Schlagwort: Tagesschau

Gute Nachrichten, schlechte Nachrichten

Heute lernen wir etwas über die Kriterien professioneller Medien bei der Nachrichtenauswahl. Und über als Journalismus getarnten Lobbyismus in eigener Sache.

Vor zwei Monaten hatte die FDP-Europaabgeordnete Silvana Koch-Mehrin eine Idee, wie sich die Welle der hysterischen Berichterstattung über eine geplante iPhone-Anwendung von tagesschau.de noch weiter verlängern ließ — und sie auf ihr reiten könnte: Sie stellte eine parlamentarische Anfrage an die EU-Kommission, ob sie in dieser Sache „Handlungsbedarf“ sehe.

Die Medien, von denen einige wie „Spiegel Online“ und „Bild“ ohnehin längst publizistische Kampagnen gegen die ungeliebte neue Konkurrenz im Netz führten, nahmen die Vorlage begeistert auf.

„Bild“, 18.2.2010:

FDP bringt das „Tagesschau“-App vor EU-Kommission

Brüssel – Neuer Wirbel um das geplante „Tagesschau“-App der ARD. Auf Antrag der Vizepräsidentin des Europa-Parlaments, Silvana Koch-Mehrin (FDP), prüft jetzt die EU-Kommission, ob die umstrittene Internetanwendung fürs Handy gegen EU-Recht verstößt.

In einer Beschwerde bei EU-Kommissarin Neelie Kroes moniert Koch-Mehrin, die ARD könne einen solchen Dienst „offensichtlich nur deswegen kostenlos bereitstellen, weil sie durch obligatorische Rundfunkgebühren finanziert wird“. Dagegen müssten private Anbieter „ein solches Angebot kostenpflichtig machen“.

Aus ihrer Sicht nutze „die ARD ihr staatlich garantiertes Recht auf ein hohes Gebührenaufkommen aus, um sich gegenüber privaten Konkurrenten einen nicht gerechtfertigten Vorteil zu verschaffen“, so Koch-Mehrin. (…)

ddp, 18.02.2010:

FDP bringt „Tagesschau“-App vor EU-Kommission

Brüssel/Berlin (ddp). Neuer Wirbel um die geplante «Tagesschau»-Applikation (App) der ARD. Auf Antrag der Vizepräsidentin des Europa-Parlaments, Silvana Koch-Mehrin (FDP), prüft die EU-Kommission, ob die Internetanwendung fürs Handy gegen EU-Recht verstößt, schreibt die „Bild“-Zeitung (Donnerstagausabe). (…)

dpa, 18.2.2010:

FDP kritisiert iPhone-Pläne der ARD

Brüssel (dpa) – Die FDP warnt bei einer von der ARD geplanten Anwendung für das iPhone vor Wettbewerbsverzerrungen. In einer Anfrage der FDP-Europaabgeordneten Silvana Koch-Mehrin an EU- Medienkommissarin Neelie Kroes hieß es, die ARD wolle ein kostenloses „App“ für iPhone-Nutzer zur Verfügung stellen, für das private Anbieter Kosten erheben müssten. Kroes solle klären, ob dies gegen die EU-Wettbewerbs- und Binnenmarktregeln verstoße.

„Die ARD kann dieses Angebot offensichtlich nur deswegen kostenlos bereitstellen, weil sie durch obligatorische Rundfunkgebühren finanziert wird“, hieß es zudem in einem persönlichen Schreiben Koch-Mehrins an Kroes, das am Donnerstag der Deutschen Presse-Agentur dpa vorlag. Auch die „Bild“-Zeitung hatte davon berichtet.

Die EU-Kommission muss innerhalb von drei Wochen antworten, oder eine Verzögerung begründen. (…)

„Der Westen“, 18.2.2010:

FDP schwärzt ARD wegen Tagesschau-App bei der EU an

„Meedia“, 18.2.2010:

Der ARD bläst in Sachen Tagesschau-App der Wind aus allen Richtungen ins Gesicht. Jetzt schaltet sich auch die Politik in die heftig umstrittene Debatte über Online-Kompetenzen der Öffentlich-Rechtlichen ein. Nach Informationen der Bild-Zeitung hat die FDP-Politikerin und Vizepräsidentin des Europaparlaments Silvana Koch-Mehrin einen Antrag bei der EU-Kommission durchgesetzt, wonach geprüft werde, ob die mobile Online-Expansion der Nachrichtensendung mit europäischem Recht vereinbar ist. (…)

