Das Internet macht einen Traum wahr, den Traum der Unendlichkeit von Raum und Kommunikation:
- Die meisten Leser wollen gar nicht mehr lesen, sie verzweifeln vor der Masse der Informationen – und wenden sich im Internet gleich den Vergnügungen und Zerstreuungen zu, die einen Mausklick entfernt liegen.
- Der Dialog im Internet besteht zum Großteil aus Schwachsinn und Dampfplauderei; er kostet mehr Zeit als er Gewinn bringt.
Schneider und Raue beschreiben Traum und Alptraum, Theorie und Praxis, fantastische Möglichkeiten und ernüchternde Realitäten. Natürlich lässt sich darüber streiten, ob sie zu pessimistisch sind. Aber so zu tun, als hätten sie sich mit dieser Beschreibung als Nichtswisser und Nichtnachdenker zu erkennen gegeben, halte ich für abwegig.
Thomas Knüwer klagt über das Buch:
Hier wird der Online-Journalismus nicht als Chance dargestellt, als weites Feld, in dem sich die Träume all jener erfüllen, die Leidenschaft für diesen Beruf empfinden.
Im Zweifel bin ich da eher bei Schneider und Raue. Ich bin begeistert von den journalistischen Möglichkeiten des Internets. Aber ich würde nicht suggerieren wollen, dass sich hier „die Träume all jener erfüllen, die Leidenschaft für diesen Beruf empfinden“, dazu weiß ich von zu vielen Träumen, auch eigenen, die sich bislang nicht erfüllt haben.
Im Übrigen schreiben Schneider und Raue:
Wer klug ist, integriert die Kritik der Leser in seinen Online-Auftritt, antwortet ihnen, diskutiert mit ihnen. Er legt seine Quellen offen, es sei denn, sie sind vertraulich, und lässt Fragen zu (…).
Es ist bemerkenswert, wie manipulativ und sinnentstellend Jakubetz aus dem Buch zitiert, wenn er sich gleichzeitig darüber empört, dass das Buch nicht richtig zitiert. Schneider und Raue schreiben Thomas Knüwer folgende Worte zu:
„Online-Redakteure sind die dummen Textschrubber, die nichts können.“
In Wahrheit hatte Knüwer gesagt:
„Aber Onliner sind aus Sicht vieler Printkollegen nur die dummen Textschrubber, die nichts können.“
Das ist ein außerordentlich peinlicher Fehler. Aber im Gegensatz zu Jakubetz spricht nichts dafür, dass Schneider und Raue Knüwer absichtlich sinnentstellend zitieren. Jakubetz behauptet, Knüwer sei ihr „Kronzeuge“ dafür, dass im Internet nur Schrott stehe. Doch im Buch heißt es (wie auch Jakubetz schreibt):
„Online-Redakteure sind die dummen Textschrubber, die nichts können“, sagt Ex-Handelsblatt-Redakteur Thomas Knüwer. Mit solch einer Arroganz urteilen Zeitungsschreiber nicht selten, doch die Klage hat einen wahren Kern.
Knüwers Zitat ist nicht Beleg für die Schlechtheit des Internets, sondern für die „Arroganz“ vieler Zeitungsschreiber. In diese Argumentation hätte Knüwers korrektes Zitat genauso gepasst. Es gab keinen Grund, ihn bewusst falsch zu zitieren, weshalb man vielleicht einfach davon ausgehen könnte, dass es sich um eine schlichte Panne handelte, und von der Palme herunterklettern, statt sich etwas von ihr herunterzuwedeln.
Den „wahren Kern“ der „Arroganz“ beschreiben Schneider und Raue übrigens so:
Onliner schreiben unermüdlich Texte um, die sie als Rohfassung vom Newsdesk bekommen; sie kürzen, bearbeiten PR-Texte, indem sie zumindest die Quelle angeben; sie füllen eben das Internet und nicht selten tun sie es ohne Sinn und Verstand.
Auch das findet Jakubetz wieder empörend, dabei lässt es sich tausendfach belegen. Das Problem ist nicht die Aussage, sondern ihr Absender. Von Ahnungslosen wie Wolf Schneider wollen wir uns nicht sagen lassen, wie traurig die journalistische Online-Realität ist.
Die Angriffe auf Schneider und Raue sind auch deswegen so wütend, weil die beiden als Stellvertreter für die ganze Gattung der Dinosaurier stehen. Deshalb wirkt es unfreiwillig komisch, wenn Ulrike Langer in ihrem Blog den beiden vorwirft, von einem „Krieg“ zu sprechen, der im Internet zwischen Journalisten und Bloggern herrsche — als würden die Reaktionen der Blogger das nicht bestätigen.
