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Freaks

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Quote ist alles. Wie sich RTL immer mehr zum Freaksender entwickelt.

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Es gab eine Zeit, da machte Tine Wittler den Menschen ihre Wohnungen schön. Sie ließ die Wände streichen, brachte Möbel und bunte Vorhänge mit, stellte Schränke um und arrangierte neue Kissen und alte Fotos. Gut sechs Jahre ist das erst her, dass „Einsatz in vier Wänden“ so begann. Dann wechselte die Show ins Abendprogramm von RTL und übernahm in einer Sendestunde die Renovierung eines ganzen Hauses. Und wenn sie heute in Doppelfolgen „das Messiehaus“ oder „den Schrotthof“ rettet, dann sind nicht nur die Gebäude Härtefälle.

Im „Horrorhaus“, einem „Haus, das einem das Blut in den Adern gefrieren lässt“, wie der Sprecher erklärt, lebt eine traumatisiert wirkende Familie zwischen Kot und Ungeziefer. Und mit Onkel Helfried, einem „arbeitslosen Klauenschneider“, der sammelsüchtig ist. Knochen, Geweihe, Felle und Tierschädel schleppt er ins Haus. Der Mann scheint, zumindest in der Inszenierung von RTL, schwer gestört. Als Tine Wittler die Familie am Ende durch ihr neues Haus führt, einen bizarr deplaziert wirkenden Möbelhaustraum, und er wie ein Alm-Öhi Beleidigungen vor sich hinbrummelt, rastet die „Wohnexpertin“ aus, beschimpft ihn als „Stinkstiefel“ und lässt die abrupte versöhnliche Umarmung durch den schmuddeligen Mann über sich ergehen, als könnte er sie jeden Moment erwürgen.

Aus der Einrichtungssendung ist eine Freakshow geworden. Und aus RTL ein Freaksender.

In diesen Wochen deklassiert RTL die Konkurrenz wie seit Jahren nicht. Die steigenden Quoten gehen fast ausschließlich auf das Konto einer konsequenten Freakisierung: das Ausstellen seltsamer, beschränkter, verrückter, wahnsinniger Menschen.

RTL widerspricht dem natürlich, verweist auf sein vielfältiges Sendeangebot, auf Qualitätsserien wie „Dr. House“ und Prestigeprojekte wie den Zweiteiler über die Hindenburg-Katastrophe, der gerade in Köln gedreht wird. Aber es sind nicht „Dr. House“ oder „Wer wird Millionär“, die gerade alle Rekorde brechen. Es sind alle Formen von Freakshows.

An manchen Montagen sehen achteinhalb Millionen Leute zu, wie sich von RTL gecastete Bauern lächerlich machen (oder von RTL lächerlich gemacht werden). Die Dokusoap lebt davon, dass ein erheblicher Teil des Personals bizarr vertrottelt wirkende Menschen sind, und wenn einer nicht so gut singen kann, stellt der Sender ihn auf eine große Bühne, damit es auch jedem auffällt. „Schwiegermuttertochter gesucht“ funktioniert nach demselben Prinzip, gerne auch mit erwachsenen Männern, die sich noch mit ihren Müttern ein Bett teilen, und Teilnehmern, bei denen man sich bei der schlimmen Frage ertappt, ob sie nicht ins Heim gehören statt ins Fernsehen.

Auch der Erfolg von „Das Supertalent“ basiert nicht zuletzt darauf, dass es in Teilen keine Talent-, sondern eine Freakshow ist. Hilflos zurechtgemachte Menschen, die mindestens an einer grotesken Fehleinschätzung ihrer eigenen Fähigkeiten leiden, unterhalten durch ihr Scheitern auf großer Bühne das Publikum. Den Leuten im Saal hat die Produktionsfirma sogar eine angemessene Reaktion beigebracht: Sie drehen sich mit dem Rücken zu den Freaks auf der Bühne und machen unter Buh-Rufen eine Daumen-runter-Geste. Irgendwie sinnbildlich schaffte es „Mr. Methan“ ins Halbfinale, eine grün maskierte Witzfigur, die schon 1996 bei RTL zur Musik furzte, und pupste Moderator Daniel Hartwich einen mit Konfetti gefüllten Luftballon mit einem Pfeil vom Kopf.

Den Nachmittag hat RTL ganz zum Menschenzoo umgebaut. Hier bekommen weiße Ehepaare schwarze Babys, verprügeln fast cartoonhafte Furien ihre Männer, werden Mütter Kriminellen hörig. Wer von diesen Leuten wirklich verrückt ist und wer die Verrückten nur spielt, ist Publikum und Sender offensichtlich egal, in vielen Fällen scheinen einfach Bekloppte Bekloppte zu spielen. Die „Scripted Reality“ genannten Formate wie „Verdachtsfälle“ und „Familien im Brennpunkt“ sind dabei gleich doppelte Freakshows: Das unglaubliche Geschehen ist so unglaublich schlecht gespielt, dass sich der Gruselkitzel noch verstärkt.

Die Zuschauerzahlen sind gigantisch, die Programme billig und niedrigstwertig. Die Shows verlangen immer extremere, abwegigere Charaktere und Geschichten – und abgesehen davon ist dem Publikum alles egal, vor allem, was davon fiktional ist und was real. Ein Verantwortlicher, der sich der Frage nach notwendigen Grenzen stellt, nicht nur im Sinne einer gesellschaftlichen Verantwortung, sondern auch des Profils eines Senders, ist nicht zu erkennen.

Wie wenig sich RTL auf eine ernsthafte Diskussion einlässt über das, was das Fernsehen mit den Zuschauern und seinen Protagonisten macht, hat der Fall „Erwachsen auf Probe“ in diesem Jahr gezeigt. Das Experiment mit Jugendlichen als Eltern hatte dann zwar schlechte Quoten. Aber vielleicht waren die Freaks und die Konstellation auch einfach nur nicht krass genug.