„Spiegel Online“, 18.2.2010:

FDP-Politikerin schaltet EU-Kommission ein

„Berliner Zeitung“, 19.2.2010:

Jetzt eben auch Silvana Koch-Mehrin. In der hitzigen Debatte über den Digitalisierungsdrang des gebührenfinanzierten Rundfunks hat sich gestern die Europa-Abgeordnete der FDP zu Wort gemeldet. Die Politikerin rief die EU-Kommission an, um von höchster Stelle prüfen zu lassen, ob die „Tagesschau“ mit einer eigenen Anwendung (App) auf internetfähigen Mobiltelefonen wie dem iPhone unterwegs sein darf, wie sie es von diesem Frühjahr an nach eigenem Bekunden tun will. (…)

„Tagesspiegel“, 19.2.2010:

„Tagesschau“-App fürs iPhone beschäftigt EU-Kommission

Der Streit um die geplante iPhone-Anwendung von tagesschau.de beschäftigt auch die Europäische Union. Silvana Koch-Mehrin, FDP-Abgeordnete und Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, will von der Kommission prüfen lassen, ob eine Wettbewerbsverzerrung vorliegt. (…)

„RP-Online“, 21.2.2010:

(…) Verleger mit eigenen Nachrichtenangeboten im Netz warnen seit Monaten vor einer Wettbewerbsverzerrung durch einen unbeschränkt agierenden Online-Auftritt der „Tagesschau“, der sich aus Rundfunkgebühren finanziert. Mit den ARD-Vorhaben, eine kostenlose Variante von tagesschau.de speziell für das iPhone von Apple bereitzustellen, beschäftigt sich dem [„Focus“] zufolge inzwischen auch EU-Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia. (…)

„Der Spiegel“, 22.2.2010:

(…) Die bisher nur angekündigte „Tagesschau“-App beschäftigt indes auch die Politik. Die FDP-Europaabgeordnete Silvana Koch-Mehrin hat bei der EU-Kommission eine Prüfung des ARD-Angebots gefordert. (…)

„Der Focus“, 22.2.2010:

(…) Währenddessen beschäftigt sich auch die EU-Kommission in Brüssel mit den Internet-Aktivitäten der „Tagesschau“. Dabei geht es um das ARD-Vorhaben, eine kostenlose Variante von tagesschau.de speziell für das iPhone von Apple bereitzustellen, einer sogenannten App. Die FDP-Europaabgeordnete Silvana Koch-Mehrin hatte in einem Brief an EU-Medienkommissarin Neelie Kroes vor Wettbewerbsverzerrung durch diese App gewarnt.

Kroes‘ Behörde hat den Fall inzwischen an den neuen EU-Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia weitergereicht, der drei Wochen Zeit für die Prüfung hat.

(„Welt Online“ kopierte übrigens einfach die Meldung aus ihrem Schwesterblatt „Bild“ fast wörtlich und ergänzte sie um den sachdienlichen Hinweis: „Die kostenpflichtigen iphone-Apps von WELT und ‚Bild‘ sind seit ihrem Start im Dezember schon von mehr als 100.000 Nutzern gekauft und herunter geladen worden. Neueinsteiger können die WELTApp für 1,59 Euro einen Monat lang testen.“ Dazu stellte „Welt Online“ eine 16-teilige Bildergalerie mit Fotos von dem eigenen Angebot und Informationen wie: „Willkommen in der WELTApp. So haben Sie noch nie mobil gesurft.“)

Vor gut einer Woche bekam Frau Koch-Mehrin Antwort auf ihre Fragen. Sie fiel vernichtend aus. Wettbewerbskommissar Almunia schrieb ihr, dass die EU-Kommission keinen Anlass sieht, gegen die geplante App vorzugehen. Grundsätzlich sei es zulässig, mithilfe von Rundfunkgebühren neue Verbreitungsplattformen wie das iPhone zu erschließen. Ob die geplanten Dienste die Bedingungen dafür erfüllen, werde vorab im Drei-Stufen-Test geprüft, der aber „nur für tatsächlich ’neue‘ und ‚relevante‘ Dienste durchgeführt“ werden müsse. Für Beschwerden, was den Ablauf dieses Verfahrens angehe, sei die EU-Kommission nicht zuständig, erklärte der Kommissar der FDP-Politikerin. Das sei Sache der Bundesländer.

