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Das Feigenblatt der Hysterie

Ein Arzt hat mir mal erklärt, wie man Psychose und Neurose auseinanderhält. Der Psychotiker glaubt, dass zwei mal zwei fünf ist. Der Neurotiker weiß, dass zwei mal zwei nicht fünf ist, erträgt es aber nicht.

So gesehen ist die heutige „WatchBerlin“-Kolumne von Michel Friedman schwer neurotisch. Sie beginnt mit diesen Worten:

„Mörder. Feige, brutale, gemeine Mörder, das sind sie, die Terroristen, die in Deutschland Bombenanschläge geplant haben und jetzt entdeckt wurden.“

Ich bin sicher, dass Michel Friedman aus seinem Jurastudium genau weiß, was ein Mörder ist. Aber als grobe Annäherung für den Alltag könnten wir uns vielleicht schon auf die Faustregel einigen: kein Toter — kein Mörder.

Ich kann den Impuls schon nachvollziehen, die maximale Abscheu für die Männer auszudrücken, denen vorgeworfen wird, dass sie viele Menschen umbringen wollten, „unschuldige Menschen“, wie man so sagt. Ich kann auch die Hilflosigkeit nachvollziehen, mit der er versucht, diese Leute, wenn er sie sonst schon nicht greifen kann, wenigstens unter möglichst vielen schlimmen Attributen zu begraben: feige, brutal, gemein.

Wobei „feige“ schon ein komisches Wort in diesen Zusammenhängen. Wünschen wir uns mehr „mutige“ Attentäter? Mehr Draufgänger unter den Terroristen? Mehr Leute, die uns zwar vernichten wollen, aber irgendwie nicht so unfair dabei sind, es nicht auf einen Kampf Mann gegen Mann ankommen zu lassen? Wer von einem „feigen Mord“ oder von „feigen Terroristen“ spricht, versucht etwas zu steigern, was nicht mehr zu steigern ist. Das Wort hat keinen Inhalt, aber eine Funktion: Es ist ein Appell an den Zuhörer, sich gefälligst zu empören. Vermutlich unter der Annahme, dass der Zuhörer längst zu abgestumpft ist, sich über „Mörder“ und „Terroristen“ allein genug zu empören.

Nicht weniger als fünfmal in zweieinhalb Minuten nennt Friedman die Terroristen „feige“, und mit jedem Mal mehr sieht man ihn hinter dem Wort hilflos mit den Armen rudern. „Terroristen sind in Wahrheit feige“, sagt er einmal. Und später: „Sie sind anonym, aber sie sind feige Mörder.“ Was ist das denn für ein Gegensatz?

Es ist ein sehr hilfloser, ein hysterischer Beitrag, den Friedman zur Debatte über die nötigen Reaktionen auf die Bedrohung durch den islamistischen Terror leistet. Das wäre an sich nicht schlimm. Schlimm ist, dass die Hysterie sich als Besonnenheit ausgibt. Friedman sagt:

„Auch wenn’s mir wehtut: Ich denke nach. Ich gebe zu: Ich bin nachdenklich geworden.“

Das ist nicht nur unglücklich formuliert, sondern auch sehr unwahrscheinlich. In einer Debatte, in der es vor allem immer wieder darum geht, das richtige Maß zu finden und die schwierige Entscheidung zu treffen, mit welchen drastischen Reaktionen wir das Überleben unserer Freiheit sichern und mit welchen wir sie töten, würde ein nachdenklicher Mensch darauf achten, dass nicht die letzten klaren Begriffe noch ihren Sinn verlieren.

Wer daran gehindert wurde, einen Mord zu begehen, ist kein Mörder. Und Hysterie nicht Nachdenklichkeit.

Broder? Oder!

Am 19. Februar soll das Video-Online-Portal „Watchberlin“ auf Sendung gehen. Dahinter steckt Walid Nakschbandi, Geschäftsführer der Fernsehproduktionsfirma AVE und bei Holtzbrinck offenbar zuständig für neue Internet-Projekte, die mehr mit Content als Community zu tun haben. Außer Berlin hat er sich schon die Titel und Domains für ähnliche Namen mit Hamburg, München und einer Reihe anderer deutscher Städte gesichert. Für „Watchberlin“ werden seit einigen Wochen in Anzeigen VJs und Praktikanten gesucht.

Erste „Watchberlin“-Videoblogs kann man sich jetzt schon auf Myspace ansehen. „crashtest“ heißt die Rubrik von „Dummy“-Chefredakteur Oliver Gehrs, der hier nett noch einmal über die Erstausgabe von „Vanity Fair“ lästert. Buddy Murat und Maher besuchen einen Sprayer-Laden in Schöneberg, und als „Berliner Original“ stellt sich Günter „Keule“ Schmidtke vom Clärchens Ballhaus vor.

Und weil das Internet bekanntlich ein Medium ist, in dem zunehmend auf dem Niveau von Kannibalen-Selbsthilfegruppen diskutiert wird, kommt auch „Watchberlin“ nicht ohne Henryk Modest Broder aus. „Broder, oder!“ heißt sein Videoblog, in dem er sich als „Kitschsammler“ ausgibt und geschmacklose Marien-Figuren und Schneekugeln mit Papst oder Jesus zeigt. Warum? Um zu fordern, dass wir so lange nicht mit unseren „moslemischen Brüdern und Schwestern“ diskutieren, bis das „auf gleicher Augenhöhe“ geschehen kann — bis also der Islam eigenen Kitsch produziert. Denn:

„Kitsch ist Menschlichkeit.“

Ah ja.

Ich habe länger nach einem freundlichen Adjektiv gesucht, um diese Argumentation zu beschreiben. Mir ist nur „originell“ eingefallen.

Am Ende seines Videoblogs holt Broder noch ein Plastiksparschwein hervor und sagt, dass es sein könne, dass es „dieses kleine hübsche Schwein bald nicht mehr geben wird“.

„Es gibt schon Sparkassen, die es nicht mehr ausstellen. Aus Angst, die Gefühle der Moslems zu verletzen.“

Ach. Gibt es? Wo?

Die Sparschwein-Geschichte hat Broder schon einmal bei „Spiegel Online“ verbreitet. Sie taucht auch bei diversen antiislamischen Hassbloggern auf, in deren Nähe Broder sich gerne aufhält.

Vielleicht meint Broder eine Geschichte aus Großbritannien, die vor eineinhalb Jahren für Aufsehen sorgte — und längst dementiert ist. Vielleicht meint er aber auch eine große deutsche Bank, die statt Sparschweinen Sparelefanten in Umlauf bringt. Seit mindestens 20 Jahren.