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Großes kleines Fernsehen

Süddeutsche Zeitung

Sendungskritik: „Gute Nacht, Gottschalk“

Angenommen, jemand kriegt kurz nach seinem 48. Geburtstag eine sentimentale Phase und beschließt, sich eine Freude zu machen. Er lädt ein paar Idole seiner Jugend ein, Rockgitarristen, Models, sowas. Er zeigt ihnen, daß er ihre alten Platten noch hat, legt sie auf, summt mit. Ein paar der Gäste haben neue Platten mitgebracht, gemeinsam lauscht man, klimpert auf der Gitarre, erzählt sich, was an den guten alten Zeiten so gut war und ißt ein paar Käsehäppchen, weil der Pizza-Service schon zu hat. Gelegentlich klingelt das Telephon, Bekannte sind dran und Wildfremde, die auch gerade 48 geworden sind oder erst 22 oder schon 63. Drei Stunden dauert das Ganze, die ersten Besucher verabschieden sich immer wieder, neue sagen Hallo, ein paar haben ihre Frauen mitgebracht. Käme irgendwer auf die Idee, das ungefiltert im Fernsehen zu zeigen? Ok, der sentimentale alternde Typ ist nicht irgendwer, sondern Thomas Gottschalk. Aber will das ein Schwein sehen? Drei Stunden lang? Ohne Publikum, TED und Gewinnspiel?

Möglich wär’s, schön wär’s auch. „Gute Nacht Gottschalk“ sei „kleines Fernsehen“, sagt der Moderator am Anfang: „Es passiert nix.“ Doch die 190 Minuten kleines Fernsehen sind spannender als die meisten 90 Minuten großes, da sie völlig ohne die Rituale der Fernsehunterhaltung auskommen. Ringo Starr sieht ein wenig irritiert auf den CD-Spieler, in dem sein neuestes Werk läuft, ohne daß er mitsingen müßte. Rick Partiff von Status Quo und Brian May von Queen sträuben sich, ihre Plätze für Paola und Kurt Felix zu räumen. Assistentin Anke Engelke macht sich über Gottschalks Fragetechnik lustig und macht muffelig den Tisch sauber, weil außer Paola und Kurt keiner sein Glas selbst weggeräumt hat. Und Gottschalk kann sich bis zum Schluß nicht merken, daß der Sender „WDR Fernsehen“ heißt. Es ist egal, daß es in Köln keine Pizza mehr zu bestellen gibt und daß unbekannte Menschen fröhlich durchs Bild wuseln, um technische Probleme zu lösen. Die einzige wirkliche Panne ist der Versuch, das englisch-deutsche Sprachchaos zu übersetzen — und Dieter Thomas Heck durchzustellen, der anruft, um den „lieben Kurti“ zu grüßen.

WDR-Redakteur Michael Au hat nach „Feuersteins längster Nacht“ ein weiteres Fernsehexperiment gewagt. Passiert ist nichts. Aber die Art, wie nichts passierte, war spannend.

Der heißgeliebte Minusmann

Süddeutsche Zeitung

Platte Gags und Pärchenspiele: Warum Jürgen von der Lippe mit seiner Show „Geld oder Liebe“ so erfolgreich ist.

Mal ehrlich: Würden Sie diesem Mann eine Samstagabend-Show geben? Er hat einen dieser Vollbärte, mit denen höchstens noch ergraute Rußland-Korrespondenten auf den Bildschirm gelassen werden. Er gerät leicht ins Schwitzen, weswegen er weite Hawaiihemden trägt, die zwar Schweißflecken verhindern, aber seinen Bauch unangenehm betonen. Er liebt Sätze von der Art, daß sich Adam für Evas Apfel mit einer Banane revanchierte. Und wenn er Musik ansagt, hält er mehrminütige Monologe, die bei Programmchefs Alpträume von massenhaft zur Fernbedienung greifenden Zuschauern auslösen.

Es sieht ganz so aus, als ob Jürgen von der Lippe, 48, nicht einmal von seinen Mitarbeitern ernst genommen wird. „Wo hast du denn diiie Schuhe her“, kreischt eine Dunkelhaarige ungehemmt in die Probe rein von „Geld oder Liebe“ und zeigt mit ausgestrecktem Arm auf die Füße ihres Chefs. Der steht da wie ein waidwunder Elefant, läßt die Arme hängen und schaut traurig, aber nicht wirklich überrascht, von einem Kollegen zum anderen. Wäre er auf Sendung, würde er zum Schluß noch mit dicken Augen in die Kamera schauen. Es ist derselbe Blick, mit dem er als Sänger sein Publikum in Exstase versetzt, bevor er überhaupt angefangen hat. Eine rote Plastiknase zu diesem Gesicht genügt.

Den anderen Jürgen von der Lippe kann man entdecken, wenn gerade eine Musikgruppe bei ihm auftritt. Unbeobachtet von den Kameras kuschelt er sich in seine Sitzgruppe auf der Bühne. Er klopft geistesabwesend den Rhythmus mit und ist sichtlich zufrieden mit sich und seiner Show. Die Band hat er selbst ausgesucht, und die großen Stars stehen Schlange, ihre neue Platte bei ihm vorsingen zu dürfen. Denn die ARD-Sendung „Geld oder Liebe“ ist die „nach Wetten daß…?“ erfolgreichste Show im deutschen Fernsehen. Und Jürgen von der Lippe moderiert sie nicht nur, er ist ihr Chef. Wenn ihm das neue Stück von Genesis nicht gefällt, tritt Genesis nicht auf. Da mögen die verantwortlichen WDR-Leute die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, soviel sie wollen.

Acht Millionen Menschen sehen im Schnitt zu, wie drei Frauen und drei Männer mit skurrilen Hobbys sich in kleinen Spielen kennenlernen. Um zu erklären, wie genial das ist, kritzelt Redakteur Michael Bleichenbach auf ein Blatt sechs Kringel, die für die Singles stehen. Darunter zieht er diagonale Linien, die sich kreuzen — jeder spielt mal mit jedem. Am Ende bleiben zwei Kringel übrig, die nach Meinung der Zuschauer am besten zusammenpassen. Ganz so zwingend, wie das auf der Skizze aussieht, war das am Anfang nicht. In nur einer Woche hatte Lippe, der eigentlich Hans-Jürgen Dohrenkamp heißt, das Konzept 1989 mit dem Kabarettisten Wendelin Haverkamp entwickelt. „Wir haben nicht gesagt: Wir wollen die und die Zuschauerstruktur, wollen so und so lang werden“, erzählt er. „Wir haben uns hingesetzt und rumgesponnen.“ Vor der ersten Sendung sei er der einzige gewesen, der noch an ihren Erfolg geglaubt hätte. Ohne die richtigen Kandidaten wirkten die simplen Spielchen in den Proben einfach unterdurchschnittlich.

Doch dann kamen Leute wie die Frau, die Kühe designt, und Siggi, der Tannenzapfenpflücker aus dem Bayerischen Wald, der nach der Sendung vom ganzen Dorf am Bahnhof empfangen wurde — und das Ding lief. „So ein Schwein hat man einmal im Leben“, sagt Jürgen von der Lippe. „Ich wüßte nicht, in welche Richtung ich heute denken sollte, um etwas zu finden, das dieses Neue hätte, das ‚Geld oder Liebe‘ darstellte.“

Klaus de Rottwinkel, der mit Lippe die Sprüche und Blödeleien entwickelt, beschreibt dessen besonderen Charme so: „Jürgen ist eine Mischung aus redegewandtem Intellektuellem und zur Völlerei neigendem Lebemann.“ Das erklärt vielleicht, warum ihm mindestens ebensoviele Zuschauer nicht ausstehen können, wie ihn lieben.

Lippe stellt sich nicht nur gern dumm, sondern auch klug. Er präsentiert sein Wissen aus einem abgebrochenen Philosophiestudium mit den Ergebnissen einer dreitägigen Recherche mehrerer Mitarbeiter mit den Worten. „… aber das wissen Sie ja“. Als er 1994 für seine Mischung aus Zoten und humanistischem Bildungshumor sowie für seinen Umgang mit den Kandidaten auch noch den Grimme-Preis bekam, hielt er ihn noch monatelang triumphierend seinen Kritikern vor, die schon wegen seiner unerschütterlichen Begeisterung für Spiele, bei denen Leute naßgespritzt werden, ihre Probleme mit ihm haben.

Für sein eigenes Selbstbewußtsein hätte er den Grimme-Preis genausowenig gebraucht wie den „Bambi“, der ihm im Oktober verliehen wird: Daß er sich für einen Spitzenmann der deutschen Fernsehunterhaltung hält, hat er schon vorher ganz selbstverständlich erzählt. Hinter der tapsigen Bildschirmfigur steckt ein Perfektionist, der die Leute von der Requisite immer und immer wieder antreten läßt, bis irgendein kleines Teil genau so hängt, wie er das möchte. Kritische Sätze beginnt er mit den Worten: „Noch schöner wäre es natürlich, wenn …“, und die dünne Ironie kann den Ärger des Chefs kaum verdecken. Aber wenn es dann doch nicht funktioniert in der Sendung, kann er immer noch ein Highlight daraus machen, oder noch besser: ein Ritual.

Als es der WDR monatelang nicht schaffte, einen Kiosk zu bauen, bei dem sich die beschrifteten Tafeln, die der Moderator mit einem Hebel weiterblättert, nicht nach wenigen Minuten hoffnungslos verkanteten, wurde das Spiel erst richtig beliebt. Anstatt vielleicht mal bei Show-Profis wie dem Unterhaltungskonzern Endemol nachzufragen, wie man so was vernünftig konstruieren kann, setzte von der Lippe seinen Assistenten auf einen Hochstuhl, von wo aus dieser von Hand eingreifen konnte — und bald mit Liebesbriefen überschüttet wurde.

Überhaupt: das Publikum. Wenn Lippe dazu aufruft, was zum Thema „Meine Olle und ich“ einzuschicken, setzen sich mehr als tausend Menschen hin und fangen an zu basteln, zu hämmern und zu kleben. Ganze Schulklassen malen Riesenbilder, und ein Ehepaar bastelte einen Jürgen aus Seide, dessen Rippe sich mit einem Reißverschluß öffnen läßt, aus dem eine vollbusige Frau schlüpft. Der Meister selbst sieht den unglaublichen Aufwand der Menschen ganz nüchtern: Die Leute wollen halt ins Fernsehen, ein paar Minuten berühmt sein.

Letztlich hat Geld oder Liebe damit das gleiche Erfolgsgeheimnis wie „Wetten daß…?“ Nur, daß „Geld oder Liebe“ nicht als großes Event daherkommt, sondern als lockeres Treffen, bei dem einer schmutzige Witze erzählt, ein anderer mit seinem Halbwissen prahlt, zwei sich flirtend aus dem Gespräch verabschieden und alle hinterher noch in die Kneipe einen trinken gehen. Heute, meint WDR-Redakteur Bleichenbach, hätte vermutlich kein Sender mehr den Mut, so etwas neu zu starten.