Almunias Antwort trägt das Datum vom 8. April. Eine Woche später, am vergangenen Donnerstag, veröffentlichte die ARD eine Erklärung, in der sie die „Zurückweisung“ der Anfrage Koch-Mehrins begrüße. Am selben Tag berichtete die Nachrichtenagentur epd über die Antwort der EU-Kommission und die Genugtuung der ARD.

Und so haben die oben zitierten Online- und Print-Medien, Boulevardzeitungen und Nachrichtenagenturen, Fach-Medien und Nachrichtenmagazine über diesen Ausgang der Sache berichtet, deren Anfang sie so eifrig begleiteten:

 

 

 

 

 

 

 

 

(Vollständige Übersicht.)

Ulrich Deppendorfs Schweißausbruch am Ufer des Sommerlochs

Man kann diese Geschichte natürlich als Sommerloch-Thema abtun (schon weil das Sommerloch ihr Thema ist), aber das wäre schade, denn man kann etwas aus ihr lernen, und zwar über das publizistische Selbstverständnis von Ulrich Deppendorf, dem Leiter des Hauptstadtstudios der ARD.

Deppendorf hat sich über seinen Kollegen Kai Gniffke geärgert, der die Redaktion von „ARD aktuell“ leitet und am Dienstag kurz vor Feierabend und Mitternacht im Blog der „Tagesschau“ schnell noch verkündet hatte: „Es ist da!“:

„… heute öffnete das Sommerloch erstmals für diese Saison sein sonnendurchflutetes Maul.“

Es war ein kurzer, launiger Eintrag – einer von dieser Sorte, die Blogs so lesenswert machen, weil sein Inhalt offensichtlich nicht vor der Veröffentlichung vom diensthabenden Bedenkenträger in Abstimmung mit der Stabsabteilung für Kommunikation, Unterabteilung Nichtkommunikation, geprüft wurde. „Wenn wir ehrlich sind“, plauderte Gniffke über die 20-Uhr-Ausgabe der „Tagesschau“ jenes Tages, „hätte man jedes, ja wirklich jedes unserer heutigen Themen auch lassen können.“ Dann scherzte er noch:

„Da schaut man sich gerne mal an, was den Kollegen der anderen Nachrichtensendungen einfällt. Habe schon gewitzelt, ob wir im Erklärraum heute ein 3D-Modell des Sommerlochs sehen.“

Ein „Ulrich Deppendorf“ fand’s nicht so lustig und kommentierte am nächsten Tag lesbar angesäuert:

„Lieber Herr Dr. Gniffke,

wie schön, dass Sie gestern fast jeden Beitrag der Tagesschau um 20 Uhr für entbehrlich hielten. Das hätten Sie uns ja dann auch schon etwas früher mitteilen können. Dann hätten die Kollegen und Kolleginnen aus dem Hauptstadtstudio und in der Republik ja schon eher die Arbeit für die Tagesschau einstellen können. Im Übrigen halte ich keines der Themen gestern für entbehrlich oder dem Sommerloch geschuldet. (…) Nun warten wir jeden Tag auf Ihre Einordnung, was entbehrlich ist. Heute vielleicht Porsche, Opel oder Afghanistan?“

Auch in der tagesschau.de-Redaktion konnten sie es erst nicht glauben, aber dieser „Ulrich Deppendorf“ ist tatsächlich Ulrich Deppendorf. Nun muss man trotz des Tonfalls einen solchen öffentlichen Widerspruch nicht gleich als ARD-internen Zickenkrieg interpretieren – auch dafür sind Blogs ja ein wunderbares Medium, dass sie diese Art von Transparenz herstellen können. Aber Deppendorfs Kommentar ging noch weiter:

„Und warum schielen Sie immer auf das ZDF? Sie sind Chefredakteur von ARD-Aktuell. Bitte mehr Selbstvertrauen. Wir sollten auch nicht mit zu viel Hochmut auf das neue ZDF-Studio schauen. Warten wir erst einmal ab, ob unser neues Studio 2011 der große Hit wird. Ein wenig mehr Solidarität durch Schweigen mit dem anderen öffentlich-rechtlichen System wäre nicht schlecht. Vielleicht benötigen wir dessen Unterstützung ja irgendwann auch einmal.“

Da hört der Spaß aber auf. Ich kenne diese Argumentation aus eigener Erfahrung und der von anderen Medienjournalisten, vor allem aus Zeiten, in denen es den Medien schlecht geht. Berichten wir lieber nicht kritisch über das, was bei den anderen schiefgeht, dann können wir darauf hoffen, dass die anderen auch wattehaft mit uns umgehen. Es ist eine Haltung, die das Gegenteil von Journalismus ist, eine Kombination aus Kumpanei und Kalkül, Duckmäusertum und Angst, von der ich nicht gedacht hätte, dass ein ARD-Hauptstadtstudio-Leiter öffentlich für sie plädieren könnte.

