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Super-Symbolfotos (37)

Ich glaube, Meldungen wie die von der psychisch kranken Frau aus Kansas, die sich wegen einer Phobie zwei Jahre lang nicht mehr traute, das Badezimmer zu verlassen, und deren Haut schließlich vermutlich im Verlauf mehrerer Wochen mit dem Toilettensitz verwuchs, sind Tests, ob sich Journalisten unter der dichten Schicht Alltags-Zynismus noch so etwas wie Menschlichkeit bewahrt haben. Abstrakter und weniger pathetisch formuliert: Es sind Tests der Qualität eines Mediums.

stern.de hat — wie auch der Online-Auftritt der „Rheinischen Post“ — diesen Test vergangene Woche nicht auf Anhieb bestanden:

(Inzwischen ist der Bildtext geändert.)

[Mit Dank an Jörg-Olaf!]

stern.de für Runden Tisch zu Kommentaren

Für meinen „FAS“-Artikel über Kommentare bei den großen Online-Medien habe ich mich auch über die Kommentar-Praxis bei stern.de erkundigt. Von den ausführlichen Antworten, die ich von Chefredakteur Frank Thomsen und der Community-Managerin Katarina Rathert (per E-Mail) bekam, konnte ich nur einen Bruchteil im Artikel verwerten. Aber zum Glück ist hier ja noch ein bisschen Platz.

Welche Themen laden besonders zum Kommentieren ein?

Rathert: „Die User melden sich besonders dann gern zu Wort, wenn sie persönlich betroffen sind oder wenn es um politische Diskussionen geht. Kommt beides zusammen, erleben wir regelmäßig Rekorde hinsichtlich der Zahl der Kommentare: zuletzt etwa beim Thema Rauchverbot in Restaurants, Steuerhinterziehung oder der Privatisierung der Bahn.“

Was sind das für Leute, die kommentieren?

Rathert: „Wir haben einen festen Stamm von Usern, die sich regelmäßig mit Kommentaren beteiligen. Insgesamt machen aber alle mit – vom studierten Experten bis zum Hartz-IV-Empfänger. Die große Mehrheit sind ganz normale Menschen, denen es Spaß macht, ihre Meinung mitteilen zu können.“

Wie wird bei stern.de moderiert?

Rathert: „Wir moderieren. Wir rügen auch, wenn es nötig ist. Und wir schalten ab, wenn es gar nicht anders geht. Alles nach dem Grundsatz: Mit und für den User, nicht gegen ihn. Alle User-Beiträge auf stern.de gehen ohne vorherige Kontrolle online. Nur so ermöglichen wir den Usern eine schnelle und direkte Diskussion. Für uns als Betreiber der Seite erhöht das die Notwendigkeit, zügig und aufmerksam zu lesen, denn selbstverständlich wollen wir weder Pöbeleien noch gar Gesetzesverstöße auf stern.de haben. Wird ein User ausfallend, löschen wir zunächst den Kommentar. Wiederholt er ihn, sperren wir seinen Account. Laufen ganze Diskussionen aus dem Ruder, rufen wir zur Mäßigung auf. Hilft das nicht, schalten wir die Kommentarfunktion ab. Das mussten wir zum Beispiel beim Brand des Hauses in Ludwigshafen tun. Hier hatten ein paar ausländerfeindliche Störer so viele Kommentare eingestellt, deren Inhalte mit dem Recht auf Meinungsäußerung nicht mehr gedeckt waren, dass eine vernünftige Debatte nicht mehr möglich war.“

Was sind die größten Probleme, die auftauchen?

Rathert: „Weniger als 5 Prozent der Kommentare machen Probleme. Das reicht von harmlosen Unsinnstexten über Beleidigungen bis zu rechtsradikalen oder menschenverachtenden Kommentaren. Wenn wir die User ermahnen, sind manche ganz überrascht oder fühlen sich ehrlich missverstanden – der Reiz, mal deftiger seine Meinung zu sagen als von Angesicht zu Angesicht, wirkt auf manche User verführerisch. Andere löschen wir.“

Thomsen: „Wir möchten gern daran festhalten, dass die Kommentare bei uns zu jeder Zeit geöffnet sind. Kommentare ermöglichen den direkten Kontakt zwischen User und Redakteur. Unsere kritische Berichterstattung über pornografische und rechtsradikale Inhalte bei SchülerVZ etwa ging auf einen Leserkommentar zurück, dem wir nachgegangen sind. Außerdem dienen die Kommentare auch der Anregung: Themen, die besonders bewegen, greifen wir verstärkt auf.