Dabei ist auch die Kriegs-Beschreibung im Buch recht ausgewogen. Das Kapitel, in dem sie steht, trägt den Titel: „Was Journalisten von Bloggern lernen können.“ Es referiert erst die wütendsten Angriffe aus der Presse auf Online-Amateure, spricht dann davon, dass durch die digitale Revolution ein „epochaler Machtwechsel“ stattgefunden habe, und wägt dann ab:
Dass [Journalisten] gleichzeitig die Schleusenwärter sind, Leute also, die entscheiden, was überhaupt zur Veröffentlichung durchgelassen werden soll — das hat einen Vorteil und einen Nachteil auch. Der Vorteil: Sie ließen und lassen das ganz und gar Gleichgültige und das offenbar Unsinnige und Erlogene nicht herein; sie wägen und prüfen, und sie haften für das, was sie passieren lassen und wie sie es tun. Der Nachteil: Dabei treffen sie natürlich auch Fehlentscheidungen — fahrlässig, verblendet oder korrumpiert. So oder so: Eine Minderheit entschied allein, was die Mehrheit wissen konnte. Überwiegend entschied sie kritisch und gescheit. Aber keineswegs immer.
Auch hier kann man wieder über die Gewichtung streiten. Aber die Kritiker reagieren, als hätten Schneider und Raue „Jehova“ gesagt.
Schneider und Raue äußern sich nicht übermäßig schmeichelhaft über Blogger. Aber sie tun das auch nicht über Journalisten. Sie schreiben etwa, unter den Journalisten gebe es eine „ziemlich kleine Minderheit von solchen, die sich redlich plagen, das Unwichtige auszusondern und das Verworrene zu erklären, wie sie es ihren Mitbürgern schuldig sind“.
Die Kritiker werfen dem Buch überkommenes Schwarz-Weiß-Denken vor, dabei haben sie sich selbst in einem viel größeren Maße auf ihrer Seite der Front in den Schützengraben eingebuddelt.
Die Ahnungslosigkeit der „Buch“-Autoren machen mehrere Kritiker auch daran fest, dass sie das Wort „Blog“ „grammatisch falsch“ verwenden. Gemeint sind im Buch häufig vorkommende Formulierungen wie:
Blog und Twitter haben aber ebenfalls ihre Unschuld längst verloren.
Das liest sich, ohne Frage, merkwürdig. Schneider und Raue benutzen das Wort „Blog“ als Singularetantum, als Einzahl, die für das Ganze steht. Sie formulieren „Blog und Twitter haben der Presse geholfen“, wie sie sagen könnten: „Fernsehen und Hörfunk haben der Presse geholfen“. Das ist unüblich und gewöhnungsbedürftig. Ist es schlimm? Anders gefragt: Wenn das Buch tatsächlich vor furchtbaren Dummheiten strotzen würde, wie etwa Ulrike Langer behauptet (ohne es gelesen zu haben), müsste man sich dann an solchen Nebensächlichkeiten abarbeiten?
Es gibt vieles, was an dem Buch und seinen Autoren auszusetzen ist. Schneiders Eitelkeit scheint inzwischen pathologische Ausmaße angenommen zu haben. Was ihn und Raue überhaupt qualifiziert, über Online-Journalismus zu schreiben, ist mir schleierhaft. Ein größeres Missverständnis in dem Buch scheint mir darin zu liegen, dass es behauptet, der einzelne Mensch könne sich nur dann gut im Internet informieren, wenn „Journalisten klassischen Stils den Mahlstrom der Blogs und tweets sichten und gewichten“. Dass es inzwischen ganz andere Instanzen gibt, die diese Sichtung und Gewichtung für den Einzelnen vornehmen, und dass der „Mahlstrom der Blogs und tweets“ gerade auch von klassisch-journalistischen Inhalten angetrieben wird, das scheint den Autoren fremd zu sein.
Dirk von Gehlen hat im selben Zusammenhang, aber mit umgekehrter Stoßrichtung einen wunderbaren Satz des Philosophen Hans-Georg Gadamer zitiert:
Ein Gespräch setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte.
Das ist, fürchte ich, das Hauptproblem der Reaktionen vieler Blogger auf Wolf Schneider und sein Buch und vieler „Shitstorms“ überhaupt: Sie diskutieren nicht, inwiefern der Andere möglicherweise unrecht hat, sondern sprechen ihm pauschal jede Ahnung ab.