Und nun ist Kai Gniffke wahrlich nicht der Holzer, der mit polemischen Angriffen auf die Konkurrenz im Blog jahrzehntelange Senderdiplomatie zunichte machte. Wenn schon seine harmlosen Frotzeleien über den Virtualitätspomp des ZDF Anlass genug für Deppendorf sind, sich um eine Retourkutsche in zwei Jahren (!) zu sorgen, mag man sich nicht ausmalen, was ernste Kritikversuche für Schweißausbrüche bei ihm auslösten – und wie oft er entsprechende Formen des Journalismus womöglich verhindert.

Gniffke antwortet Deppendorf übrigens im Blog behutsam, dass es „uns vielleicht gut zu Gesicht“ stünde, „etwas weniger breitbeinig durch’s Leben zu gehen“. Als wäre Deppendorfs Problem der breitbeinige Gang. Und nicht der aufrechte.

Der Schamhügel der „Tagesschau“

Zwei ARD-Berichte aus dem israelischen Grenzgebiet zum Gaza-Streifen:

„Tagesschau“,
10. Januar 2009:
„Weltspiegel“,
11. Januar 2009:

„Wir ausländischen Journalisten sind seit mehr als zwei Wochen im Süden Israels, gleich an der Grenze zum Gaza-Streifen. Israel lässt uns nicht hinein nach Gaza, …

… und so sind wir alle auf einem Hügel versammelt, von dem aus wir unsere Live-Schaltungen in die ganze Welt machen.

„Während im Gaza-Streifen die Kämpfe weitergehen, …

Wir nennen diesen Hügel mittlerweile zynisch „Hill of Shame“, Hügel der Schande, …

… kommen immer mehr Israelis zur Grenze, um den Verlauf des Krieges zu beobachten.

… weil wir uns alle schämen, von hier über etwas zu berichten, was wir gar nicht selbst sehen können, noch dazu wenn wir wissen, dass unsere Kollegen in Gaza durch dieses Bombardement, …

Dabei setzen sie sich auch der Gefahr aus, von Kassam-Raketen getötet oder verletzt zu werden.

… das wir wie Kino-Zuschauer beobachten, in Lebensgefahr sind.

Bei Raketen-Alarm legen sich die Kriegs-Touristen auf den Boden …

Doch auch wir geraten manchmal in Gefahr, dann, wenn Kassam-Raketen auf uns abgeschossen werden.

… und warten auf den Einschlag.“

Dann müssen auch wir uns in Deckung begeben, dann bricht auch bei uns Unruhe aus.“

Offenbar hat die ARD zwar weder die israelischen Schaulustigen („Tagesschau“) noch die ausgesperrten Journalisten („Weltspiegel“) erfunden. Aber diese Art der beliebigen Uminterpretation derselben Aufnahmen ist trotzdem inakzeptabel.

Moritz Günnel, der die Sache entdeckt hat, hat die Redaktion von ARD-Aktuell in einem Brief zu einer Klarstellung aufgefordert und schreibt zu Recht:

Ich halte es für unablässig in einer seriösen Berichterstattung (…), dass Bilder und Berichte übereinstimmen. (…) Sie mögen argumentieren, dass beides faktisch vorkomme — ausgesperrte Journalisten und israelische „Kriegs-Touristen“ — und die gezeigten Bilder den Bericht nur untermauern sollten. Es geht aber um das Prinzip korrekter und seriöser Berichterstattung und um Glaubwürdigkeit. Diese schrieb ich Ihrer Berichterstattung zu, sehe diese Annahme aber nun in Frage gestellt. Ich kann keinen der Berichte selbst überprüfen, ich kann so gut wie nie bestimmen, ob die gezeigten Bilder das abbilden, was vorgegeben wird. Bei meiner Meinungsbildung muss ich mich wie jeder andere normale Bürger auch, auf Berichte von Journalisten verlassen. Dies birgt eine große Verantwortung Ihrerseits, der Sie im geschilderten Fall meiner Ansicht nach nicht gerecht geworden sind.