Bislang gelingt es uns ganz gut, die Meinungsrandalierer im Griff zu behalten. Aber wir diskutieren intern sehr ernsthaft, ob wir zum Beispiel das Anmeldeverfahren so ändern müssen, dass sich jeder mit seinem echten Namen an den Kommentaren beteiligen muss. Das würde vielleicht die Rüpel abhalten, denen stern.de keine Plattform geben will.

Nach der Phase der fast kindlichen Euphorie darüber, dass user generated content so einfach zu bekommen ist, müssen wir Medien nun dringend in die nächste Phase eintreten: User herzlich willkommen — aber nur die, die sich an die Mindestregeln von Communities halten. Ich rege einen runden Tisch der publizistischen Sites an, um nach einem Weg zu suchen, wie wir Rechtsradikale und Beleidiger nach Möglichkeit komplett von unseren Seiten fernhalten. Zum Wohle der 95-%-Mehrheit unter unseren Usern, die sich mit Verstand und Freude an den Kommentaren beteiligen.“

Der Fluch der Gleichgültig

In Dresden ist heute erstmals der Sächsische Förderpreis für Demokratie verliehen worden, und wenn man diesem Preis etwas wünschen darf, dann vielleicht, dass sich im nächsten Jahr ein richtiger Medienpartner findet.

Und nicht wieder nur stern.de.

Über welchen Fehler im Bericht über die Verleihung mag man sich dort wohl am meisten ärgern, wenn schätzungsweise am Montagvormittag erstmals wieder jemand mit Deutschkenntnissen zum Dienst antritt?

Über einen der Komma-, Anschluss- und Grammatikfehler? Über den falsch geschriebenen Nachnamen des sächsischen Ministerpräsidenten, den falsch geschriebenen Vornamen eines der Preisträger oder den mal falsch, mal richtig geschriebenen Nachnamen des Initiators? Darüber, dass man im Bildtext Anetta Kahane und Christian Petry zu Empfängern des Preises gemacht hat, obwohl sie ihn verliehen haben? Über die Schreibweise „Mittwaida“ statt „Mittweida“, obwohl es vier Zeilen vorher richtig steht? Darüber, dass der Link in der letzten Zeile nicht funktioniert, weil sich ein Leerzeichen darin versteckt? Oder darüber, dass dem Satz „Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit“ aus einem Flugblatt der Weißen Rose die letzte Silbe abhanden gekommen ist?

Ich glaube, ich weiß es:



Die Sonntagsruhe von stern.de

Weiß eigentlich jemand, ob die groß angekündigte Online-Offensive des „Stern“ schon begonnen hat? Oder hab ich das Kleingedruckte überlesen, und stern.de will Spiegel Online nur von montags bis freitags zwischen, sagen wir, 10 und 18 Uhr Konkurrenz machen?

Es war ein ziemlich nachrichtenreicher Sonntagabend, und das kam nicht einmal überraschend: In der Schweiz und in Polen wurden Parlamente gewählt, in Brasilien wurde ein Formel-1-Weltmeister gekürt. Und fast alle großen Nachrichtenseiten berichteten am Abend darüber, dass die SVP in der Schweiz gewonnen hat, aber nicht so dramatisch. Dass in Polen anscheinend die Opposition gewonnen hat, und zwar durchaus dramatisch. Und dass Kimi Räikkönen wegen Ermittlungen gegen mehrere Fahrer doch noch um seinen Titel bangen musste. (Spiegel Online informierte mit Abstand am aktuellsten, ausführlichsten und analytischsten.)