Das geht im konkreten Fall gerne auf Kosten der eigenen Aufrichtigkeit. Das Buch sei „eine Warnung vor dem Internet“, schreibt Thomas Knüwer — unbelegt und unbelegbar. Und den Autoren unterstellt er, sie hofften:
„die Veränderung der Welt aufhalten zu können, indem sie schreiben, dass sie sich nicht verändere und wenn, dann zum üblen.“
Wenn die so wären wie er, würden sie lautstark eine Berichtigung verlangen. Denn Schneider und Raue zählen ein ganzes Kapitel lang auf, wie dramatisch das Internet die Welt verändert: „das Leben“, „den Alltag der Menschen“, „die Wahrheit“, „die Mächtigen“, „die Nutzung von Medien“, „die Märkte“, „die Verlage“, „die Redaktionen“. Sie beschreiben diese „Revolution“ aus einer skeptischen — meiner Meinung nach zu skeptischen — Perspektive. Aber sie schreiben in diesem Zusammenhang auch:
Als Zeitungen konkurrenzlos waren, konnten sie die Leser (…) auch mit langweiligen Texten, oberflächlichen Recherchen und unscharfen Bildern halten. Diese Verachtung des Publikums war immer schon verwerflich, aber lange folgenlos. Heute kann sie Zeitungen in den Ruin treiben.
Lustig. Wenn es nicht von Wolf Schneider wäre, könnte es von Thomas Knüwer sein.
Vielleicht hat Sönke Iwersen einfach den Fehler gemacht, den Eintrag seines „Handelsblatt“-Kollegen Thomas Knüwer beim Wort zu nehmen. Unter der Überschrift „Weil der Journalist sich ändern muss“ wiederholte Knüwer in seinem „Handelsblatt“-Blog „Indiskretion Ehrensache“: Dass für Journalisten nichts mehr so zu sein scheint, wie es war. Dass Journalisten mit der bisherigen Arbeitsweise nicht weiter kommen. Dass Journalisten sich den neuen Kommunikationsformen nicht mehr verweigern dürfen. Dass Journalisten sich nicht mal ansatzweise ausreichend an die neue Zeit angepasst haben. Dass „viele, viele Kollegen eine geistige 180-Grad-Wende“ vollführen müssen.
Knüwer hat das schon oft gesagt, geschrieben und gebloggt. Und vielleicht war es für Iwersen das eine Mal zuviel. Jedenfalls dachte er wohl: Mache ich einfach mal etwas Anderes, etwas Unerhörtes, und benutze die neuen Kommunikatonsformen dafür, meinem Redaktionskollegen Knüwer öffentlich zu widersprechen.
Es war ein Widerspruch, der weniger mit diesem einen Eintrag zu tun hatte und mehr mit Knüwers ganzer Selbstinszenierung und seinen ewig glänzenden Augen für jeden Gimmick des Web 2.0. Offenbar hatte sich da schon länger etwas aufgestaut. Der Kommentar lautete:
Lieber Thomas,
Bei aller kollegialer Zurückhaltung: mir ist kein Journalist bekannt, bei dem Selbstdarstellung und Realität derart auseinanderklaffen wie bei Dir. Vielleicht könntest Du die permanente Selbstbeweihräucherung mal kurz unterbrechen und erklären, warum Deine fantastische Verdrahtung über Xing, Facebook, Twitter und Co. so wenig journalistischen Mehrwert bringt. Wenn es tatsächlich so wäre, dass diese Kommunikationswege neue Infos erschließen – warum kommen die Scoops im Handelsblatt dann nicht von Dir, sondern immer von anderen Kollegen?
Man kann Dir oft dabei zusehen, wie Du selbst in Konferenzen ständig mit Deinem Telefon herumdaddelst. Vielleicht twitterst Du nur grad, dass Du grad gern einen Keks essen würdest – wer weiß das schon. Jedenfalls führt das Ganze nicht dazu, dass Du das Blatt laufend mit Krachergeschichten füllst. Bieterkampf bei Yahoo? Neues vom Telekomskandal? Untergang von Lycos? Das alles wären doch Themen, zu denen Dir, dem hyper-vernetzten Journalisten, die Insidernachrichten zufliegen könnten. Tun sie aber nicht. Stattdessen stellst Du gern mal eine Nachricht als exklusiv vor, die morgens schon über Agentur lief oder in der New York Times stand.
Ich verstehe einfach nicht, warum Du ständig diejenigen Kollegen runtermachst, von deren Geschichten Du selbst lebst. Eine große Zahl Deiner Blogeinträge basiert doch auf Artikeln Deiner Print-Kollegen, zu denen Du dann einfach Deinen Senf dazugibst. Ohne die von anderen recherchierten Grundlagen hättest Du da nichts zu schreiben.
Du behauptest, die Journalisten müssten sich ändern und meinst damit wohl, sie müssten so werden wie Du. Es ist aber so, dass die meisten Kollegen gar kein Interesse daran haben, Nachrichten einfach nur wiederzukäuen, so wie Du.
Es ist Dir ja unbenommen, in Deinem Blog eine Art Resteverwertung zu betreiben. Aber bitte verkauf das nicht als Zukunft des Journalismus.
Bei aller Begeisterung, die ich selbst für viele neue Formen der Kommunikation und des Journalismus aufbringen kann, und bei aller Verzweiflung, mit der ich beobachte, wie viele Kollegen glauben, dass die beste Antwort auf Probleme und beunruhigende Veränderungen ist, sie nicht zur Kenntnis zu nehmen — ich finde, dass in dieser wütenden Erwiderung genug Wahrheit steckt, über die es sich zu diskutieren lohnt.
Und wer, wenn nicht Thomas Knüwer, plädiert immer wieder für schonungslose Offenheit und Kritik und Selbstkritik? Wer ist so schnell im Austeilen, dass er das auch einfach einstecken könnte?
(Knüwer ist einer von denen, die oft schneller bloggen als denken ((ich leider manchmal auch)), was er in dem Beitrag wieder zeigte, als er der FAZ vorwarf, sie hätte ihre mangelnde Internet-Kompetenz erneut bewiesen, indem sie einen Artikel zum Thema von Harald Staun aus der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ nicht online freischaltete. Dabei war er schon am Samstagabend online, woraus man wiederum Schlüsse über Knüwers eigene Internet-Kompetenz ziehen könnte.)
Jedenfalls: Eine Diskussion über den Kommentar von Iwersen fand nicht statt. Knüwer löschte ihn.
Er erklärte mir das auf Anfrage damit, dass Iwersen mit seinem Kommentar „eindeutig gegen interne Regeln im Umgang mit Blogs und Kommentaren“ verstoßen hätte. Es sei zwar erlaubt und sogar erwünscht, dass „Handelsblatt“-Redakteure die Blog-Einträge ihrer Kollegen kommentieren. Auch Widerspruch sei erlaubt — aber nur fachlicher Art. In Iwersens Kommentar sieht Knüwer aber keine solche Kritik, sondern eine „unglaubliche Diffamierung“. Er sei „zutiefst enttäuscht“, dass der Kollege ihn in dieser Form angegriffen habe.
Nachdem sich mehrere andere Blogger der Sache angenommen hatten, begründete Knüwer die Löschung schließlich in seinem Blog damit, dass Iwersen sich mit dem Kommentar möglicherweise „in arbeitsrechtliche Probleme gebracht hätte“ — keine überzeugende Argumentation, denn wenn es solche Probleme gibt, hat Iwersen sie nun auch so.
Knüwer weiter:
Warum Herr Iwersen Animositäten gegen mich hegt, die er in der Redaktion bisher nicht zum Ausdruck brachte, ist mir nicht klar. Dies auszudiskutieren ist aber kein Thema für ein Blog.
Nicht?
Warum Herr Iwersen Animositäten gegen Thomas Knüwer hegt, wird aus seinem Kommentar jedenfalls sehr deutlich. Im Zweifelsfall wird auch er sich diffamiert gefühlt haben — nicht persönlich, aber wieder und wieder getroffen von Knüwers Angriffen auf Journalisten, die nicht so sind wie Knüwer.
Ich finde es eine berechtigte Frage, der sich Leute wie Knüwer (und ich) ernsthaft stellen müssen: Wer denn die Artikel recherchiert, während wir Kommentare moderieren und Twitter-Beiträge lesen und lustige Experimente mit Kamera-Übertragungen machen. Das ist keine Entweder-Oder-Debatte, denn natürlich wird der Journalismus der Zukunft beides brauchen: traditionelle und neue Formen der Recherche und des Publizierens.
Der unwichtigste, aber vielleicht erstaunlichste Aspekt der kleinen Kollegen-Konfrontation 2.0 beim „Handelsblatt“ ist allerdings, dass Thomas Knüwer offenbar unterschätzt hat, wie viel Aufmerksamkeit er der Sache gibt, wenn er einen solchen Kommentar löscht. Dass er keinen Weg fand, ihn einfach stehen zu lassen und darauf zu antworten (oder auch nicht). Dass er da ungefähr soviel Internet-Kompetenz bewies wie Theo Zwanziger.
Nachtrag, 23.10 Uhr. Nach einigem Hin und Her und Hin hat Thomas Knüwer den Kommentar jetzt wieder freigeschaltet. Der Konflikt ist damit aber nicht aus der Welt — der grundsätzliche um das Thema nicht und der konkrete um den Kommentar auch nicht.