(Hintergründe über die Arbeitsbedingungen der Reporter im „Tagesschau“-Blog, im BBC-Blog „The Editors“ und in der „Huffington Post“.)

Nachtrag, 15.10 Uhr. Die „Tagesthemen“ haben einige der Aufnahmen ebenfalls gezeigt: am 11. Januar. Diesmal hieß es wieder, die Gezeigten seien gaffende israelische Kriegstouristen.

Nachtrag, 18.30 Uhr. Kai Gniffke, Chefredakteur von ARD-aktuell, antwortet ausführlich im „Tagesschau“-Blog: Auf den Aufnahmen seien halt sowohl Journalisten als auch Kriegstouristen zu sehen, und die Autoren hätten jeweils einmal „Journalisten“ und „Kriegstouristen“ gesagt. Das sei nicht inakzeptabel, darüber könne er sich nicht empören und das gefährde nicht die Glaubwürdigkeit der „Tagesschau“-Autoren.

Ich bin anderer Meinung. Die ARD hat dieselben Bilder in zwei völlig verschiedene Kontexte gestellt und wie Symbolfotos behandelt: So wird der Mann mit Glatze, der durch seinen Fotoapparat schaut, vom Symbol für Gaffer, die fahrlässig ihr eigenes Leben riskieren, zum Symbol für die Journalisten, die gezwungenermaßen „wie Kino-Zuschauer“ den Krieg beobachten. Er kann aber nicht beides sein, ebenso wenig wie die anderen Menschen in diesem Film. Natürlich setzt die ARD mit solchen Uminterpretationen ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel — insbesondere in einem emotional aufgeladenen Konflikt wie diesem, bei dem viele Kritiker nur darauf warten, ihre Verschwörungstheorien bestätigt zu finden und der ARD unterstellen können, dass mindestens eins der im Text behaupteten Geschehnisse gar nicht passiert sei.

Der „Weltspiegel“-Beitrag hatte ausgerechnet die Schwierigkeiten, als Journalist über diesen Krieg wahrhaftig zu berichten, zum Thema — und macht sich dabei so angreifbar?

Bowling for „Tagesschau“

Das Video kommt daher mit dramatischer Musik und in einem Tonfall, als würde es beweisen, dass die ARD Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen im „Tagesschau“-Studio versteckt hatte. Gedehnt auf zwölf lange Minuten und mit dem Impetus einer Michael-Moore-Dokumentation prangert Robin Meyer-Lucht einen Beitrag der „Tagesschau“ vom 24. April 2007 an. (Video und weitere Dokumente hier.)

An diesem Tag hatte die EU-Kommission bekannt gegeben, dass sie das Verfahren gegen die Bundesrepublik wegen der Rundfunkgebühren eingestellt habe. In der jetzigen Form sei die Finanzierung von ARD und ZDF zwar nicht mit EU-Recht vereinbar, die Bundesregierung habe sich aber verbindlich zu den nötigen Korrekturen bereit erklärt. Angestrengt hatte das Verfahren der Lobbyverband der Privatsender (VPRT).

Die „Tagesschau“ hatte ihren Beitrag zu dem Thema mit folgenden Worten anmoderiert:

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland ist mit europäischem Recht vereinbar. Die EU-Kommission stellte eine vor Jahren angestrengte Beihilfe-Untersuchung jetzt ein. Zugleich machte Brüssel aber Auflagen. So müssen die Bundesländer unter anderem den Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks konkretisieren. Mit der Entscheidung ist der Streit zwischen der EU und Deutschland über die Rundfunkgebühren für ARD und ZDF beigelegt.

Ungefähr an jeder einzelnen Formulierung nimmt Robin Meyer-Lucht Anstoß. Er sieht in ihnen einen Beweis dafür, dass die „Tagesschau“ nicht unabhängig berichtet, sondern ihre eigene Interpretation als objektive Nachricht ausgibt. Der erste Satz erinnert ihn sogar an Propaganda im Stil der „Aktuellen Kamera“.

