetext, der überwiegend aus Fragen besteht, eine zusätzliche Scheinquelle gebastelt haben. Sie schreiben:
Auch ein Bericht der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ vor zwei Wochen („Lafo hat was am Laufen mit Sahra Wagenknecht“) blieb unwidersprochen.
Aber die „FAS“ hat das nicht berichtet. Sie hat in ihrer wöchentlichen Kolumne „Herzblatt-Geschichten“, die ironisch die Behauptungen der Klatschblätter kommentiert, berichtet, dass das in der „Bunten“ stehe, dort angedeutet unter anderem durch die Formulierung:
„Die Kommunistin Sahra Wagenknecht, intime Kennerin von Lafontaines Positionen und nicht nur in Streikfragen mit ihm auf Augenhöhe, verlangt wie er regelmäßig französische Verhältnisse.“
Und woher hat die „Bunte“ diesen merkwürdigen Satz? Aus dem „Spiegel“, wo sich die Autoren Stefan Berg, Markus Deggerich und Frank Hornig mit ihm Mitte Oktober für eine „vielversprechende Karriere in der Bütt“ empfohlen hätten, wie Jens Berger treffend kommentiert.
Also noch einmal: Der „Spiegel“ schreibt, was die „FAS“ schreibt, was die „Bunte“ schreibt, was der „Spiegel“ schreibt. Oder kürzer: Der „Spiegel“ bestätigt sein eigenes Gerücht mit seinem eigenen Gerücht. Hut ab vor soviel Chuzpe.
Ich habe gestern Georg Mascolo, den „Spiegel“-Chefredakteur gefragt, ob so ein Vorgehen seriös sei. Er hat das nicht direkt beantwortet, sagt aber:
„Die Autoren haben für dieses Stück wochenlang recherchiert. Es gibt keinen Anlass an der Darstellung zu zweifeln.
Bei dem Text in der FAS handelt es sich erkennbar um eine Glosse; sie hätte so im SPIEGEL nicht zitiert werden dürfen.“
Wie gesagt: Immerhin.
PS: Natürlich hat sich das Klatschblatt „Bunte“ auch in dieser Woche wieder dem Thema gewidmet, unter der bestimmt lustig gemeinten Überschrift: „Oskar und die linke Lady“. „Bunte“ weist darauf hin, dass Frau Wagenknecht „süß-saure Krabben im Wok oder Lammhüfte in Rotweinjus“ koche und 1997 mit „reichlich Brautschmuck im Haar“ geheiratet habe, „obwohl“ sie noch 1989 in die SED eingetreten sei. Und als einen Beleg für die Affäre nennt „Bunte“ was? Natürlich:
Auch die renommierte „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ berichtete vor zwei Wochen: „Lafo hat was am Laufen mit Sahra Wagenknecht.“
Die Medien haben das Perpetuum Mobile entdeckt. Läuft ohne Antrieb von außen, macht aber viel Dreck.
[Offenlegung: Ich schreibe regelmäßig für die FAS.]
Es ist, wie immer, alles noch schlimmer. Der traurige Versuch einer „Spiegel“-Redakteurin, in der ohnehin unwürdigen Presseschau-Rubrik des „ZDF-Morgenmagazins“ die Titelgeschichte des Blattes zum Thema Recht im Internet zu erklären, der als YouTube-Video seit einigen Tagen die Runde macht — das war ihr wacher Auftritt.
Dies hier ist ihr Auftritt in derselben Sendung, zum selben Thema, eine gute Stunde zuvor:
Ich weiß nicht, ob diese Sprach- und Haltlosigkeit repräsentativ für die Redaktion des Nachrichtenmagazins ist. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass genau diese Mischung aus halb verstandenen Schlagworten und nicht verstandenen Zusammenhängen für einen Großteil der Bevölkerung exakt das ist, was von den Diskussionen der vergangenen Wochen und der „Spiegel“-Titelgeschichte hängen geblieben ist.
Es gibt eine ganz einfache Methode, aus Texten über das schlimme Internet die Luft herauszulassen. Man ersetze in ihnen einfach „digital“ durch „analog“ und „Netz“ durch „Welt“ und schaue, ob die Aussagen trotzdem stimmen.
An einem zentralen Absatz der aktuellen „Spiegel“-Titelgeschichte lässt sich das ganz gut demonstrieren:
Im NetzIn der Welt tost nicht nur Karneval, es herrscht auch Krieg.Der CyberspaceDie Welt des 21. Jahrhunderts ist in der Hand von globalen Playern des Kommerzes, Finanzjongleuren, wirtschaftlichen und politischen Tyrannen. Die Grauzonen dieser neuen Weltordnung werden vom organisierten Verbrechen genutzt. Während an der Oberfläche desdigitalenanalogen Reichs tausend bunte Blumen blühen, Shopping, Chats, Schöngeistiges, wuchert im Wurzelwerk darunter ein Pilzgeflecht aus Intrigen, Täuschung und Terror.
Passt. Was der „Spiegel“ als bemerkenswerte Eigenart des Internet beschwört, ist also nur eine allgemeine Zustandsbeschreibung unserer Welt.
Man hätte im konkreten Fall natürlich auf den Test auch verzichten können, weil das Nachrichtenmagazin im nächsten Satz versucht, einen tatsächlichen Gegensatz zwischen „Netz“ und „Welt“ aufzubauen, und kläglich scheitert:
Das Netz, so sehen es manche, bedroht den Frieden der Welt.
Der Friede der Welt ist bedroht?? Nein, halt: Es herrscht ein Friede der Welt??
Ich wüsste gerne, ob die Menschen in der Dokumentation des „Spiegel“ wenigstens kurz in sich hineingekichert haben, als sie das lasen, bevor sie sich wieder an die anderen Artikel im Heft über Piraten, Terroristen, den „Kriegseinsatz von Ärzten“, ein „Kriegsverbrechertribunal für Bangladesh“, Vergewaltigungen als „Alltag des Krieges“ im Kongo, die „tödliche Logik der Gewalt“ in Nahost und „Hollywoods Kampf gegen den Irak-Krieg“ setzten.
Die These des Aufmachers lautet etwa: „Das Internet ist kein rechtsfreier Raum, kann aber leicht mit einem verwechselt werden“, möglicherweise aber auch: „Das Internet ist ein rechtsfreier Raum, müsste das aber nicht bleiben“, ganz genau ist das nicht auszumachen. Das Stück gehört zum beliebten „Spiegel“-Multi-Autoren-Genre, in dem das Hauptziel ist, so viele Namen, Zitate und Faktenfetzen wie möglich in einem Text unterzubringen, die dann notdürftig miteinander verbunden werden.
Argumentative Stringenz ist dabei natürlich optional. So packen die Redakteure die Geschichte des Buchhändlers Amazon, der von ihm illegal verkaufte digitale Bücher auf den Lesegeräten seiner Kunden kürzlich löschte, in das Kapitel, in dem sie behaupten, dass der „digitale Fortschritt die zivilisierte Welt in die Zeit der Selbstjustiz, des Faustrechts zurückführen könnte“. Dabei ist der Fall ein interessantes Beispiel für das Gegenteil. Dass es unendlich dumm war von Amazon, die Bücher einfach zu löschen, ist das eine. Das andere ist: dass Amazon womöglich im Recht war. Wer gutgläubig Diebesgut kauft, hat keinen Anspruch darauf, es behalten zu dürfen. Im „wahren Leben“ kommt dann zwar auch nicht der Buchhändler und holt ein solches Buch aus dem Regal. Aber das Recht gilt, es lässt sich bloß nicht oder nur unter größten Mühen durchsetzen. Mit anderen Worten: Die analoge Welt ist ein rechtsfreier Raum. (Warten Sie nicht auf die entsprechende „Spiegel“-Titelgeschichte.)
Es gäbe unendlich viele solche Beispiele, auf die man aber natürlich nicht kommt, wenn man gleich am Anfang des Artikels die analoge Welt als Friedensidyll beschrieben hat. Bei allem gelegentlichen Versuch zum Differenzieren verlässt der „Spiegel“-Artikel auf seinen Millionen Zeilen an kaum einer Stelle die Grundannahme, dass es darum gehe, das Internet soweit zu zähmen, dass es so frei und zivilisiert wird wie der Rest der Welt. Dass viele Mächtige, nicht nur in China, längst erfolgreich daran arbeiten, im Internet Dinge zu kontrollieren, auf die sie außerhalb des Netzes keinen Zugriff haben, passt nicht ins Denkmuster der „Spiegel“-Geschichte. Dabei verbindet sich mit dem Internet genau so der Traum von der totalen Kontrolle wie der von der totalen Freiheit.
Perfide ist der Text gleich am Anfang, als er erst beschreibt, wie ein Polizist im Internet gegen Kinderpornographie kämpft, und dann fortfährt:
Sie sind ganz schön weit, die Kämpfer um die staatliche Hoheit im Cyberspace.
Die an der anderen Front aber auch. Die Flagge mit dem schwarzen Segel auf weißem Grund weht schon in unmittelbarer Nähe des Berliner Regierungszentrums: Die Piratenpartei hat Ende Juni ihr Wahlkampfbüro für die Bundestagswahl eröffnet.
„Die an der anderen Front“? Da muss man schon sehr genau aufpassen beim Lesen, um nicht zu denken, dass die Piratenpartei für den freien Zugang zu Kinderpornographie kämpft.
Was der „Spiegel“ aber mit den merkwürdigen Sätzen meint, dass es mit Informationen im „Paralleluniversum“ (gemeint ist das Internet) schlimmer sei „als mit Atommüll“ („Sie haben nicht einmal eine Halbwertszeit. Im Internet gibt es keine Zeit und keinen Zerfall.“), testet derweil eine „Spiegel“-Redakteurin mit einem denkwürdigen Auftritt im „ZDF-Morgenmagazin“:
Lesenwerte Auseinandersetzungen mit dem „Spiegel“-Titel:
Manchmal kann man dieser Tage den Eindruck bekommen, dieser alte Konsens gelte nun nicht mehr: Weil unter der vielen Information im Netz auch so viel ist, das dem einen oder anderen nicht behagt. („Spiegel Online“)
(Das letzte ist natürlich nicht wirklich eine Antwort auf den „Spiegel“-Artikel. Liest sich aber so.)
In ein paar Stunden wird Frank-Walter Steinmeier sein Wahlkampfteam vorstellen, und die Frau, die für die Familienpolitik zuständig sein soll, wird aller Voraussicht nach Manuela Schwesig heißen.
Manuela Schwesig ist seit vergangenem Oktober Sozialministerin in Mecklenburg-Vorpommern, und ihr größter Vor- und Nachteil ist, dass sie noch kein Mensch kennt. (Vielleicht ist das in Wahrheit auch nur ihr zweitgrößter Vor- und Nachteil, und ihr tatsächlicher größter Vor- und Nachteil ist, dass sie so gut aussieht, aber das ist jetzt gar nicht das Thema*.)
Um den Menschen eine solche Unbekannte vorzustellen, oder genauer: anstatt den Menschen eine solche Unbekannte vorzustellen, bekommt sie von den Medien sogleich ein Label oder eine Schublade, und der „Spiegel“, der Frau Schwesig passend zu ihrer Bundes-Premiere in dieser Woche einen Tag lang begleiten durfte, hatte gleich eine naheliegende Kurzformel gefunden und sie direkt in die Überschrift geschrieben: „Die Anti-von-der-Leyen.“ Inhaltlich belegt der Artikel die Behauptung, die darin steckt, zwar nicht so recht. Eigentlich besteht der politische Gegenentwurf im „Spiegel“ nur aus einem Satz: „Dass [Schwesig] aber das Gefühl habe, bei all dem Geburtenratensteigern gerate anderes aus dem Blick: die Kinderarmut, die Probleme Alleinerziehender, die mangelnde Bildung schon bei den Jüngsten.“
Aber es gibt ja eine viel offenkundigere und eingängigere Art des Anti-von-Leyenismus: die Biographie. Der „Spiegel“ schreibt:
Schwesig ist für Ursula von der Leyen eine durchaus ernstzunehmende Gegnerin, sie ist ihr erster leibhaftiger Gegenentwurf. 35 Jahre alt, ostdeutsch, ein Kind, sozialdemokratisch. Von der Leyen ist 50 Jahre alt, westdeutsch, sieben Kinder, konservativ.
Ihr erster leibhaftiger Gegenentwurf? Nun gut. Das erschien am Montag.
Am Dienstag berichtete das „Hamburger Abendblatt“ über das Schattenkabinett Steinmeiers und das „Engagement“ der „bis dato weithin unbekannten 35-jährigen Manuela Schwesig“ — einer Frau, von deren Existenz der Autor vermutlich auch erst durch den „Spiegel“ erfahren hat:
Die Sozialministerin von Mecklenburg-Vorpommern soll das Gegenmodell zur beliebten CDU-Familienministerin Ursula von der Leyen geben. Lange hatte die Parteiführung nach einer geeigneten Kandidatin für diesen Job gesucht. Schwesig ist alleinerziehende Mutter eines zweijährigen Sohnes, sie steht anders als von der Leyen nicht für eine konservative heile Welt. Ob das reicht, um den in den Umfragen taumelnden Genossen Auftrieb geben zu können, wird aber bezweifelt.
Die Logik ist von erschütternder Schlichtheit: Als sei es etwas Bemerkenswertes, dass nicht schon die bloße Tatsache, dass die Schattensozialministerin „nicht für eine konservative heile Welt“ steht, die SPD aus dem Getto einer 20-Prozent-Partei befreit. Der Text ist auch merkwürdig reaktionär in der Art, wie er schon aus dem Fehlen eines Ehemannes eine nicht-heile Welt im konservativen Sinne konstruiert. (Es sei denn, man geht davon aus, dass außer einem Mann auch noch 1 bis 6 Kinder fehlen.)
Der „Abendblatt“-Text hat aber ein größeres Problem: Es heißt Stefan, ist seit neun Jahren Manuela Schwesigs Mann und wähnte sich bis Dienstag glücklich verheiratet.
Was tat der Autor, nachdem er auf den Fehler hingewiesen wurde? Er ließ das Wort „alleinerziehend“ unauffällig aus der Online-Version seines Textes löschen. Und, immerhin: Die Zeitung druckte am Mittwoch eine Korrektur, in der sie darauf hinwies, dass die Sozialministerin in Wahrheit verheiratet sei.
Ohne dieses, nun ja: Detail wirkt die Argumentation des „Abendblatts“ zwar noch verwegener. Aber das wäre ja nur dann ein Problem, wenn die Argumentation auf den Fakten aufbauen und daraus Schlussfolgerungen ziehen würde — und nicht von der Behauptung des Gegensatzes ausgehen und sich dann entsprechende (Schein-)Belege zurechtsammeln würde.
*) „Financial Times Deutschland“: „Die 35-Jährige Sozialministerin von Mecklenburg-Vorpommern wird in Schwerin als ‚Deutschlands jüngste und schönste Ministerin‘ gefeiert.“ — dpa: „Jung, Frau, Mutter, Ostdeutsche und dazu noch ausgestattet mit einem gewinnenden Lächeln. Es dürften zunächst wohl diese offenkundigen Eigenschaften gewesen sein, die Manuela Schwesig auf die Liste möglicher Mitglieder im Schattenkabinett von SPD- Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier brachten.“ — „Der Spiegel“: „Es ist ein schwüler Sommertag, sie trägt die blonden Haare offen, sie ist sehr hübsch. Vermutlich spricht sie deswegen besonders ernst und bedacht. Das Schöne und die Politik sind einander häufig feind.“
Die deutschen Verleger haben einen überraschenden Durchbruch im Kampf ums Überleben erzielt. Ihre Forderung, im Internet besser behandelt zu werden, ist offenbar auf europäischer Ebene erfüllt worden. In einem „internationalen Abkommen“ wurde festgelegt, „geistiges Eigentum“ künftig besser zu schützen. Das berichtet bereits seit vorvergangenem Donnerstag das große deutsche Online-Portal Bild.de:
Das ist… öhm, wie sag ich’s? Unsinn.
Es hat eine fast beruhigende Konsequenz, dass die Deppen von Bild.de es nicht einmal bei einer Pressemitteilung ihres eigenen Verlages und einem Thema, das der Axel Springer AG augenblicklich am Herzen liegt wie kein zweites, schaffen, korrekt zu berichten. Sie haben das Unterschreiben einer Forderung mit einem „Abkommen“ verwechselt und die Übergabe dieser Forderung mit ihrer Erfüllung — Gott, das ist aber auch schwer auseinander zu halten.
Helmut Heinen, der Präsident des Zeitungsverlegerverbandes BDZV, und sein Hauptgeschäftsführer Dietmar Wolff werden also wohl noch eine Weile Zeit haben, ihre Leistungen im Synchronsprechen zu perfektionieren. (Heinen: „Wir werden es nicht länger hinnehmen, dass aufwändig produzierte Qualitätsinhalte der Verlage von Dritten kommerziell genutzt werden, ohne dass dafür auch nur ein Cent an die Verlage zurückfließt.“ Wolff: „Wir können nicht länger hinnehmen, dass unsere teuer produzierten Qualitätsinhalte von Dritten bedenkenlos kommerziell genutzt werden, ohne dass dafür auch nur ein Cent an die Verlage gezahlt wird.“)
Es ist davon auszugehen, dass die Verleger mit „Qualitätsinhalten“ auch das meinen, was die Produktion bei Bild.de täglich so ausstößt. Weniger klar ist, wer eigentlich die Leute sind, die ihnen diese Inhalte so „kommerziell“ oder gar „bedenkenlos kommerziell“ wegnehmen.
Die Firma Google, die sich — wohl nicht zu unrecht — angesprochen gefühlt hat, hat schon lapidar darauf hingewiesen, dass kein Autor oder Verleger es hinnehmen muss, dass seine Inhalte mithilfe von Suchmaschinen für die Öffentlichkeit auffindbar gemacht werden. Ein einfacher Befehl verwehrt Google den Zugriff und damit die kommerzielle Vermarktung dieser Suchergebnisse durch Google (reduziert allerdings auch die Zahl der Leser dramatisch).
Die bloße Möglichkeit der Verweigerung ist natürlich angesichts der marktbeherrschenden Stellung des Unternehmens und seiner beunruhigenden Intransparenz keine befriedigende Antwort. Aber sie zeigt, dass die Behauptung eines unzulässigen, ungewollten Zugriffs auf Verlagsinhalte abwegig ist. Die Verlage stören sich nicht am Zugriff, im Gegenteil, sie sind abhängig davon. Sie sind nur nicht mehr zufrieden damit, dass sie von Google nur Leser bekommen. Sie wollen auch Geld.
Foto: Axel Springer
Die „Hamburger Erklärung“ (Foto: internationale Version), auf die sich die eingangs erwähnte Falschmeldung von Bild.de bezieht, ist am 8. Juni 2009 von den sechs Hamburger Verlagen Bauer („Coupé“), Springer („Bild“), Ganske („Für Sie“), Gruner+Jahr („Stern“), „Spiegel“ und „Zeit“ unterschrieben worden. Seitdem gibt es eine Art Wettlauf, möglichst viele weitere Unterzeichner zu versammeln. In der Erklärung heißt es:
Zahlreiche Anbieter verwenden die Arbeit von Autoren, Verlagen und Sendern, ohne dafür zu bezahlen.
Ich habe bis heute nicht verstanden, wer sich hinter diesen „zahlreichen Anbietern“ verbirgt. Aber die vielen Unterzeichner können mir das ja bestimmt erklären. Und bei der Gelegenheit gleich mit, wen sie meinen, wenn sie schreiben:
„Wir widersprechen all jenen, die behaupten, dass Informationsfreiheit erst hergestellt sei, wenn alles kostenlos zu haben ist.“
Also mal bei ein paar Unternehmen nachgefragt:
Wie beispielsweise dpa mit einer speziellen Software Attributor durchforsten auch wir — derzeit noch anhand von Suchworten — systematisch das Internet, um die Nutzung unserer Artikel zu verfolgen. Dabei stellen wir einerseits häufig Verstöße gegen das Urheberrecht fest, die heute schon aufgrund der Rechtslage verfolgt werden können. Darüber hinaus gibt es aber auch eine Vielzahl von Adaptionen unserer Inhalte, die wir nicht mit urheberrechtlichen Mitteln bekämpfen können. Es handelt sich dabei z.B. um solche Seiten, die z.B. durch eine Inhaltsbeschreibung unserer Artikel und unter Ausnutzung unseres Logos unsere Stellung als Verlagshaus nutzen, um die Informationen auf ihren Seiten aufzuwerten und dem Leser entsprechende Orientierung zu vermitteln. Konkrete Beispielsfälle will ich hierzu nicht nennen, weil sie nicht Thema einer größeren öffentlichen Auseinanderseztung sein sollen.
Auf die Frage, wer denn behaupte, dass „alles kostenlos zu haben“ sein muss, verweist er „auf eine auch im Rahmen des Urheberrechtes geführten Diskussion, die eine noch deutlichere Entsprechung auf europäischer Ebene hat“ und nennt als einziges Beispiel den Heise-Artikel über den Vortrag des Münsteraner Urheberrechts-Experten Thomas Hoeren mit der Überschrift: „Informationsfreiheit hat Priorität vor dem Urheberrecht“.
Der Artikel ist siebeneinhalb Jahre alt. Er stammt vom 29. Januar 2002. Ich bezweifle auch, dass man der Position von Professor Hoeren gerecht wird, wenn man ihm die Forderung unterstellt, alles müsse kostenlos sein. Gegenüber der „Welt“ hat er erst vor wenigen Tagen unter bestimmten Voraussetzungen für ein Leistungsschutzrecht für Buch-Verleger plädiert — genau das, was die Presseverlage auch fordern.
In der Erklärung heißt es: „Zahlreiche Anbieter verwenden die Arbeit von Autoren, Verlagen und Sendern, ohne dafür zu bezahlen.“ Können Sie mir Beispiele für solche Anbieter nennen?
Zum Beispiel die zahlreichen Angebote, die Online-Inhalte aggregieren — allen voran selbstverständlich Google.
In der Erklärung heißt es: „Wir widersprechen all jenen, die behaupten, dass Informationsfreiheit erst hergestellt sei, wenn alles kostenlos zu haben ist.“ Können Sie mir sagen, wer solche Forderungen vertritt?
Die Debatte um die kostenlose und freie Nutzung aller Online-Inhalte — auch jener, die derzeit bereits ausreichenden Schutz genießen — zieht ja mittlerweile weite Kreise bis hin zu politischen Initiativen (weitreichende Forderungen in diesem Sinne z.B. http://www.piratenpartei.de/navigation/politik/unsere-ziele.)
Gut, das mit der Piratenpartei habe ich kommen sehen. Dazu ließe sich jetzt inhaltlich einiges sagen, was die wirklich fordert. Aber man darf vermutlich nicht vergessen, dass die „Hamburger Erklärung“ am Tag nach der Europawahl verabschiedet wurde, bei der die Piraten erdrutschartige 0,9 Prozent der Stimmen erzielten.
Nachtrag, 23. Juli: Anstelle einer Antwort schreibt mir Gruner+Jahr:
Zu Frage 1:
Damit sind alle Anbieter gemeint, die ohne ausdrückliche Zustimmung von Verlagen Inhalte redaktioneller Websites kopieren und auf ihren eigenen Seiten veröffentlichen. Nicht gemeint ist die Verlinkung auf redaktionelle Websites.Zu Frage 2:
Dies spricht vor allem diejenigen an, die einen universellen Zugang, den auch wir befürworten und praktizieren, mit zwingend kostenlosem Zugang verwechseln.
Die Presseverleger haben sich offenkundig zum Ziel gesetzt, mit der „Hamburger Erklärung“ den Erfolg des „Heidelberger Appells“ nachzuahmen — einem Pamphlet, das Dinge vermischt, die nichts miteinander zu tun haben, und als Diskussionsgrundlage völlig untauglich ist, aber inzwischen von Hans und Franck unterschrieben wurde. Unter der Hand lassen manche keinen Zweifel daran, was für ein grauenhaftes Dokument diese „Hamburger Erklärung“ ist, die offenbar aus dem Bereich des Axel-Springer-Außenministers Christoph Keese stammt (und deren englische Übersetzung, die der EU-Kommission übergeben wurde, bizarrerweise nicht einmal mit dem Original übereinstimmt).
Es ist ein Dokument der Hilflosigkeit, ein ziellos-hysterisches „So tu doch einer was“, bei dem es auf Inhalte nicht ankommt, solange nur möglichst viele mitschreien. Kein Wunder, dass die einzelnen Verlage nicht wissen, was sie genau da unterschrieben haben, oder keine Lust haben, sich dazu öffentlich zu äußern. Es eint sie das Gefühl, dass irgendwer jetzt aber echt mal irgendwas tun muss — und es hilft sogar, die Forderungen nicht zu konkret zu formulieren, sonst fällt noch jemandem auf, wie radikal sie sind.
Burda deutet es wenigstens an: Es geht nicht nur um Google, sondern um Aggregatoren allgemein. In Wahrheit stört die Verleger zum Beispiel schon ein Angebot wie Turi2, das die Nachrichten des Tages (mehr oder weniger gut) zusammenfasst. Mit etwas Pech reicht den Lesern schon der eine Satz, der bei Turi steht, und sie schenken dem Medium, das ihn (womöglich aufwändig) recherchiert hat, nicht einmal mehr einen Klick, der sich in einen (mickrigen) Werbeerlös umwandeln lässt.
Das ist ein Problem, aber um es mit Google zu sagen: „Einige Vorschläge der Nachrichten-Verleger haben die besten Absichten, aber würden die Art, wie das Netz funktioniert, grundlegend verändern — zum Schlechten.“
Ja, da gibt viel zu diskutieren und zu bedenken, und manche Mechanismen des Web, die es erleichtern, Zugang zu Nachrichten und hochwertigen Inhalten zu bekommen, erschweren gleichzeitig die Produktion dieser Nachrichten und hochwertigen Inhalte. Und die Antwort der Verlage auf diese Herausforderung ist es, eine „Hamburger Erklärung“ zu unterschreiben, deren wirre Behauptungen man auf Nachfrage nicht einmal belegen kann oder mag? Wirklich?
Der „Spiegel“ will von mir wissen, ob Obamas Präsidentschaft der Wirtschaft helfen wird:
Wenn ich ihm meine Meinung sage („k.A.“), komme ich auf eine Seite, die nicht dem „Spiegel“ gehört, sondern der Finanzholding avantaxx, die mir als „Dankeschön“ für meine Meinung die Gewinnchance auf ein Auto verspricht.
Genau genommen scheint es sich dabei nicht um das Dankeschön für meine Meinung, sondern für meine E-Mail-Adresse und die Erlaubnis zum Weiterverkauf zu handeln, denn im „Hinweis zur Datennutzung“ heißt es:
Ihre E-Mail-Adresse und Ihren Namen speichert und verwendet die SPIEGEL-Gruppe auch über die Dauer des Gewinnspiels hinaus, um Sie künftig über interessante Angebote auch von Partnerunternehmen zu informieren.
Was ich mich nur frage: Wie viele Leute, die an der Verlosung eines Autos teilzunehmen glauben, werden wohl voher die Teilnahmebedingungen gelesen haben?
Ich hatte mich gerade schon in Rage gedacht über diese Überschrift bei „Spiegel Online“, die im Artikel durch nichts gedeckt wird als diese Formulierung:
Aber zum Glück muss ich mich darüber nicht mehr aufregen wundern, denn das hat Malte Dahlgrün im „Dummy“-Blog schon getan.
(Überhaupt eine gute Gelegenheit, endlich mal darauf hinzuweisen: Seit ein paar Wochen hat Oliver Gehrs‘ feine Zeitschrift auch ein Blog, in dem es anfangs fast ausschließlich um Stefan Aust ging, inzwischen aber auch um dies und das, meistens aus der Medienwelt.)
Und noch ein Gedanke zu Peer Steinbrück. Ich weiß nicht, was er über die Chancen der SPD bei der nächsten Bundestagswahl denkt. Aber ich kann eine kleine Plausibilitätsrechnung anstellen. Es sind noch 18 Monate bis zur Wahl. Die SPD liegt in den Sonntagsfragen zehn Prozentpunkte hinter der CDU/CSU. 18 Monate vor der letzten Bundestagswahl lag die SPD in den Sonntagsfragen über zwanzig Prozentpunkte hinter der CDU/CSU. Bei der Wahl betrug der Rückstand dann einen Prozentpunkt.
Springer-Blätter fälschen und unterdrücken Nachrichten. Das war das schlichte Urteil von Kai Hermann, als er im Frühling 1968 für die „Zeit“ untersuchte, wie „Bild“, „B.Z.“ und die anderen Zeitungen aus dem Hause Axel Springer über die Demonstrationen nach dem Attentat auf Rudi Dutschke berichteten.
Springer forderte daraufhin von der „Zeit“ eine Unterlassungserklärung. Die Wochenzeitung sollte sich verpflichten, nicht mehr zu behaupten:
Weil die „Zeit“ aber, wie der „Spiegel“ am 13. Mai 1968 gut gelaunt berichtete, gerne bereit war, „mit einer Fülle von Belegen“ diese Behauptungen nachzuweisen, sorgten sich die Rechtsvertreter Springers, dass das selbst beantragte Verfahren zum Springer-Tribunal würde. Plötzlich versuchten die Anwälte, das Thema von der Springer-Berichterstattung auf die Berichterstattung der Berliner Springer-Blätter zu Ostern zu reduzieren. Und Otto Köhler schrieb im „Spiegel“:
Doch auch die verzweifelte Selbstbeschränkung nützte dem Verlagshaus Springer nichts. Denn selbst die Beweismittel, die [Springers Anwalt] Arning dafür anbot, daß die Springer-Zeitungen wenigstens zu Ostern nicht gefälscht hätten, erschienen dem Gericht zu dürftig.
Ein Beispiel: Kai Hermann hatte es als „Falschmeldung“ bezeichnet, daß „Bild“ als einzige Zeitung der Bundesrepublik einen Gladbecker Möbelhausbrand mit der Suggestivschlagzeile „Ist das Demonstration? Ist das Diskussion? Möbelhaus in Brand gesteckt“ oppositionellen Studenten zur Last legte.
Um zu beweisen, daß „Bild“ hier nicht gefälscht habe, legte Arning dem Gericht eine dpa-Meldung vor. Doch der Hinweis auf studentische Beteiligung lautete: „Möglicherweise in Zusammenhang mit den Demonstrationen der letzten Tage steht ein Großbrand am Ostersonntag.“ Das reichte, um mit „Bild“-Balken-Zeilen in der ganzen Bundesrepublik Demonstranten zu Möbelhausanzündern zu machen.
Das Gericht gab der „Zeit“ weitgehend Recht und entschied, dass man einstweilig behaupten dürfe, dass die Berliner Springer-Blätter die Wahrheit verfälschen und ihre Redakteure das Fälschen nicht lassen können. Die „Zeit“ hätte allerdings nicht behaupten dürfen, dass „in Berliner Springer-Zeitungen Nachrichten von Übergriffen und Brutalitäten auf seiten der Polizei konsequent unterdrückt werden“. Denn wie der „Spiegel“ süffisant hinzufügte:
Konsequent nicht. Da auch Springer-Redakteure Menschen sind, geht ihnen solch eine Nachricht manchmal durch.
Was für Zeiten das waren! Was für Zeiten das waren, kann man wunderbarerweise jetzt selbst nachlesen; geschildert nicht nur aus dem Rückblick der Historiker, sondern aus Zeugnissen der damaligen Gegenwart: In den „Spiegel“-Artikeln von damals, die mit dem ganzen Archiv seit kurzem kostenlos zugänglich sind.
Kaum eine Woche verging im Jahr 1968, in der sich der „Spiegel“ nicht an Axel Springer und seinem Imperium abarbeitete. Manchmal genügte es, einfach unkommentiert ein Gerichtsurteil abzudrucken, wie die bemerkenswerte Entscheidung des Amtsgerichtes Esslingen, das es am 22. Oktober 1968 ablehnte, ein Hauptverfahren wegen Nötigung gegen einen Anti-Springer-Demonstranten zu eröffnen. Der 25-Jährige hatte vor der Ausfahrt eines Esslinger Verlages geparkt, um die Auslieferung der „Bild-Zeitung“ verzögern zu helfen. Und das Gericht argumentierte:
(…) Der Verleger Axel Cäsar Springer beherrscht einen Großteil des deutschen Zeitungsmarktes. Diese Machtstellung wird bei der öffentlichen Meinungsbildung wie auch im wirtschaftlichen Leben rigoros ausgenutzt … Die Springer-Zeitungen sind außerdem Musterbeispiele publizistischer Verantwortungslosigkeit. Es wird nicht objektiv berichtet — viele Richter wissen das aufgrund der falschen Gerichtsberichte über eigene Verhandlungen (auch in Esslingen sind konkrete Fälle bekannt) –, sondern aus Stimmungsmache, oder um einen Knüller zu haben, die Wahrheit gebogen, ja, es wird effektiv gelogen.
So wird im nichtpolitischen Sektor wahrheitswidriger, gefühlsbetonter Klatsch gemacht; im politischen Sektor, wo nicht so leicht zwischen Wahrheit und Unwahrheit unterschieden werden kann, wird zumindest die Kritik eliminiert und nur eine bestimmte Meinung gemacht. Was dies bei der Verbreitung insbesondere der „Bild-Zeitung“ bei der einfacheren Bevölkerung bedeutet, bedarf keiner Erörterung.
(…) Auch die politisch engagierten Studenten erkannten die Gefahr für unsere Demokratie durch die Konzentration und die Gleichschaltung der Presse und vertraten mehrfach diese Meinung, speziell im Hinblick auf die Springer-Presse.
Diese unbequemen Studenten wurden hierauf von der Springer-Presse in einen Topf geworfen mit Gammlern und Halbstarken und als Radaubrüder qualifiziert … Die politischen Ansichten dieser Studenten mögen radikal, ja revolutionär sein; in einer freiheitlichen Demokratie sollte eine freie Presse aber objektiver darüber berichten. Wenn „Bild“ am 7. 2. 1968 schreibt: „Man darf über das, was zur Zeit geschieht, nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Und man darf auch nicht die ganze Dreckarbeit der Polizei und ihren Wasserwerfern überlassen“, so ist dies nicht eine demokratische Auseinandersetzung mit einem Andersdenkenden, sondern üble Stimmungsmache und Aufhetzung zu Gewalttaten (§ 130 StGB!).
Vor diesem Hintergrund ist die Meinung, der Mordanschlag auf Rudi Dutschke sei ein mittelbarer Erfolg der durch die Springer-Presse gegen die radikalen Studenten aufgewiegelten und manipulierten Öffentlichkeit, zumindest verständlich. (…)
Auf fast zwei Seiten dokumentierte der „Spiegel“ nach den Oster-Unruhen überwiegend kritische Stimmen über Springer — darunter dieses wunderbare Zitat aus der „Bayerischen Staatszeitung“ vom 19. April 1968:
Zahlreiche Analysen des Inhalts der „Bild-Zeitung“ haben den Nachweis erbracht, daß dieses Blatt seit Jahren immer wieder seine Leser einseitig, lückenhaft und unsachlich informiert … Sie scheut nicht davor zurück, die Wahrheit zu verfälschen, wenn mit der Unwahrheit Ressentiments aufgerührt werden konnten. Die „Bild-Zeitung“ spiegelt sehr deutlich wider, wie Zeitfragen von einem Teil unserer Gesellschaft, und zwar von den intellektuell wenig Geschulten, von einseitig Orientierten und halb Informierten erörtert werden. Dieses Gespräch ist durchsetzt mit Halbwahrheiten, Neid, Haß und Vorurteilen, mit Dummheit, Spießbürgertum und Desinteresse.
Schon mit der ersten Ausgabe des Jahres 1968 hatte der „Spiegel“ eine achtteilige Serie über Axel Springer begonnen („Ich werde Deutschland wiedervereinigen, ob Sie es glauben oder nicht“). Darin unter anderem auch ein „Psychogramm Axel Springers“ von Wilhelm Backhaus, der pikanterweise jahrelang als Kolumnist für Springer schrieb und die Bedeutung von „Bild“ so zusammenfasste:
In Deutschland hingegen sind seit dem Kriege gerade Minderwertigkeitsgefühle und Ressentiments verlegerisch zu nutzen, und das gelang Springer mit dem kongenialen Chefredakteur von „Bild“, Peter Boenisch, noch auf eine besondere, viel gefährlichere Weise. Sie erreichten es, daß sich der Konsument von „Bild“ nicht mehr mit dem Lesen begnügt; er wird aktiviert, man animiert ihn zur Zuschrift, man redet ihm ein, daß seine Stimme Volkes Stimme sei, daß Deutschland durch seinen Mund spricht.
So ist das Millionenheer der „Bild“-Leser bewußt zu einer politischen Macht aufgebaut worden, die ebenso bewußt gelenkt wie ausgespielt werden kann. Ihr Gewicht ist längst viel zu groß, als daß irgendein Politiker es noch wagt, sich ihr entgegenzustellen. Daß dies keine bloß konstruierten Spekulationen sind, hat Springer selbst durch die wiederholte Behauptung bestätigt, er und seine Politik erhielten ihren Auftrag, ihre Legitimation durch die tägliche Millionenzahl seiner Zeitungskäufer und -leser.
Am 22. Januar beschrieb der „Spiegel“ das Verhältnis zwischen Axel Springer und dem „Bild“-Chefredakteur Peter Boenisch:
(…) „Bild“-Boenisch weiß, was der „Bild“-Verleger wünscht — edel sein oberhalb der Rentabilitätsgrenze.
Um dieses respektablen Ziels willen wird täglich der eklige „Bild“-Brei aus Blut, Tränen und Hormonen angerührt und an Millionen Leser verfüttert. Es Boenisch vorzuhalten, hieße einem Marinaden-Händler den Matjes-Geruch ankreiden. Eine Zeitung, die täglich von fünf Millionen Deutschen gekauft werden soll, muß widerwärtig sein. (…)
Selbst die „Spiegel“-Leserbriefe jener Zeit sind lesenwert:
Als Zeitungs- und Zeitschriftenhändler, der sich gegen die einseitige, uniformierte Meinungsmache der Springer-Presseerzeugnisse zur Wehr setzte und in Leserbriefen (auch im SPIEGEL, wie extra vom Chefjustitiar erwähnt wurde) seiner Meinung Ausdruck gab, wurde mir von einem zum anderen Tag die Belieferung aller im Springer-Verlag erscheinenden Zeitungen und Zeitschriften gesperrt; „damit wurde meine Existenzgrundlage vernichtet.
Ich begrüße daher die SPIEGEL-Serie über diesen Mammutkonzern, der nicht diskutieren will, sondern jeden, der sich die veröffentlichte Meinung dieser Blätter nicht aufzwingen läßt und widerspricht, unter Druck setzt. Ich hoffe, daß dieser Presse-Allmacht recht bald die Flügel beschnitten werden, damit unsere Demokratie lebendig bleibt und nicht im Sumpf diktatorischer Gleichmacherei zur Farce wird.
Mellendorf (Nieders.) HERMANN PIEPERGebt Springer auch den Rest der Presse, dann hält die Wahrheit ganz die Fresse!
Berlin ALEX ARMBRÜSTERStärkt Axel Springer, bekämpft alle Pinscher!
Eschborn (Hessen) WILHELM HÖRNICKE
Und genüsslich zitierte das Nachrichtenmagazin, was Axel Springer über den „Spiegel“ sagte – natürlich nicht dem „Spiegel“ direkt, sondern in einem Fernsehgespräch:
In der Sendung „Dialog“ des Zweiten Deutschen Fernsehens fragte Klaus Harpprecht am vergangenen Donnerstag Axel Springer, was er von der Kritik an seinem Konzern halte:
SPRINGER: Ich würde sagen, die Angriffe im SPIEGEL und „Stern“, die berühren mich wenig, fast gar nicht. Ich will hier etwas verraten: Ich lese die auch nicht. Es ist der Ratschlag eines guten Freundes, sie nicht zu lesen. Ich lasse sie lesen. Das, was dort an perfiden Dingen, unwahren Dingen über mich gesagt worden ist und über unser Haus gesagt worden ist, da haben mich die juristischen Berater meines Hauses belehrt, daß man heutzutage da nicht einschreiten kann. Wir haben es also auch gelassen.
Wenn man all das heute liest, fällt auf, mit wieviel Leidenschaft und teilweise offensichtlicher Lust sich der „Spiegel“ in die Auseinandersetzung mit Springer stürzte — natürlich auch selbst nicht frei von Ideologie, aber in beeindruckender Breite und Tiefe, mit vielen Dokumentationen und offenkundig getragen von dem Gefühl der großen Bedeutung dieses Themas.
Die Bedienung des neuen „Spiegel“-Wissensportals ist noch ein ziemlicher Alptraum. Aber die Schätze, die sich darin finden, lohnen das mühsame Graben. Und weil sich alle Artikel unmittelbar verlinken lassen und ohne Registrierung gelesen werden können, wird das Archiv allmählich von Google entdeckt werden, und bei irgendwelchen Suchen wird man ganz selbstverständlich auf „Spiegel“-Artikel aus vergangenen Jahrzehnten stoßen. Das ist, nicht nur wenn es um die 68er geht: revolutionär.