Nur bei stern.de hat der Letzte (und, nach der Menge und Qualität des Outputs zu urteilen, womöglich Einzige) offenbar gegen 18 Uhr das Licht ausgemacht. Vorher hat er noch eine notgedrungen vage formulierte dpa-Meldung über die Wahl in der Schweiz auf die Seite geschaufelt, Stand: 17.31 Uhr. Der jüngste Artikel über die Wahlen zum Sejm wartet auch am späten Abend noch mit der spannenden Information darüber auf, dass die Wahlbeteiligung bis 10.30 Uhr bei 8,36 Prozent lag, und fabuliert von einem „Kopf-an-Kopf-Rennen“. Und was am Abend nach dem Ende des Formel-1-Finales noch geschah — mei, der Räikkönen ist ja dann doch noch als Weltmeister bestätigt worden, da ist doch schön, wenn man sich als stern.de-Leser das hektische Nachrichten-Hin und -Her zwischendurch einfach ersparen kann.

Redaktionell unabhängig

„Eins von diesen Dingen gehört nicht zu den anderen“, sangen wir mit der „Sesamstraße“, und auf der Startseite von stern.de gibt es das Spiel auch:

Zwischen die diversen redaktionellen Angebote der „Stern“-Familie hat sich ein Hinweis auf die neue RTL-Show „6! Setzen“ geschmuggelt. Ohne jeden Umweg führt er direkt auf die Seite zur Sendung auf RTL.de. „Wir“ haben ein Trainingslager eingerichtet? stern.de? Nö: RTL. Ach, da ist ja auch das Logo. Wie praktisch.

Das ist jetzt einerseits nicht so überraschend, denn erstens gehört der „Stern“ ebenso wie RTL zum weiten Universum von Bertelsmann, und zweitens produziert die Firma I&U von Günther Jauch nicht nur die Sendung „Stern TV“, sondern auch „6! Setzen“ — bleibt alles irgendwie in der Familie.

Aber andererseits ist das doch nicht ganz das, was man sich unter der Trennung von Redaktion und Werbung bei Möchtegernqualitätsseiten so vorstellt.

Dabei hat es an Werbung für Jauchs neue Show auf stern.de ohnehin schon nicht gemangelt: In „Stern TV“ hat Jauch gestern fleißig dafür getrommelt, und auf den Seiten von „Stern TV“ auf stern.de lässt sich das in schöner Ausführlichkeit nachlesen — ebenfalls mit dem prominent platzierten Hinweis, dass man sich doch direkt an der Quelle informieren soll: Im „Trainingscamp“ auf rtl.de.

Aus der stern.de-Redaktion ist zu hören, die Anweisung zur ungekennzeichneten Werbung auf der Startseite sei von „ganz oben“ gekommen, wo auch immer das sein mag.

Auf meine Frage, ob stern.de solche Aktionen für alle RTL-Sendungen mache oder nur die von I&U produzierten, antwortete stern.de-Chef Frank Thomsen, es handele sich um eine einmalige Aktion, eine „redaktionelle Kooperation“: Man habe von RTL eine Reihe von Fragen bekommen, aus denen stern.de einen Wissenstest gemacht habe, der bei den Lesern sehr gut angekommen sei. Im Gegenzug habe RTL darum gebeten, einen solchen Hinweis-Kasten zu bekommen, der ins Trainingscamp führt. „Wenn’s Pro Sieben oder das ZDF gewesen wäre“, sagt Thomsen, „hätten wir auch nicht anders entschieden.“

Ich frage mich nur, warum das ZDF dann zum Beispiel für seine Mediathek groß auf den teuren Werbeplätzen von stern.de wirbt, wenn doch redaktionelle Plätze so einfach zu haben sind.

(Genau genommen produziert Jauchs Firma „Stern-TV“ übrigens nicht für RTL, sondern für die Firma dctp, und zwar, wie es in der Zulassung durch die Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) heißt, „von RTL rechtlich und redaktionell unabhängig“. Auf diese Weise erfüllt RTL seine Pflicht, Sendezeiten an „unabhängige Dritte“ abzugeben, was die Meinungsvielfalt sichern soll. Ja, genau.)

„Ums Kaufen geht es nicht“

Ich habe — in Nachklapp zu meiner Kritik an „Stern-Shortlist“ — stern.de-Chef Frank Thomsen ein paar Fragen gestellt:

  • Spricht es wirklich für die Entertainment-Kompetenz des „Stern“, dass die Rezensionen auf den Seiten nicht vom „Stern“, sondern von Amazon kommen?
  • Wäre es nicht fair (und im Sinne einer Trennung von redaktionellen und werblichen Inhalten auch rechtlich notwendig), den Absender dieser Rezensionen zu kennzeichnen? Wäre es vorstellbar, im „Stern“ Rezensionen abzudrucken, die für Hugendubel oder Thalia angefertigt wurden, ohne dies kenntlich zu machen?
  • Stimmt es, dass eine Erweiterung in Richtung Klingeltöne geplant ist, und ist Ihr Partner dann Jamba?

Seine Antworten lauten wie folgt:

  • Amazon-Rezensionen: Sie sind eine Handreichung für User, die sich überlegen, eines der Angebote zu erwerben, die man auf stern-shortlist findet. Sie sind aber für das, was stern-shortlist ausmacht, nicht weiter wichtig. Das Angebot soll eine unterhaltsame Community werden für alle die, die Spaß haben und sich auskennen bei Film, Musik, Büchern, Games.
  • Nennung der Herkunft: Eine gute Idee! Nehme ich mit in unsere nächste Redaktionssitzung von stern-shortlist.
  • stern-shortlist wird erweitert werden, das stimmt. Klingeltöne sind eine Option, vorrangig aber sind Songs. Wir werden auch hier die Option zum Kauf anbieten, mit wem, steht noch nicht fest. Und auch hier gilt: Mit wem, ist auch gar nicht wichtig, denn ums Kaufen geht es nicht – es ist nur der aus unserer Sicht sinnvolle Service, wenn jemand kaufen will.

Thomsen bemängelt auch „einige leider gravierende Fehler“ in meinem Blog-Eintrag, die er wie folgt korrigieren möchte:

  • stern-shortlist ist ein werbefinanziertes Angebot. Erfolg und Misserfolg werden sich daran entscheiden, ob eine ausreichende Zahl von Menschen Spaß an dem Angebot findet — und ob die Werbewirtschaft es bucht. Provisionserlöse werden allenfalls 5 Prozent des Umsatzes ausmachen.
  • Man kann Listeneinträge natürlich kommentieren (Ihr Beispiel Fernsehserien, Star geboren). Jeder User kann kleine Kommentare zu seinen Listeneinträgen schreiben, die dann als Mouse-over zu lesen sind.
  • Und: Die Listen sind nicht so angelegt, dass man nur käufliche Produkte eintragen kann. Das Gegenteil ist richtig: Man kann sowohl Käufliches als auch Nicht-Käufliches eingeben, wie man ja auch reichlich auf der Seite sieht. Der Grund: Es ist uns letztlich egal, ob jemand was kauft oder nicht.

Mit Verlaub, alles in „Stern-Shortlist“ ist auf den Verkauf angelegt. Mag sein, dass die Provisionserlöse nur einen kleinen Anteil am Umsatz ausmachen werden (ich habe gar nichts Gegenteiliges behauptet), aber das gesamte Angebot ist darauf angelegt, dass Leute Dinge empfehlen, die man kaufen kann, was „Stern-Shortlist“ zu einem hochinteressanten Werbeumfeld macht (genau das habe ich behauptet).

Um zu erleben, in welchem Maß es bei „Stern-Shortlist“ um käuflich zu erwerbende Produkte geht, muss man nur einmal selbst eine Liste anlegen. Als erstes wählt man eine „Rubrik“ aus — aus neun Kategorien von Dingen, die man dann gleich kaufen kann (!), und einer namens „Mix“, die mutmaßlich dafür gedacht ist, zum Beispiel Bücher und Musik mischen zu können.

Im nächsten Schritt ist es nicht möglich, einfach einen Listenpunkt einzugeben. Man muss, bevor man weitermachen kann, auf „Suche“ klicken…

…und die Suche wirft einem dann käuflich zu erwerbende Produkte zum Suchbegriff aus:

Erst wenn man unten das hellgraue Feld, in dem man eigentlich, wenn man „nicht zufrieden“ ist mit den Suchergebnissen, Dinge wie „Titel, Quelle, Bezugsmöglichkeiten etc.“ eingeben soll, zweckentfremdet und hier nochmal den eigenen Begriff wiederholt, taucht er in der Liste auf. Und das System dankt es einem, indem es den neuen Listeneintrag in die Kategorie „unbekannte Produktart“ packt.

(Und wie man kleine Kommentare zu seinen Listeneinträgen schreiben kann, so dass sie per Mouse-Over sichtbar werden, weiß ich nicht. Sonst aber anscheinend auch keiner. Ich habe keine Redaktionsliste gefunden, die diese Möglichkeit nutzt. Nachtrag: Doch, es gibt sie.)

stern.de lässt von Amazon rezensieren

stern-shortlist, das Entertainmentportal für Fortgeschrittene: Das Wort „Fortgeschrittene“ bezeichnet Entertainment-Profis, aber auch die Web 2.0-Generation sowie User wie die stern.de-Nutzer.
(Aus der Selbstdarstellung.)

Auf merkwürdige Ideen kommen die großen Verlage, wenn sie versuchen, irgendwas zu den Zauberworten „Web 2.0“ und „Community“ auf den Markt zu bringen. Bei stern.de entsteht unter dem Namen „Shortlist“ seit Montag ein „Listen-Universum“: Mitarbeiter und Leser sortieren Musik, Filme, Bücher und andere Produkte in Listen wie „Filme, in denen Jack Nicholson noch keinen Bauchansatz hatte“ oder „Songs, mit denen man garantiert jede Party beendet“.

Das wirkt auf den ersten Blick charmant und unterhaltsam, entpuppt sich aber auf den zweiten als unbrauchbare Mogelpackung.

Im Pressematerial heißt es: „stern-shortlist ist ein redaktionelles Angebot“ und: „stern-shortlist macht sich die Entertainment-Kompetenz des stern zu eigen“. Nun ja, so groß scheint diese Kompetenz nicht zu sein. Denn hinter den Listeneinträgen findet man keine redaktionellen Besprechungen aus der „Stern“-Redaktion, sondern Kritiken von Amazon, dem „Shortlist“-Partner, bei dem man die Produkte aus den Listen auch gleich bestellen kann. Die Besprechungen haben Autorenzeilen, aber den Hinweis, dass die Autoren nicht für den „Stern“ oder stern.de schreiben, sondern einen Buchhändler, hat man, äh: vergessen.

Das ist nicht nur wegen der mangelnden Transparenz und der offensichtlichen Fixierung auf möglichst große Verkaufszahlen unerfreulich. Wenn Amazon ein Produkt nicht besprochen hat, gibt es auch in den „Shortlists“ keine weiterführenden Informationen. Und selbst wenn es eine Amazon-Besprechung gibt, lässt sie häufig die entscheidende Frage, die eine Liste aufwirft, unbeantwortet.

Es ist ja eine nette Idee, eine Liste über Fernsehserien anzulegen, in denen ein „Star geboren wurde“, und dort auf Platz 6 die „Lindenstraße“ einzutragen. Aber wer nicht weiß, dass die Karriere von Til Schweiger da begann, erfährt es hier nicht. In den Listen selbst kann man keine Zusatzinformationen angeben, und in der „Shortlist“- bzw. Amazon-Besprechung taucht sein Name nicht auf, was allerdings kein Zufall ist, weil Schweiger in den ersten 52 Folgen, auf deren DVD-Box die Liste verlinkt, noch gar nicht dabei war.

Überhaupt, was ist das für ein Unsinn: Ich kann der Welt meine zehn Lieblingsserien mitteilen, aber nicht einmal zu jeder Serie einen kurzen Kommentar hinzufügen, um zu erklären, warum ich „Malcolm mittendrin“ verehre und was genau ich an „Arrested Development“ so großartig finde? Und daraus soll eine angeregt diskutierende Community entstehen?

Zum Tod von Ulrich Mühe bietet die Redaktion eine Liste „Filme, die das Lebenswerk von Ulrich Mühe dokumentieren“. Sie ist exakt so informativ, als hätte ich seinen Namen bei der Internet Movie Database oder bei Amazon eingegeben hätte. Kein Wort darüber, welches Werk ein Geheimtipp ist, warum man einen Film vielleicht einem anderen vorziehen sollte, nichts. Welchen Grund gibt es, sich diese Liste ansehen, außer um die Klickzahlen und Provisionen von stern.de in die Höhe zu treiben? (Lustigerweise findet die ohnehin kaum brauchbare Suchfunktion die Liste nicht einmal, wenn man nach Ulrich Mühe sucht.)

Eigentlich sind die Listen so angelegt, dass man nur käuflich zu erwerbende Produkte eingeben kann. Zum Glück werden sie von den Usern längst fleißig missbraucht — für Listen wie „Alles, was zeigt, dass die Jugend von heute für’n Arsch ist“ und „Alles, was an stern-shortlist.de äußerst ekelhaft ist“:

Ich weiß nicht. Auf mich wirkt „Stern-Shortlist“ wie ein Angebot, das ungefähr alle Wünsche von stern.de erfüllt (mehr Klicks, mehr Provisionen, ultra-kommerzielles Umfeld für Werbekunden, mehr Schein-Content bei minimalem redaktionellen Aufwand) und ungefähr keinen der Nutzer. Ist das dieses Web 2.0, von dem man so viel hört?

Nachtrag, 26. Juli. Gerd Kamp hat das gestern anscheinend noch offen in der Gegend herumstehende Redaktionssystem von „Stern-Shortlist“ entdeckt, und enthüllt nicht nur schöne Texte aus der internen Registrierungsseite („Als Mitarbeiter von Gruner + Jahr texte ich ohne Vergütung“), sondern auch Zukunftspläne: Listen, die für Klingeltöne werben, womöglich in Kooperation mit Jamba.

Wer Internet-Fundstücke groß rausbringt

Es war, sagt stern.de-Chefredakteur Frank Thomsen, „für stern.de der größte Scoop der letzten Zeit“: das „Motherfucker“-Bundeswehr-Video. Dabei war die Recherche eher unspektakulär. Der Film war seit Monaten auf myvideo zu sehen, und dann gab irgendwer stern.de einen Tipp.

Auch Thomsen scheint an dem Scoop eine andere Leistung von stern.de interessanter zu finden, als die Recherche — die Verbreitung. Gegenüber medienhandbuch.de sagt er:

Etwas online stellen, heißt noch lange nicht, dass es gefunden wird. Dieses Video stand seit Januar bei myvideo. Jeder hat es sehen können. Dadurch, dass man alles sehen kann, sieht man nichts. Das Internet ist wie ein riesiger Brei, in dem man nichts mehr findet. Journalistische Marken wie der Stern dagegen werden viel stärker wahrgenommen.

Das ist sicher nicht ganz falsch. Und über stern.de ist das Thema ja zweifellos zu einer großen Mediengeschichte geworden. Aber für das Aufspüren und Bekanntmachen von interessanten Klümpchen im Internet-Brei gibt es längst Marken, die mindestens so gut funktionieren.

Thomsen sagt stolz, die stern.de-Artikel zum Thema hätten „bisher ca. 200.000 Zugriffe“ gehabt. Zum Vergleich: Als die schlichte, politisch etwas weniger brisante Galerie von bizarren Kloschüsseln aus dem Job- und Karriereblog von Marcus Tandler auf der Startseite von digg.com auftauchte, zählte er nach eigenen Angaben über 120.000 Besucher in 14 Stunden. Auch heute, fünf Wochen später, ist sein Blog noch weit vorne in den einschlägigen Charts.

Ich will stern.de den Erfolg gar nicht madig machen, aber ich glaube, die großen Medienmarken sollten sich nicht darauf verlassen, dass wir sie auch in Zukunft als Wegweiser, Trüffelschwein, Suchscheinwerfer, Verstärker oder Lupe brauchen. Wir brauchen sie, um die Sachen herauszufinden, zu bewerten und ins öffentliche Bewusstsein zu bringen, die nicht einfach im Internet herumliegen und nur auf ihre Entdeckung warten.