Interessant nur, dass dieser erste Satz, der angeblich reine ARD-Propaganda ist, fast wörtlich aus einer dpa-Meldung vom selben Tag stammt. Sie beginnt so:

Jetzt haben es ARD und ZDF Schwarz auf Weiß: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland ist mit europäischem Recht vereinbar.

Auch hätte die „Tagesschau“ nach Meyer-Luchts Ansicht nicht formulieren dürfen, dass die Auflagen „zugleich“ erfolgten — die Auflagen selbst stellten ja den erzielten Kompromiss dar. Aber auch diese Formulierung findet sich in den Agenturmeldungen vom selben Tag — konkret bei AP:

Die Kommission stellte zwar ihre Untersuchung zur Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ein, forderte zugleich aber die Bundesländer auf, die Verwendung der Gebühren schärfer zu kontrollieren.

Sogar dass die „Tagesschau“ formuliert, der Streit sei damit „beigelegt“, findet Meyer-Lucht irreführend und propagandistisch. So sah es allerdings zum Beispiel auch AFP:

Streit um Gebühren für ARD und ZDF beigelegt.

Meyer-Lucht erweckt den Eindruck, die „Tagesschau“ habe eine Niederlage der ARD in einen Sieg uminterpretiert. Aber auch das der besonderen Sympathie für öffentlich-rechtliche Sender unverdächtige „Handelsblatt“ wählte am nächsten Tag die Überschrift:

ARD gewinnt in Brüssel.
EU-Kommission lässt Investition der öffentlich-rechtlichen Sender in neue Geschäftsfelder zu.

Selbst der VPRT sah das offenbar so. Das „Handelsblatt“ zitierte dessen Präsidenten Jürgen Doetz mit den Worten:

„ARD und ZDF kommen mit einem blauen Auge davon. Sie können nun einen Sieg feiern.“

Meyer-Lucht kritisiert weiter, dass die Gegenseite in dem „Tagesschau“-Beitrag nicht zu Wort kam. Sicher wäre es besser gewesen, wenn sich die ARD diese Blöße nicht gegeben und einen VPRT-Vertreter zitiert hätte. Aber aus ARD-Sicht ist auch die EU-Kommission die Gegenseite — und die kam durchaus zu Wort.

Dass die Berichterstattung der ARD in eigener Sache häufig zu wünschen übrig lässt und der Beitrag auch in diesem Fall weniger angreifbar hätte formuliert sein können, ist keine Frage. Aber das Video von Robin Meyer-Lucht baut einen Popanz auf und verzerrt den Fall bis ins Lächerliche. Vor allem dient es wohl, massenhaft an Blogger verschickt, der Eigen-PR für Meyer-Luchts Firma „Berlin Institute“.

Und das funktioniert: Von erklärten Gegnern des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wie dem „Handelsblatt“-Blogger Thomas Knüwer, der seine Ahnungslosigkeit bei diesem Thema durch Zorn zu kompensieren versucht, wird das Video bereits ungeprüft für wahr erklärt.

Muss ja stimmen. Weiß man doch, wie die sind bei ARD und ZDF.

Dabeisein ist alles

Sie sind ungefähr immer Unsinn, diese Live-Schaltungen in Nachrichtensendungen zu bemitleidenswerten Reportern vor Ort, die schon deshalb nicht mehr wissen als ihre Kollegen in den Redaktionen, weil sie die ganze Zeit irgendwelche Live-Schaltungen in Nachrichtensendungen absolvieren.

Aber so schön wie gestern in der „Tagesschau“ um 15 Uhr hat man den Schwachsinn dieses Rituals selten vorgeführt bekommen:

Claus-Erich Boetzkes: Gibt es neue Tarifverhandlungen oder stehen die nächsten Warnstreiks vor der Tür? In diesen Minuten gibt die Lokführergewerkschaft in Frankfurt am Main bekannt, wie sie auf das neue Tarifangebot der Bahn reagiert. (…) In Frankfurt bei der GDL ist mein Kollege Markus Gürne. Herr Gürne, was teilen die Lokführer mit?

Markus Gürne: Ja, die Lokführer haben sich zunächst mal verspätet. Die Pressekonferenz ging ein bisschen später los, und bisher ist der entscheidende Satz auch noch gar nicht gefallen. Claus Weselsky (…) hat bisher nur gesagt, dass alter Wein in neuen Schläuchen ist. Das lässt im Prinzip so gut wie nichts vermuten, weder in die eine noch in die andere Richtung. Also, im Prinzip wiederholt man gerade das, was man schon vorgestern gesagt hat, nämlich dass das Angebot unzureichend ist der Bahn. Das wird jetzt ausgeführt. Wenn das dabei bleibt, dann könnte man davon ausgehen, das die GDL das schlussendlich ablehnt, dann wird es Streiks geben, aber wie gesagt: Die Pressekonferenz hat etwas verspätet begonnen, läuft zur Minute noch, und deshalb wissen wir leider nicht mehr, als wir im Moment sagen können.

Boetzkes: Ich weiß ein bisschen mehr inzwischen. Gerade hat die GDL zu neuen Streiks aufgerufen. Markus Gürne, aus Ihrer Erfahrung, was bedeutet das für uns? Geht das jetzt sehr schnell? Oder wird das frühestens nächste Woche losgehen?

Gürne: Also, wenn das so ist, wie Sie sagen, und da hab ich keinen Zweifel dran, dann wird das sehr sehr schnell passieren. Die GDL hat die Pläne seit Wochen in der Schublade. Der Urabstimmungsbeschluss war ja auch schon längst da, man hat ja auch schon gestreikt. Die Frage wird jetzt sein: Wird es wieder ein bundesweiter Streik im Nahverkehr sein? Oder wird man es ganz gezielt in manchen Ballungsgebieten machen? Das werden sie jetzt wahrscheinlich gleich in der Pressekonferenz weiter ausführen. Aber ich denke, das wird sehr, sehr schnell losgehen.

Boetzkes: Noch eine Information nachgeschoben: GDL ruft für Streiks für morgen auf. Markus Gürne, danke für diese Informationen, danke nach Frankfurt.

Journalisten mit Fachkenntnis gesucht

Dies ist wieder so eine Geschichte, die für sich genommen fast läppisch wirkt, aber Grundsätzliches über die Medien erzählt.

Am einfachsten lässt sie sich vielleicht mit einer Meldung der Nachrichtenagentur AFP beginnen. Die meldete am 18. Juli um 16:43 Uhr:

Achtung Redaktionen,

bitte berichtigen Sie in unserer ZF von 16.09 Uhr die Angaben zur Funktion von Klaus Rauscher. Er ist Chef von Vattenfall Europe, der deutschen Tochter des schwedischen Vattenfall-Konzerns und damit also Vattenfall-Deutschland-Chef. Irrtümlich wurde Rauscher als Europa-Chef des Konzerns bezeichnet.

Sie erhalten umgehend eine berichtigte Fassung.

Und in der Tat: Die deutsche Tochter von Vattenfall heißt Vattenfall Europe. Verrückt. Da kann man sich als Laie schnell mal vertun. Aber die Leute, die dafür bezahlt werden, zu Vattenfall-Europe-Pressekonferenzen zu gehen, die vielleicht schon mal ein Organigramm von Vattenfall gesehen oder etwas über Struktur und Geschichte gelesen haben sollten, die sich täglich mit Energieunternehmen beschäftigen, um uns, die wir weniger wissen, darüber zu informieren, die müssten das doch wissen.

Tja. Die Nachrichtenagentur dpa weiß es offenbar. Die Nachrichtenagentur AFP weiß es seit dem 18. Juli um 16:43 Uhr. Und „Bild“, um es gleich zu sagen, ist auch nichts vorzuwerfen.

Und sonst?

Die Kollegen von Reuters schwanken wenigstens noch. Mal machen sie es richtig, mal falsch, mal bereichern sie die Debatte um die lustige Variante „Deutschland- und Europachef“.

Die Nachrichtenagentur AP aber nennt mindestens seit vergangenem Oktober Vattenfalls Deutschland-Chef konsequent „Europa-Chef“. Erst Klaus Rauscher. Nun Hans-Jürgen Cramer. Wann immer sein Name in einer AP-Meldung auftaucht, steht davor oder dahinter „Europa-Chef“.

Diese AP-Meldungen stehen überall. Und manche Journalisten brauchten vermutlich nicht einmal AP, um denselben Fehler zu machen. Jedenfalls steht die falsche Funktion nicht nur — natürlich — in ungezählten Online-Medien, sondern auch im gedruckten „Focus“, in der „FAZ Sonntagszeitung“, in der Wochenchronik der „Süddeutschen Zeitung“, im „Hamburger Abendblatt“, in der Seite-3-Reportage der „Süddeutschen Zeitung“ vom Donnerstag vergangener Woche und am selben Tag sogar groß in der „SZ“-Überschrift auf Seite 1: „Vattenfalls Europa-Chef muss gehen“.

Wo sitzen sie, die Fachjournalisten, die nicht in die Falle tappen? In den öffentlich-rechtlichen Nachrichten-Flaggschiffen? Ein schöner Traum. Das „heute journal“ behauptet ebenso, der „Europa-Chef“ sei zurückgetreten, wie viele, viele Ausgaben der ARD-„Tagesschau“:

Ja. Eigentlich hätte ich all das vergangene Woche schon aufschreiben sollen, mir fehlte nur die Lust.

Aber dann ist gestern bekanntgegeben worden, dass der vorübergehende Deutschland-Chef von Vattenfall auf Dauer bleibt. Und leider berichtet auch wieder AP. Und auf tagesschau.de lautet der Titel der entsprechenden Meldung so:

Okay, die Vattenfalls können sich nicht beschweren. Selbst schuld, wenn sie sich so einen blöden Namen für ihre deutsche Tochter aussuchen. Aber bräuchten wir, das Publikum, die Bürger, nicht wenigstens in ausgewählten Medien noch Journalisten, die wissen, worüber sie berichten?

Birand Bingül

Und dann sagte „Tagesthemen“-Moderator Tom Buhrow, als sei es die normalste Sache der Welt: „Zu den Drohungen gegen die Bundestagsabgeordnete Ekin Deligöz jetzt der Kommentar von Birand Bingül vom Westdeutschen Rundfunk.“ Hö? Hatten die richtigen Kommentatoren alle frei? Dürfen denn Menschen mit Migrationshintergrund bei uns im Fernsehen Kommentare abgeben, und sei es auch nur zum Thema Menschen mit Migrationshintergund? Also, im richtigen Fernsehen, nicht in irgendwelchen Multikulti-Sendungen im Dritten?

Birand Bingül darf das seit Mai. Und hat es am Dienstag zum zweiten Mal getan. Natürlich merkt man, daß ihm noch Erfahrung und Übung fehlen. Sein Kommentar war zwar schon ein bißchen verquast, aber nicht halb so gaga und überbildert wie der eines Profi-Kommentierers wie Stephan Bergmann vom Bayerischen Rundfunk, der an keinem Faß vorbei gehen kann, ohne ihm die Krone ins Gesicht zu schlagen.

Daß Bingül auf der offiziellen Kommentatorenliste der „Tagesthemen“ steht, verdankt er einer „Integrationsoffensive“ des WDR, für den er frei arbeitet und sonst zum Beispiel das Magazin „Cosmo TV“ moderiert*. Natürlich wirkt er, wie er da mit seinem kleinen „ü“ in den „Tagesthemen“ plötzlich zum Thema Islam und Integration spricht, ein bißchen wie ein Quoten- oder Alibi-Deutschtürke. Verstärkt wird der Eindruck noch dadurch, daß es zwar auch zwei „Tagesschau“-Sprecher aus Einwandererfamilien gibt, Tarek Youtzbachi und Michail Paweletz, man beide eigentlich aber nur kennt, wenn man sehr, sehr spät am Abend oder in der Nacht Nachrichten sieht. Übernehmen Migrantenkinder dort die Schichten, die kein anderer machen will?

Egal. Jedesmal, wenn ich Paweletz mit seiner dunklen Hautfarbe in der vertrauten „Tagesschau“-Kulisse sehe und kurz erschrecke, weil das ein so ungewöhnlicher Anblick ist, wird mir erst bewußt, wie monochrom mitteleuropäisch weiß diese Plätze in unseren Informationsprogrammen sonst besetzt sind. Und wie weit ausgerechnet diese Sendungen damit von unserer Lebensrealität entfernt sind. Bei den Deutsch-Türken, glaubt Birand Bingül, könnte das allerdings das auch daran liegen, daß deren Eltern meist einfache Leute waren, die ihren Kindern beibrachten, was respektable Berufe sind: Arzt oder Ingenieur. Aber nicht Journalist.

*) Ich muss mich korrigieren, und das gleich doppelt: Bingül ist beim WDR nicht freier Mitarbeiter, sondern festangestellt. Und bei „Cosmo TV“ nicht Moderator, sondern Redakteur.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung