Schlagwort: Welt

Mir liegt der 177-seitige Entwurf des Koalitionsvertrages vor. Und Ihnen auch.

… Sie wissen’s nur vielleicht noch nicht.

Dem „Stern“-Kollegen Hans-Martin Tillack lag das Papier sogar schon heute am frühen Nachmittag vor. Da twitterte er nämlich:

Das war mit der Zeilenangabe und dem Bild von der Titelseite natürlich weniger eine Information für die Öffentlichkeit, als ein öffentliches Angeben: Ich hab etwas, was Ihr (noch) noch nicht habt. Aber darum geht es ja oft im Journalismus, um solche Informationsvorsprünge.

Inzwischen scheint die deutsche Presse allerdings vollumfänglich versorgt worden zu sein mit dem PDF, was jedem einzelnen Medium trotzdem eine besondere Erwähnung wert ist:

  • „Das 177 Seiten lange Papier vom 24. November liegt unserer Redaktion vor.“ (RP Online)
  • „In dem der Süddeutschen Zeitung vorliegenden Entwurf des Koalitionsvertrages …“ (sz.de)
  • „Der erste Entwurf des Koalitionsvertrags, der der ‚Welt‘ vorliegt, … (welt.de)
  • „In dem 177-seitigen Entwurf, der SPIEGEL ONLINE vorliegt, …“ (Spiegel Online)

Die Formulierung ist natürlich nicht komplett irrelevant: Sie besagt, dass die Journalisten sich bei ihren Interpretationen nicht auf Hörensagen oder Bruchstücke verlassen mussten. Aber das geht eigentlich aus den Texten auch so hervor. Vor allem dient der Satz wohl, wie Tillacks Tweet, der Prahlerei — oder vielleicht freundlicher formuliert: dem Eigenmarketing. Unsere Journalisten haben da was bekommen, was eigentlich noch gar nicht an die Öffentlichkeit kommen sollte. Wir sind gut vernetzt und nah genug an der Macht. Sind wir nicht toll?

Nun. Vor ein paar Jahren hätte das sicher so funktioniert (und als Leser fühlt man sich ja auch gut, wenn man ein Medium liest, das solche Sachen in die Finger bekommt). Ich glaube aber, dass Leser heute und morgen sagen werden: Schön, dass Euch das vorliegt, aber warum legt ihr mir das dann nicht vor? Warum gebt ihr mir nicht die Möglichkeit, mir ein eigenes Bild vom Inhalt des Papiers zu machen, darin zu stöbern, es vielleicht auf eigene Lieblingsthemen abzuklopfen? Das entwertet ja nicht eine fundierte Analyse von Fachjournalisten oder den Service, das Papier komplett durchgearbeitet zu haben, was ich als Durchschnittsinteressierter vielleicht doch nicht tun will.

Der Halbsatz von dem Entwurf, der der Redaktion vorliegt, ohne den Versuch, ihn auch den Lesern vorzulegen, spricht nicht nur von dem Versuch, einen Vorsprung vor der Konkurrenz zu bewahren (was im konkreten Fall augenscheinlich völlig abwegig ist). Er steht auch dafür, dass Journalisten einen Informationsvorsprung vor den Lesern bewahren wollen.

Das ist vielleicht keine so erfolgsversprechende Strategie mehr. Vor einer Dreiviertelstunde hat der Grüne Politiker Malte Spitz das PDF veröffentlicht, mit dem Satz:

Eine solche Haltung ist den führenden deutschen Online-Medien auch im Spätherbst 2013 noch erstaunlich fremd. Wie toll hätte sich das gelesen: „Der Entwurf liegt unserer Redaktion vor — und wir machen ihn Ihnen hier zugänglich.“

Nachtrag, 21:40 Uhr. Über den Umweg der Veröffentlichung von Malte Spitz geht es offenbar: sueddeutsche.de und stern.de („Werfen Sie einen ersten Blick auf den Koalitionsvertrag“) verweisen in eigenen Beiträgen auf das von ihm veröffentliche PDF; „Spiegel Online“ hat die „liegt vor“-Formulierung im Text geändert und verlinkt nun auch einfach direkt dorthin.

Milchmädchen im Einsatz gegen ARD und ZDF: Der Unsinn der Steuerzahler-„Studie“

Heute erkläre ich Ihnen, wie ARD und ZDF eine halbe Milliarde Euro jährlich einsparen können. Achtung: Indem sie das Geld einfach nicht ausgeben. Ta-daa!

Und jetzt sagen Sie nicht, das sei eine Rechnung, für die man nicht einmal ein Milchmädchen wecken müsste. Der Steuerzahlerbund, ein natürlicher Gegner des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, hat es mit dieser Rechnung heute in die „Welt“, die „Rheinische Post“, die „FAZ“ und diverse Online-Medien geschafft.

Er hat sie natürlich besser verpackt. Er hat sie als „Sonderinformation 1“ seines „Deutschen Steuerzahlerinstituts“ (DSi) herausgegeben und mit diversen Fußnoten, Quellenangaben und volkswirtschaftlichen Erläuterungen den Eindruck erweckt, es handele sich hier um eine seriöse wissenschaftliche Forschungsarbeit. Die Medien nennen das Papier „Studie“.

Angeblich weist es den öffentlich-rechtlichen Sendern nach, dass sie jährlich 650 Millionen Euro verschwenden.

Der größte Batzen dieses Betrages kommt aus den Sportrechte-Etats der Sender. Die ließen sich, laut der „Studie“, von jährlich 335 Millionen Euro auf 185 Millionen Euro senken. Auf die Zahl von 185 Millionen Euro kommt die „Studie“ nicht durch irgendein akribisches Nachrechnen, sondern durch den „Vorschlag“, es würde doch völlig genügen, wenn ARD und ZDF die Ausgaben für Sportgroßereignisse „generell auf z.B. fünf Prozent des Programmaufwands begrenzen“.

Hätte die „Studie“ ohne weitere Erklärung eine Begrenzung auf „z.B. vier Prozent“ oder „z.B. drei Prozent“ vorgeschlagen, hätten ARD und ZDF nach dieser Logik also noch viel mehr Geld verschwendet.

Darüber hinaus könnten ZDF, arte und Deutschlandradio laut der „Studie“ jährlich 50 Millionen Euro bei den Programmaufwendungen sparen. Diese Zahl ist nicht selbst ausgedacht, sondern stammt aus einer guten Quelle: Dem Bericht der Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs (KEF). Die habe ein solche Kürzungspotenzial bei den Sendern festgestellt.

Das ist richtig. Und sie hat es nicht nur festgestellt, sondern diese Summe den Sendern auch gleich abgezogen. Die KEF hat die Etats, die sie ZDF, arte und Deutschlandradio bewilligt, für die aktuelle Gebührenperiode bereits um dieses Kürzungspotenzial reduziert. Anders gesagt: Die Sender mussten bzw. müssen dieses Geld ohnehin sparen und können es nicht mehr „verschwenden“. Denselben Logikfehler macht die „Studie“ auch beim von der KEF gekürzten Personalaufwand der Sender.

Ein erheblicher Anteil der 650 Millionen Euro, die ARD und ZDF angeblich verschwenden, ist Geld, das ARD und ZDF gar nicht bekommen: Das DSi schlägt vor, die 14 Landesmedienanstalten zusammenzulegen. Die bekommen jährlich 142 Millionen Euro von den Rundfunkbeiträgen. Was man auf diese Weise sparen könnte? Die „Studie“ weiß es — wie so oft — auch nicht, glaubt aber einfach mal — wie so oft — dem ausgewiesenen Medienexperten Hans-Peter Siebenhaar vom „Handelsblatt“. Weil der einmal von einer Ersparnis „im dreistelligen Millionen Euro-Bereich“ schrieb, zählt die „Studie“ einfach mal grob 100 Millionen auf die Gesamtverschwendungssumme — wohlgemerkt: von ARD und ZDF, die damit nichts zu tun haben.

Wie seriös die „Studie“ ist, zeigt sich auch in den Fußnoten. An einer Stelle heißt es:

Der Vorwurf, Politik und Rundfunk unterlägen gegenseitiger Einflussnahme kommt nicht von ungefähr. (…) Auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk spielt gelegentlich sein Machtpotenzial gegenüber der Politik aus. So wurde den Abgeordneten des nordrhein-westfälischen Landtags z.B. gedroht, wenn diese gegen den neuen Rundfunkbeitrag stimmten, würde das im WDR eine negative Berichterstattung zur Folge haben.

Urheber dieser Behauptung ist Christian Nienhaus, der Geschäftsführer der WAZ-Gruppe (heute Funke-Gruppe), der das 2011 in einem FAZ-Interview gesagt hatte. Die Passage sorgte — verständlicherweise — für einigen Wirbel; der WDR drohte Nienhaus mit rechtlichen Schritten. Eine Woche später nahm er seine Äußerungen zurück:

„Ich stelle ausdrücklich klar, das ich mit meiner Äußerung nicht die Behauptung aufstellen wollte, der WDR habe unmittelbar oder mittelbar Abgeordneten im Landtag von Nordrhein-Westfalen in Zusammenhang mit deren Abstimmungsverhalten über die Mediengebühr mit einer negativen Berichterstattung im WDR gedroht“.

Die Verfasser der „Studie“ haben das praktischerweise nicht mitgekriegt, was natürlich auch daran liegen kann, dass sie womöglich eher fachfremd sind. Autoren sind im Papier nicht angegeben, am Ende steht nur: „Bearbeitung: Karolin Herrmann“. Karolin Hermann ist Diplom-Volkswirtin und beim DSi eigentlich zuständig für Haushaltspolitik und Haushaltsrecht.

Als Positionspapier und Sammlung von Argumenten gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in der bestehenden Form aus volkswirtschaftlicher Sicht ist die Veröffentlichung natürlich völlig legitim. Es lässt sich aus ihr nur nicht seriös ablesen, wieviel Geld ARD und ZDF jährlich „verschwenden“.

Aber was ist „seriös“ schon für ein Kriterium, wenn es gegen ARD und ZDF geht?

[Offenlegung: Ich habe im Sommer mein Geld hauptsächlich damit verdient, für eine WDR-Sendung zu arbeiten. Persönlich unterstütze ich die Forderungen nach einer Deckelung des Sportrechte-Etats und einer Zusammenlegung der Medienanstalten, aber das ist ja nicht der Punkt.]

Kollektiver Kinderwahnsinn: Herzogin Kate im Verhör der internationalen Presse

Wir müssen einmal kurz über den britischen Thronfolgerfolgerfolger reden.

Am Dienstag war Herzogin Kate zu Besuch in Grimsby. Sie schüttelte ein paar Schaulustigen die Hand und nahm einen Stoffbären als Geschenk entgegen. Eine Frau in der Menge meinte gehört zu haben, wie sie sagte: „Is this for our d-“ („d“ wie „daughter“), bevor sie sich schnell korrigierte und auf Nachfragen beteuerte, sie kenne das Geschlecht ihres Babys nicht.

Tatsächlich hat sich die Frau, um die Pointe gleich vorwegzunehmen, bloß verhört. Kate sagte, wie sich später herausstellte: „Is this for us, awww.“

Keine große Geschichte, oder?

Nun:


Die Geschichte war auch auf den Titelseiten von „Daily Mail“ und „Daily Express“. Und denen von „Times“ und „Telegraph“:


Und es war nicht bloß britischer Kinderwahnsinn. Am Mittwochvormittag „meldete“ die Agentur AP:

Kate und das T-Wort: Spekulationen über Geschlecht des Babys

London (AP) — Ein unbedachter Halbsatz der Herzogin von Cambridge — und schon brodelt es in der Gerüchteküche: „Es ist ein Mädchen!“ prangte am Mittwoch als Schlagzeile über britischen Zeitungen. Dabei haben Kate und Prinz William erklärt, sie sagten nichts über das Geschlecht ihres erwarteten ersten Babys.

Die Konkurrenz von AFP berichtete:

Ist es ein Mädchen? – Schwangere Herzogin Kate soll sich verplappert haben

Bei dpa hieß die Überschrift:

Er oder sie? Spekulation um Kate und Prinz Williams Baby

Und später:

Buchstabe auf der Goldwaage — Medienhype um Kates Babybauch

Der Hauch von Unsicherheit, die Flucht auf die vermeintlich sichere Meta-Ebene, war aber für viele Medien zu seriös. „Bild“ verkündete am Donnerstag auf der letzten Seite:

Die schwangere Herzogin Kate (31) verplapperte sich beim Besuch der Hafenstadt Grimsby, verriet ihr süßes Babygeheimnis:
ES WIRD EIN MÄDCHEN!

Die „Berliner Morgenpost“ riss die News sogar auf ihrer Titelseite an. Im Inneren brach dann Thomas Kielinger, der Londoner Axel-Springer-Korrespondent und vermeintliche Königshaus-Experte, in Ausrufezeichen aus:

Rosa Babywäsche

William und Kate bekommen ein Mädchen. Die Schwangere versprach sich bei einem Ortstermin

London – Endlich! Jetzt ist es heraus! Es ist ein Mädchen! Die werdende Mama hat es ausgeplaudert, Kate, alias Catherine Middleton, Ehefrau des britischen Thronfolgers William. Es geschah im trist-grauen Hafenstädtchen Grimsby an der englischen Ostküste. Die Herzogin von Cambridge — sie sollte eine neue Gesamtschule einweihen — hatte sich um mehr als eine Stunde verspätet, es herrschte Nebel, ihr Hubschrauber konnte zunächst nicht starten. Dafür wurden die Wartenden mit einer Exklusivnachricht entlohnt, die sie für alles Frieren reichlich entschädigte.

Als Kate endlich da war (…), reichte die 41-jährige Diana Burton der Herzogin einen großen weißen Teddybär, den die Beschenkte lachend quittierte: „Thank you, I will take that for my d…“ („d“ für daughter, Tochter), um sich dann rasch zu korrigieren: „… for my baby.“ Damit aber wollte die danebenstehende Sandra Cook, 67, den königlichen Gast nicht davonkommen lassen. Als es an ihr war, die Hand von Kate zu schütteln, schoss sie mutig zurück: „Da sind Sie aber eben fast ausgerutscht, Sie wollten doch ‚daughter‘ sagen, oder?“ Kate fand sich in der Lage von Petrus, der seinen Herrn verleugnete, und sagte: „Was meinen Sie? Wir wissen noch nicht.“ Cook bohrte beharrlich nach: „Oh, ich glaube aber doch!“ Worauf Kate „Wir sagen nichts“ antwortete.

Das war so gut wie ein Geständnis. Sie hätte leicht den ersten Kommentar wiederholen können, „Wir wissen noch nicht“, aber das hätte sich zu einer Lüge hochgeschaukelt, denn natürlich wissen die Eltern fast alles, was sich im Mutterleib der im fünften Monat Schwangeren ankündigt, ob Junge oder Mädchen. So zog sie sich mit einem Allerweltswort wie „Wir sagen nichts“ aus der Affäre — und hatte doch alles gesagt, ganz unprotokollarisch.

In der „Welt“ steht Kielingers Bericht unter der Überschrift:

Kate hat sich verplappert

Wird es ein Mädchen? Eine Schaulustige entlockt der schwangeren Herzogin von Cambridge ein ungewolltes Geständnis

Und beginnt so:

Der Zug rollt, die Hysterie ist in voller Fahrt: Es ist ein Mädchen! Doch weder hat ein Paparazzo oder Societyreporter die Nachricht über das Geschlecht des erwarteten Babys der Herzogin und des Herzogs von Cambridge erlauert, noch haben Insider am Hof den Mund nicht halten können – nein, die künftige Mama selber hat es ausgeplaudert, Kate, alias Catherine Middleton, die Ehefrau des künftigen britischen Monarchen.

Das „Darmstädter Echo“ überrascht mit einem Artikel, der mit Zweifeln beginnt:

Jetzt fragt sich das Königreich: Können wir uns wirklich auf rosa Babywäsche einstellen?

… und nach Schilderungen von erschütternder Ausführlichkeit gegen Schluss mit der Wendung schockiert:

Und jetzt gibt es eine Gegendarstellung zu dem, was Sandra Cook bezeugte. Katy Forrester, die die Herzogin im lokalen Fischerei-Museum sprach, gab gegenüber dem „Grimsby Telegraph“ an: „Ich schwöre, sie sagte, dass es ein Junge wird. Entweder habe ich es falsch verstanden oder Kate will uns alle verwirren.“ Das Rätselraten geht weiter.

Die „Berliner Zeitung“ bringt die unklare Nachrichtenlage dazu, ein weiteres Fass aufzumachen. Sie berichtet heute ausführlich über „uralte Mythen“, die darüber, ob Kate nun Mutter eines Sohnes oder einer Tochter wird, Auskunft geben könnten — „oder auch nicht“.

Bindet man den Ehering an einen Faden und lässt ihn vor dem Bauch baumeln, so die Überlieferung, schlägt er bei einem Mädchen nach links und rechts aus, bei einem Jungen beschreibt er hingegen Kreise. Diese Variante ist natürlich nur für Paare geeignet, die über den notwendigen Ring verfügen. (…)

So erwartet eine Schwangere dem Mythos nach ein Mädchen, wenn sie auf der rechten Seite schläft. Einen Jungen kann man pränatal erahnen, wenn die rechte Brust größer ist als die linke. (…)

Begegnet die Schwangere auf dem Weg ins Gotteshaus zuerst einem Mann, so die aus Bayern stammende Theorie, wird es auch einer. Und andersherum.

Und dann ist da noch das Morgenmagazin des ZDF, in dem aus irgendeinem Grund eine Frau namens Nadja Al-Chalabi herumsitzt, die als „Gesellschaftsreporterin“ vorgestellt wird.

Lustigerweise zeigt die ZDF-Moderatorin vorher deren Notizzettel in die Kamera, und Al-Chalabi sagt:

Das ist ja nur die Essenz dessen, was man vorher recherchiert. Weil ja alle immer denken: Ach, dieser Promi-Kram, der wird so rausgerotzt — so ist es nicht!

Dann rotzt sie den ganzen Promi-Kram so raus, und fasst ihre Erkenntnis zusammen: „Es wird also ein Mädchen.“

(Das „Morgenmagazin“ des ZDF trägt zum hohen „Informations“-Anteil des Senders bei, der das öffentlich-rechtliche Programm von der privaten Konkurrenz unterscheidet.)

Und das alles, weil eine ältere Frau in Grimsby sich verhört hat. Das hier ist übrigens das Video, das den verräterischen Versprecher nach Ansicht der internationalen Medienmeute belegen sollte.

Keine weiteren Fragen.

Dann reden wir mal über „Zensur“

Die Präsidenten der deutschen Verlegerverbände haben einen gemeinsamen Brief an die Bundestagsabgeordneten geschickt. Sie beklagen sich darin über die angeblich „irreführenden Aussagen und unbegründeten Behauptungen“, mit denen der Suchmaschinenanbieter Google Stimmung gegen das Leistungsschutzrecht macht. Sie schreiben:

Jeder sollte wissen, Google ist noch zu viel mehr im Stande – ohne sich wie die deutsche Presse der Wahrheit verpflichtet zu fühlen.

Die zweite Hälfte dieses Satzes ist erstaunlich. Die erste aber auch. Was wollen Hubert Burda und Helmut Heinen mit diesem Geraune andeuten? Wovor sollen wir Angst und Panik haben?

Der Text, der gleichzeitig beklagt, dass Google „perfide mit Angst und Panik arbeite“, lässt das bezeichnenderweise offen. Aber einen Hinweis, was gemeint sein könnte, liefert heute das „Handelsblatt“. Es schreibt:

Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) hatte wegen der Onlinekampagne von Google indirekt zum Boykott des Suchmaschinenbetreibers aufgerufen: „Es gibt noch andere Suchanbieter als Google“, sagte sie dem Handelsblatt.

Google hat offenbar darauf auf seine Weise reagiert. Auffällig war, dass gestern über Stunden die aktuelle Debatte über das Leistungsschutzrecht und den Boykottaufruf gegen Google der Justizministerin über eine Google-Suche nicht zu finden war. Bei Yahoo hingegen gab es bei gleichen Stichworten sofort Treffer zur aktuellen Debatte. Manch einer im Justizministerium sprach darum gestern von „Zensur“.

Darin steckt ein ungeheurer Vorwurf: Google soll Nachrichten, die dem Unternehmen nicht genehm sind, verschwinden lassen. Das wäre in höchstem Maße alarmierend. Falls das „Handelsblatt“ diesen Verdacht belegen können sollte, wäre es erstaunlich, ihn nur eher unauffällig am Ende eines Textes zu bringen, der die unscheinbare Überschrift „RTL fordert klares Bekenntnis zum Urheberrecht“ trägt.

Ein Google-Sprecher wies die „Handelsblatt“-Behauptung auf meine Anfrage zurück: „Ein solcher Vorwurf ist durch nichts begründet und absurd.“

Aber dann reden wir doch mal über „Zensur“. Oder genauer: über das Verschwindenlassen missliebiger Informationen.

Am Dienstagnachmittag hat der geschäftsführende Direktor des Max-Planck-Institutes für Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht eine Pressemitteilung verschickt. Sein Institut, die Deutsche Vereinigung für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht (GRUR) sowie mehrere weitere Wissenschaftler üben in einer Stellungnahme vernichtende Kritik an dem Gesetzentwurf, der heute Nacht in erster Lesung im Bundestag beraten werden soll.

Die führenden deutschen Zeitungen haben ihren Lesern die Existenz dieser Kritik namhafter Fachleute an dem geplanten Gesetz bis heute verschwiegen.

Es ist unwahrscheinlich, dass sie ihnen nicht bekannt ist. Die Nachrichtenagentur dpa hat erstmals gestern Vormittag in einer Meldung darüber berichtet („Wissenschaftler: Leistungsschutzrecht ’nicht durchdacht'“). In mindestens vier weiteren dpa-Meldungen ist die Stellungnahme erwähnt.

Trotzdem steht kein Wort davon in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, in der „Süddeutschen Zeitung“, in der „Welt“, im „Handelsblatt“ — alles Blätter, deren Verlage für ein Leistungsschutzrecht kämpfen und deren Redakteure gestern und heute teilweise wuchtigst Google für seine vermeintliche Desinformation kritisiert haben.

Es scheint nicht nur eine Platzfrage gewesen zu sein. Auch auf den Online-Seiten der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, der „Süddeutschen Zeitung“ und der „Welt“ ist nichts von der Kritik zu lesen. (Nachtrag: Ausnahme sind die automatischen Newsticker, die automatisch alle dpa-Meldungen übernehmen.) Immerhin bildet das „Handelsblatt“ hier eine überraschende positive Ausnahme; auch „Spiegel Online“ hat über die Kritik berichtet.

Aber in den überregionalen Zeitungen ist es, als gäbe es diese Stellungnahme gar nicht. Als wäre die missliebige Information „zensiert“ worden.

Das ist kein Einzelfall.

Als vor gut zwei Jahren in einem außergewöhnlichen Schritt 24 Wirtschaftsverbände unter Federführung des Bundesverbandes der Industrie (BDI) eine „gemeinsame Erklärung“ herausgaben, in der sie ein Leistungsschutzrecht für Presseverleger „vollständig“ ablehnten, berichteten darüber weder die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ noch die „Süddeutsche Zeitung“ noch die „Welt“.

Die Leser der FAZ erfuhren von der Existenz dieser Kritik nur indirekt zwei Monate später. In einem Interview wies der Verlegerpräsident Hubert Burda die Vorwürfe des BDI zurück — Vorwürfe, über die die FAZ nie berichtet hatte.

So ist das: Was den großen renommierten deutschen Zeitungen bei ihrem Kampf für ein Leistungsschutzrecht im Weg steht, findet in den großen renommierten deutschen Zeitungen im Zweifel nicht statt. Eine unabhängige, von Eigen-Interessen unbeeinflusste Berichterstattung kann man von ihnen nachweislich nicht erwarten. Manch einer irgendwo könnte da schon von „Zensur“ sprechen.

PS: Ich habe heute beim Zeitungsverlegerverband BDZV nachgefragt, wie man denn die furchteinflößende Äußerung zu verstehen hat, dass Google „noch zu viel mehr im Stande“ ist als die aktuelle Kampagne. Die Antwort:

Google hat in Deutschland unbestritten eine marktbeherrschende Stellung. Das versetzt das Unternehmen in die Lage, diese Kampagne im eigenen wirtschaftlichen Interesse massenwirksam zu fahren. Zugleich zeigt Google damit das Instrumentarium vor, das nötig ist, jede wie auch immer geartete Kampagne mit höchster Aufmerksamkeitswirkung durch den digitalen Flaschenhals zu lancieren.
 
Man kann das, sehr geehrter Herr Niggemeier, völlig in Ordnung finden, man kann das, wie die Zeitungs- und Zeitschriftenverleger, aufgrund der Vormachtstellung der Suchmaschine im Internet aber auch für einseitig und deshalb bedenklich halten. Unser Ziel ist es, eine ernsthafte Debatte anzustoßen und die von Google gesetzten Bedingungen nicht einfach nach dem Prinzip „Friss Vogel oder stirb“ zu akzeptieren.

Neue „Tagesschau“-Melodie: „Vielleicht ein paar gesungene Koranverse?“

Vergangenen Freitag enthüllte der „Postillon“, was manche geahnt hatten:

(Der „Postillon“ gilt als Satireseite, glaubt im Gegensatz zu fast allen anderen Nachrichtenangeboten aber wenigstens nicht, was in der „Bild“-Zeitung steht.)

Jedenfalls habe ich heute Morgen aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen die Kommentare unter dem „Welt“-Artikel gelesen, der da noch die Überschrift trug: „Tagesschau bekommt eine neue Titelmelodie“ und behauptete, der deutsche Hollywood-Komponist Hans Zimmer werde sie komponieren.

Was können „Welt“-Kommentatoren aus dieser Vorlage machen? Sehen Sie folgende Auswahl meiner persönlichen Highlights:

· · ·

DerIngenieur

Das passt doch ganz gut, die Nachrichten werden ja auch nur noch aus den USA empfangen und zu einem pseudodemokratischen PC-Einheitsbrei verschwurbelt. Stilecht!

· · ·

Hans Wagner

Die Tagesschau schaue ich täglich. Seit geraumer Zeit nur noch, um zu sehen welche Propaganda uns untergeschoben werden soll, zu welchem Zweck und was weggelassen wird.

Reale News erwarte ich schon lange nicht mehr. (mehr …)

Maxeiners und Mierschs Gehirnwäsche

Mein Freund Michalis Pantelouris hat diesen Artikel von Dirk Maxeiner und Michael Miersch in der „Welt“ als den „dümmsten Text in deutscher Sprache 2012« bezeichnet, aber damit tut er natürlich den vielen anderen Kolumnen Unrecht, die die beiden in diesem Jahr geschrieben haben und vermutlich noch schreiben werden.

Es ist trotzdem ein bemerkenswertes Dokument. Die Überschrift lautet:

Grüne Gehirnwäsche macht aus Kindern Öko-Spione

Anstatt sie zum selbstständigen und kritischen Denken zu erziehen, werden immer mehr Kinder in Deutschland ökologisch indoktriniert. Denn die grüne Wirtschaft braucht Propaganda.

Nun könnte man dem Artikel natürlich vorwerfen, dass er keine der in dieser Sätzen enthaltenen Behauptungen belegt. Anderseits muss man ihm zugute halten, dass er dem Leser mit dieser Überschrift auch nicht fälschlicherweise suggeriert, dem folgenden Text ginge es in irgendeiner Weise um eine seriöse Argumentation.

Drei Beispiele haben die Autoren, um zu zeigen, dass der „öko-industrielle Komplex“ „zunehmend“ Kinder einsetzt, um ungebührliche Aufmerksamkeit für seine eigentlich gar nicht so wichtigen Themen zu gewinnen.

Das erste ist Felix Finkbeiner, ein inzwischen 14-jähriger Junge aus der Nähe von München, der seit fünf Jahren dafür kämpft, in aller Welt massenhaft Bäume zu pflanzen. Seine Aktion „Plant for the Planet“ ist offenbar spektakulär erfolgreich, und natürlich hilft dabei auch, dass es sich um eine Initiative von Kindern handelt, was in den Medien gut ankommt. Aber selbst Maxeiner & Miersch, die sonst alles verdächtig finden, was der Umwelt gut tun könnte, sind nicht prinzipiell gegen Bäumepflanzen. Sie lassen sich sogar zu dem Halbsatz hinreißen: „Nun ist Bäumepflanzen keine schlechte Sache.“

Was also ist ihr Problem? Felix wirkte bei seinem Auftritt vor den Vereinten Nationen im vergangenen Jahr auf sie „wie eine aufgezogene Puppe“. Verdächtig machte er sich auch durch gekonntes Gestikulieren. Fazit: „Nichts an diesem Auftritt wirkt echt.“

Es bleibt offen, ob Taten mit guter Wirkung für Maxeiner & Miersch akzeptabler wären, wenn sie von Kindern organisiert würden, die sich dabei angemessen kindlich benehmen. Oder ob sie es prinzipiell ablehnen, dass sich 14-jährige dafür einsetzen, dass die Lebensbedingungen auf der Welt auch dann noch akzeptabel sind, wenn Maxeiner & Miersch längst unter der Erde liegen und nicht mehr mitkriegen, ob sich der Klimawandel wirklich als so vernachlässigenswertes Thema herausgestellt haben wird, wie sie es immer behauptet haben.

Sie sind längst beim zweiten Beispiel für „grüne Gehirnwäsche“: Ein Verlag hat es gewagt, ein neues Buch für Erzieher und Lehrer herauszugeben, das „Wie wollen wir leben? Kinder philosophieren über Nachhaltigkeit“ heißt.

Nun muss man wissen, dass für Maxeiner & Miersch eine eigene Variante von Godwins Gesetz gilt, in der der Hitler-Vergleich durch den Gebrauch des Wortes „Nachhaltigkeit“ ersetzt wurde.

Nichts anderes bringt die beiden so zuverlässig auf die Palme wie dieses Wort. Wer „Nachhaltigkeit“ sagt, hat verloren.

Ironisch schreiben sie:

Da die Mehrheit der deutschen Erwachsenen keinen Schimmer hat, was Nachhaltigkeit eigentlich sein soll (und es ihr auch niemand erklären konnte), ist es natürlich höchste Zeit, dass Kinder mit ihren Lehrern darüber philosophieren.

Niemand könnte der Mehrheit der deutschen Erwachsenen erklären, was Nachhaltigkeit sein soll? Was wäre mit der klassischen Definition, nach der „nachhaltige Entwicklung“ bedeutet,

dass die gegenwärtige Generation ihre Bedürfnisse befriedigt, ohne die Fähigkeit der zukünftigen Generation zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen zu können.

Ich glaube, dass man das sogar Kindern ganz leicht so erklären kann, dass sie es verstehen, zum Beispiel anhand von wilden Tieren, von denen man immer nur so viele jagen darf, dass es auch in Zukunft noch Tiere zu jagen gibt. (Wenn mich nicht alles täuscht, hat man mir das als Kind schon in den siebziger Jahren genau so erklärt, womöglich anhand der Indianer, die das angeblich besser wussten als der weiße Mann, aber ich wage mir nicht vorzustellen, was Maxeiner & Miersch zu dieser Art grüner Indoktrination und politischer Korrektheit zu sagen hätten.)

Wenn Maxeiner & Miersch sagen, dass „Nachhaltigkeit“ ein Mode- und Gummiwort geworden ist, haben sie vermutlich sogar Recht. Das erklärt aber noch nicht die Wut, mit der sie auf jeden einprügeln, der es zu benutzen wagt. Dabei haben sie in einem Artikel, in dem sie die angebliche Idee hinter dem Begriff als „utopisch und im Kern totalitär“ bezeichnen, sogar eine wunderbare Umschreibung des Nachhaltigkeits-Gedankens von Werner von Siemens aus dem 19. Jahrhundert gefunden: „Für augenblicklichen Gewinn verkaufe ich die Zukunft nicht.“ Den fanden Maxeiner & Miersch aus irgendwelchen Gründen in Ordnung — vermutlich weil er ohne den verhassten Begriff auskommt, der dasselbe beschreibt, vielleicht aber auch nur, weil Siemens das wusste, „ohne dafür eine Ethikkommission oder partizipative Wissenschaft zu benötigen“, was die Kindergartenhaftigkeit ihrer ganzen Argumentation ganz gut auf den Punkt bringt.

In demselben Text wiesen sie — völlig zu recht — darauf hin, dass Nachhaltigkeit kein natürliches, sondern ein ökonomisches Prinzip ist und fügten hinzu: „Hätte sich die Natur vor ein paar Millionen Jahren entschieden, nachhaltig zu sein, dann dominierten heute noch die Dinosaurier den Planeten.“

Keine Frage: Der Natur wird schon immer irgendwas einfallen, es wird halt womöglich nur kein Ort sein, an dem Dinosaurier überleben. Oder Menschen.

Aber zurück zu dem Buch, das Maxeiner & Miersch so übel aufgestoßen ist. Der Bayerische Kultusminister weist in seinem Vorwort darauf hin, dass „Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt zu den obersten Bildungszielen der Bayerischen Verfassung“ gehört:

Leitziel ist die Bildung für eine nachhaltige Entwicklung. Hierbei geht es nicht in erster Linie um die Vermittlung eines wünschenswerten Verhaltens oder um moralische Appelle, sondern vielmehr um die Befähigung von Kindern und Jugendlichen, altersangemessen aktiv am gesellschaftlichen Geschehen teilzuhaben und es mitgestalten zu können. Vor diesem Hintergrund sollen die Kinder ihren Lebensstil, gerade auch ihre Konsumgewohnheiten, hinterfragen und Lebensformen kennenlernen, die umweltgerecht und zukunftsfähig, also nachhaltig sind — um schließlich vom Lernen zum eigenen Handeln zu gelangen.

Und was das „Philosophieren“ angeht — in einem Kapitel heißt es:

Wenn hinter einer Frage möglicherweise ein Staunen, ein Zweifeln, eine ganze Reihe von Gedanken stecken, dann lohnt es sich zurückzufragen und gemeinsam nachzudenken. Eine philosophische Frage verlangt nicht nach einer Antwort, sondern nach einem Gespräch. Die eine richtige Antwort auf eine philosophische Frage gibt es nicht, vielmehr eine Vielzahl richtiger Antworten — je nachdem, aus welcher Perspektive und von wem die Frage betrachtet wird.

Diese Erziehung zur aktiven Teilhabe am gesellschaftlichen Geschehen, dieses gemeinsame Fragen, ohne Festlegung auf eine „richtige“ Antwortung, das muss es sein, was Maxeiner & Miersch als „Gehirnwäsche“ und als „Indoktrination“ bezeichnen. Erstaunlich.

Aber sie haben ja noch ein drittes Beispiel. „Propagandamaterial der Whale and Dolphin Conservation Society“ (WDCS), das „Fünfjährigen“ in die Hand gedrückt wird, wenn sie Sealife-Aquarien besuchen. Die Kinder würden darin ermuntert, ihren Eltern nachzuschnüffeln, ob sie isländischen Fisch kaufen, weil Isländer fiese Walfänger seien.

Nun wirkt die Kinder-Aktion der WDCS auch auf mich einigermaßen abwegig und die Logik hinter dem, was Maxeiner & Miersch einen „subtilen Boykottaufruf“ nennen, außerordentlich komplex. Es geht offenbar darum, dass man seinen Fisch nicht ausgerechnet von den isländischen Fischern kaufen soll, die auch groß im Walfanggeschäft sind. Es ist natürlich nicht so, wie die beiden „Welt“-Kolumnisten schreiben, dass dieser Boykottaufruf „mit keinem Wort“ sachlich begründet wird. Nur verständlich ist er nicht und nachvollziehbar ist die Aktion auch nicht.

Für Maxeiner & Miersch ist diese merkwürdige Aktion aber Gold wert. Sie schreiben über die Rolle der Kinder:

Sie sollen sich als „Walfang-Detektive“ und „Spione“ verdingen, den Erwachsenen nachschnüffeln und melden, ob und wo Mama, Papa, Opa oder Oma isländischen Fisch gekauft haben.

Nicht ganz. „Spione“ sind nicht die Kinder, sondern ihre Eltern — genauer gesagt ist es derjenige, der zuhause den Fisch kauft. Er soll als „Spion“ für den Kinder-„Detektiv“ arbeiten.

Das ist natürlich einerseits völlig egal, andererseits aber entscheidend, damit Maxeiner & Miersch aus der Geschichte die maximale Indoktrinations-Fallhöhe herausholen können. Sie beenden ihren Text nämlich so:

Dies sind nur drei Beispiele von Hunderten, wie in Deutschland Kinder mittlerweile einer grünen Gehirnwäsche unterzogen werden. Diese Art von Indoktrination ist das Gegenteil von einer Erziehung zum selbstständigen und kritischen Denken. In George Orwells „1984“ hieß die Kinderorganisation übrigens „Spione“.

Hoho! Und nun könnte man, wenn man zuviel Tagesfreizeit hätte, lange darüber grübeln, ob die Walschützer damit versehentlich ihr totalitaristisches Denken verraten haben. Womöglich. Wenn die Walschützer die Kinder in ihrer Aktion denn „Spione“ genannt hätten. Was sie nicht haben.

· · ·

Ja, das ist nur ein kleines Artikelchen da, nicht einmal ein Viertel so lang wie dieser Blogeintrag. Aber es ist eben nicht nur ein kleines Artikelchen. Es ist eines von vielen und ein Paradebeispiel dafür, mit welcher Besinnungslosigkeit solche Kämpfer gegen den vermeintlichen Mainstream und die angeblich herrschende Political Correctness auf alles einschlagen, was nicht ihrer eigenen Ideologie entspricht. Schon ein irgendwie frühreif wirkender 14-jähriger Junge, der unbestritten Gutes erreicht hat, muss da bekämpft werden, und schon ein Buch, das bloß dabei helfen will, mit Kindern ins offene Gespräch zu kommen über Themen, wird zum Teil eines Masterplans zur Unterwerfung der Welt.

Und dieser Fanatismus verkleidet sich auch noch als Kampf gegen Fanatismus.

Mit Googles Riesenfröschen durch Raum & Zeit

Kann es sein, dass es einen heimlichen Journalistenwettbewerb um den abwegigsten Zeitungsartikel über Google Street View gibt? Falls ja, ist die „Welt“ am vergangenen Samstag uneinholbar in Führung gegangen.

Feuilletonkorrespondent Paul Jandl hat etwas entdeckt, das Google Street View noch kaputt macht (außer allem anderen): die Literatur. Nämlich dadurch, dass man sich jetzt die realen Schauplätze großer Romane einfach im Internet angucken kann und dabei feststellt, dass es sich in Wirklichkeit um schnöde Orte handelt.

Montauk, zum Beispiel, ist auf Street View nur ein Ort, „Montauk“ bei Max Frisch hingegen ein Sehnsuchtsort. Jandl schreibt:

Die autobiografische Erzählung ist Literatur mit Schauplatz. Google ist bloßer Schauplatz. Ohne Aura, reine Plattheit! Will man rufen und Datenschutz fordern.

Ich will rufen: Was haben Sie denn gedacht? Das eine ist ein realer Ort, das andere seine literarische Überhöhung. Wäre beides dasselbe, würden die Menschen Ansichtskarten sammeln statt Bücher zu lesen. Und wenn Sie das nicht sehen wollen, will ich weiter rufen, wenn Sie sich das Bild von Montauk bewahren wollen, das Max Frisch in Ihnen geweckt hat, dann gehen Sie doch einfach nicht auf Google Street View, statt es gleich verbieten zu wollen.

Vielleicht ist Paul Jandl jemand, der abends verzweifelt zu seiner Frau sagt: „Verdammt, Schatz, Bauer hat einen neuen Fruchtjoghurt mit Kirsch-Kiwi-Geschmack rausgebracht, jetzt muss ich den auch noch essen.“ Vielleicht macht er den Kurzschluss aber auch nur im Internet, dass er jedes neue Angebot nicht als Angebot, sondern als Pflicht wahrnimmt.

Jandl meint ernsthaft, dass Google Street View nicht nur den Literaturgenuss von ihm, den Zwangs-Google-Street-View-Nutzer, bedroht, sondern die Literatur an sich. Er schreibt: „Solange der Streit um Street View dauert, ist die Literatur noch halbwegs aus dem Schneider.“ Und dann formuliert er diesen Satz:

(…) die topografische Wahrheit des Unternehmens Google Street View ist auch ein Eingriff in die Privatsphäre der Literatur.

Das ist in einem Maße prätentiöser Unsinn, in sprachlicher wie in logischer Hinsicht, dass es schwer fällt, sich damit überhaupt auseinanderzusetzen, weshalb ich einfach darauf verzichte.

Jandl fährt fort:

Will der Leser denn wirklich wissen, wie die Froschperspektive der Google-Kameras Joyces Dublin sieht?

Gute Frage, deren Antwort vermutlich seine ganze Kolumne überflüssig machen würde. Andere Frage: Wo fände der Leser, der Joyces Dublin sehen wollte, auf Google Street View Aufnahmen der irischen Stadt von der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts? Und was ist das für ein drei Meter großer Frosch?

Am Ende kommt Marcel Proust zu Wort:

„Hätten meine Eltern mir erlaubt, den Schauplatz eines Buches, das ich las, selber aufzusuchen, so hätte das meiner Meinung nach einen unschätzbaren Fortschritt in der Eroberung der Wahrheit bedeutet.“

Warum Jandl diesen Satz zitiert, ist unklar, denn dem „Welt“-Journalisten geht es ja nicht um die Eroberung der Wahrheit, sondern die Bewahrung der Fiktion. Aber Proust war, wenn ich Jandl richtig verstehe, ein glücklicher Mensch, weil er in einer Zeit lebte, als es das noch nicht gab, was er sich wünschte. Er wusste nicht, „was auf die Welt noch zukommt“.

Und aus der „Welt“, möchte ich hinzufügen.

Chronisch krank

Es ist alles noch viel schlimmer.

Seit über einem Jahrzehnt schreibt der Journalist Christoph B. Schiltz für die „Welt“ auf der Grundlage einer Statistik des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) immer wieder über den jeweiligen Krankenstand in Deutschland. Seit über einem Jahrzehnt missversteht er, was diese Statistik misst, und interpretiert die Zahlen falsch. Und seit über einem Jahrzehnt übernehmen Nachrichtenagenturen und vermeintliche Qualitätsmedien seine falschen Interpretationen.

Das BMG misst den Krankenstand mit der Statistik KM 1/13. Es ist eine höchst ungenaue Messung, und die Regierung räumt das selbst auch ein. Es handelt sich um eine Stichtagserhebung: Die Krankenkassen melden dem Ministerium, wieviel Prozent ihrer Versicherten am Ersten eines jeden Monats vom Arzt krankgeschrieben waren. Wenn eine Grippewelle Deutschland vom 5. bis 25. Februar lahmlegt, taucht das in der Statistik nicht auf. Wenn der Erste eines Monats auf einen Sonntag fällt, liegt der gemeldete Krankenstand für diesen Monat niedriger als wenn er auf einen Montag fällt, weil sich am Wochenende weniger Menschen neu krankschreiben lassen. Wegen der Feiertage am jeweiligen Monatsanfang fallen die gemeldeten Krankenstände im Januar und Mai immer relativ niedrig aus. Und weil die Statistik nur ärztliche Krankschreibungen zählt, erfasst sie Kurzzeiterkrankungen in der Regel nicht, weil für ein oder zwei Tage Fehlen meistens kein Attest nötig ist.

Die Aussagekraft der Zahlen ist also sehr gering, aber wenn man die Einschränkungen kennt, kann man natürlich dennoch interessante Rückschlüsse aus ihnen ziehen.

Christoph B. Schiltz kennt sie nicht. Christoph B. Schiltz glaubt, dass die Prozentangaben in der Statistik des BMG nicht das Verhältnis der Krankgeschriebenen zu den Nicht-Krankgeschriebenen am jeweiligen Stichtag angeben, sondern das Verhältnis der Fehlzeiten zur Soll-Arbeitszeit im jeweiligen Monat. Das tun sie nicht.

Oder wie das Gesundheitsministerium formuliert: „Schlüsse auf eine Differenz zur Sollarbeitszeit oder auf die Zahl der Fehl-Arbeitstage pro Jahr lassen sich nicht ziehen.“

Diese Schlüsse zieht Christoph B. Schiltz aber seit mindestens 1998. Er hat den Zahlen in zig Artikeln in der „Welt“ und ihrer Teilkopie „Berliner Morgenpost“ eine Bedeutung zugeschrieben, die sie nicht haben. Er tut das mit großer Routine.

„Welt“, 27.7.1999:

Nach der neusten Statistik des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), die der WELT vorliegt, fehlten die 30,1 Millionen Arbeitnehmer im ersten Halbjahr 1999 4,25 Prozent der Sollarbeitszeit. Dies entspricht 4,62 Arbeitstagen und einem Anstieg von 6,2 Prozent gegenüber den ersten sechs Monaten 1998.

„Welt“, 20.1.2000:

Laut Statistik des Bundesge-sundheitsministeriums (BMG), die der WELT vorliegt, fehlten die 32,08 Millionen Arbeitnehmer im Jahr 1999 4,25 Prozent der Sollarbeitszeit. Dies entspricht einer Fehlquote von 9,4 Arbeitstagen.

„Welt“, 5.7.2000:

Laut der neuesten Statistik des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), die der WELT vorliegt, fehlten die 31,9 Millionen Arbeitnehmer im ersten Halbjahr 4,23 Prozent der Sollarbeitszeit. Dies entspricht einer Fehlquote von 4,6 Arbeitstagen.

„Welt“, 31.7.2002:

Laut Statistik des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), die der WELT vorliegt, fehlten die Arbeitnehmer im ersten Halbjahr 4,18 Prozent der Sollarbeitszeit – ein Minus von vier Prozent gegenüber dem Vorjahr. Dies entspricht 5,1 Arbeitstagen.

„Welt“, 15.10.2002:

Nach den neuesten Erhebungen des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), die der WELT vorliegen, fehlten die Arbeitnehmer zwischen Januar und September 2002 insgesamt 4,02 Prozent der Sollarbeitszeit (Vorjahr: 4,17 Prozent). Dies entspricht 6,6 Arbeitstagen.

„Welt“, 2.1.2003:

Nach den neuesten Erhebungen des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS), die der WELT vorliegen, fehlten die Arbeitnehmer im vergangenen Jahr vier Prozent der Sollarbeitszeit. Dies entspricht 8,8 Arbeitstagen.

„Welt“, 21.10.2003:

Nach den neuesten Erhebungen des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS), die der WELT vorliegen, fehlten die Arbeitnehmer zwischen Januar und September 2003 aus Krankheitsgründen durchschnittlich 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit. Dies entspricht 5,8 Arbeitstagen und bedeutet einen Rückgang von 11,2 Prozent gegenüber dem vergleichbaren Vorjahreszeitraum (4,03 Prozent der Sollarbeitszeit).

„Welt“, 29.12.2003:

Laut neuen Statistiken des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS), die der WELT vorliegen, fehlten die Arbeitnehmer im abgelaufenen Jahr 3,6 Prozent derSollarbeitszeit. Dies entspricht 8,97 Arbeitstagen.

„Welt“, 20.12.2004:

Laut neuesten Statistiken des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung fehlten die 34,1 Millionen Arbeitnehmer im abgelaufenen Jahr aus Krankheitsgründen 3,3 Prozent der Sollarbeitszeit. Dies entspricht einer Fehlquote von 7,35 Arbeitstagen.

„Welt“, 15.1.2007:

Nach neuesten Erhebungen des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), die der WELT vorliegen, fehlten die Arbeitnehmer 2006 im Durchschnitt 3,29 Prozent der Sollarbeitszeit. Das entspricht 7,2 Arbeitstagen.

„Welt“, 28.12.2009:

Im abgelaufenen Jahr fehlten die Arbeitnehmer in Deutschland laut neuen Statistiken des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), die der WELT vorliegen, 3,3 Prozent der Sollarbeitszeit. Dies ist ein Gleichstand gegenüber dem Vorjahr und entspricht 7,3 Arbeitstagen.

„Welt“, 19.7.2010:

Die Arbeitnehmer fehlten in den ersten sechs Monaten laut den neuesten Statistiken des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), die der WELT vorliegen, 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit – das sind zehn Prozent mehr als im vergleichbaren Vorjahreszeitraum. Die Fehlquote entspricht vier Arbeitstagen.

(Kleine Auswahl.)

Allein fast ein Dutzend Mal vermeldete Schiltz in der „Welt“, dass der Krankenstand auf ein „Rekordtief“ gefallen sei. Ungefähr ein Jahrzehnt lang variierte er minimal den Satz: „Arbeitsmarktexperten nennen als wichtigste Gründe für den niedrigen Krankenstand die schwache Konjunktur und die Angst der Arbeitnehmer, in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit im Krankheitsfall den Job zu verlieren.“ Gleich dreimal zitierte er den Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Nürnberger Bundesagentur für Arbeit, Joachim Möller, mit demselben Satz: „In wirtschaftlichen Krisenzeiten sinken tendenziell die Krankenstände.“

Das mag immerhin stimmen. Schiltz‘ Zahlen stimmen nicht. Noch einmal: Man kann aus den der „Welt“ jeweils „vorliegenden“ „neuesten“ Statistiken des BMG weder die Fehlzeit als Anteil der Sollarbeitszeit errechnen, noch die entsprechenden Arbeitstage.

Fast amüsant ist es nachzulesen, wie Schiltz die Schwankungen der Monatswerte von Jahr zu Jahr notiert, ohne die einfache Erklärung dafür zu erkennen. Am 16.4.1999 zum Beispiel notierte er in der „Welt“:

Besonders deutlich war der Anstieg in den Monaten Februar und März [1999 gegenüber 1998].

Ich verrate Ihnen und ihm ein Geheimnis: Die Stichtage für die Erhebung, der 1. Februar und der 1. März, waren 1998 Sonntage, 1999 Montage. Alles andere als ein besonders deutlicher Anstieg in der Zahl der Krankgeschriebenen an diesen Stichtagen 1999 wäre wahrlich bemerkenswert gewesen. Aber Schiltz glaubt ja, es handele sich um die Fehlzeiten.

Immer wieder betont er in seinen Jahres-, Halbjahres und Quartalberichten auch, dass der Krankenstand im Januar besonders niedrig gewesen sei. Nun ja: Da ist Stichtag Neujahr. Die meisten frisch Erkrankten werden erst am 2. Januar zum Arzt gehen und somit in der Januar-Statistik fehlen.

Nun könnte man das alles abtun als die erstaunliche, und doch irgendwie nicht überraschende Geschichte eines Journalisten, der vor vielen Jahren eine Statistik für sich entdeckt, sie aber in all den Jahren nicht verstanden hat. Es ist aber alles noch schlimmer. Seine Fehlinterpretation gibt seine Zeitung routinemäßig an die Nachrichtenagenturen, die sie routinemäßig ungeprüft zu Meldungen verarbeiten, die andere Zeitungen routinemäßig ungeprüft weiterverbreiten.

Allein die Nachrichtenagentur dpa vermeldete seit 1998 mindestens zwei Dutzend Mal die falschen Anteile der „Soll-Arbeitszeiten“ unter Berufung auf die „Welt“. Aber auch AP, AFP, Reuters, epd fielen auf den cleveren ahnungslosen „Welt“-Journalisten und seine Vorabmeldungen herein. Der Unsinn erschien im Laufe der Jahre u.a. in „Berliner Zeitung“, „B.Z.“, „taz“, „Bild“ und „Süddeutscher Zeitung“.

Seit vergangenem Jahr scheint das Gesundheitsministerium zu versuchen, mit Pressemitteilungen gegenzusteuern. Mit welchem Erfolg können Sie im BILDblog nachlesen. Aber natürlich auch erraten.

Nachtrag, 20.20 Uhr. BILDblog-Leser Christian M. hat nachgerechnet und ein weiteres Detail dieses umfassenden Desasters offengelegt:

Wenn man um die Sache mit den Stichtagen weiß, bleibt von den aktuellen Meldungen über den (angeblich wegen der besseren Konjunktur) sprunghaft gestiegenen Krankenstand im ersten Halbjahr nichts, aber auch gar nichts übrig. Es verhält sich nämlich so, dass von den sechs Stichtagen 2009 gleich fünf auf einen Sonn- oder Feiertag fielen. 2010 waren das nur zwei. Das ist der Grund, warum der Krankenstand im ersten Halbjahr 2010 scheinbar sprunghaft gestiegen ist.

„Welt“ entlarvt: „Dutschke“-Film ist Film!

Da ist Sven Felix Kellerhoff, der leitende Redakteur für Zeit- und Kulturgeschichte der „Welt“, aber einer ganz großen Sache auf die Spur gekommen.

In dem Film „Dutschke“, der heute um 20.15 Uhr läuft, habe das ZDF „historische Fakten gefälscht“. Die Filmemacher Daniel Nocke und Stefan Krohmer seien „der Manipulation überführt“. Mit „massiven Fälschungen“ erweckten sie bei den Zuschauern den Eindruck, der Hass, der Rudi Dutschke entgegenschlug, sei die Folge „einer ‚Hetze‘ der Blätter des Axel Springer Verlages“.

Der Film habe in einer rasant geschnittenen Montage Zeitungsseiten manipuliert und Fotos ausgetauscht.

Tatsache:


(Film)


(Original)


(Film)


(Original)

„Das hat mit seriöser Dokumentation nicht mehr viel zu tun“, schimpft Kellerhoff.

Dabei ist die Sache noch viel schlimmer. Das ZDF hat die Fotos nämlich nicht nur geändert, sondern sogar animiert. Die ausgetauschten Fotos verwandeln sich, während die Kamera auf sie zufährt, wie von Zauberhand zu Filmszenen mit Ton! Sehen Sie selbst:

Dieser sehr viel größere Skandal ist Kellerhoff entgangen. Denn das, was da gezeigt wird, ist historisch falsch. 1968 gab es nach gesicherten Kenntnissen von Historikern noch keine „Bild“-App und keine elektronische Zeitung, die solche Animationen in Kombination mit den Zeitungsinhalten ermöglicht hätte. Die Filmemacher haben das in ihrer Springer-Hetze-Hetze einfach erfunden!

Kellerhoff schreibt über die von ihm entdeckte „Manipulation“, sie sei, „zumal in einem Dokudrama, kein Kavaliersdelikt. Ob ZDF-Redakteurin Caroline von Senden davon weiß?“

Ich würde das mal ungeschützt bejahen. Ja, ich würde annehmen, dass die ZDF-Redakteurin erkannt hat, dass die Filmemacher da Fernsehaufnahmen mit Zeitungsschlagzeilen kombiniert haben, indem sie die bewegten Bilder nachträglich an die Stelle der Original-Fotos gesetzt haben. Ich würde sogar annehmen, dass die meisten Zehnjährigen das erkannt hätten.

Die Schwulen sollen wieder verschwinden

Philipp Gut mag keine Schwulen mehr sehen. Wo er auch hinguckt, sind Homosexuelle: in der Politik, im Militär, auf der Straße, im Internet, selbst in den Schulen. Philipp Gut fühlt sich davon belästigt. Er hat nichts gegen die Leute an sich, und eigentlich auch nichts gegen ihre Homosexualität. So lange sie sie nur verstecken. Jetzt, da Homosexualität nicht mehr diskriminiert werde, sagt er, gebe es auch keinen Grund mehr, sie zu zeigen.

Philipp Gut ist Kultur- und Gesellschaftschef der „Weltwoche“. Die Schweizer Wochenzeitung hat sich unter Roger Koeppel geschickt eine publizistische Nische erobert, indem sie all die überwundenen geglaubten Ressentiments von ihrem muffigen Geruch befreit und neu als frischen Kampf gegen vermeintliche Denkverbote des vermeintlichen Mainstreams verkauft.

Guts Beschwerde über die „Homosexualisierung der Gegenwart“ erschien dort im Sommer, und der Text war dumm und homophob genug, um gestern von der „Welt“ recyclet zu werden. Über dreieinhalb Monate später wirken die konkreten Beispiele in dem Artikel zwar merkwürdig inaktuell, aber die Ignoranz und Bösartigkeit der Argumentation ist zweifellos zeitlos.

Philipp Gut verbrämt seine Ablehnung von Homosexualität hinter der Behauptung, sie sei „zu einer Art Religion“, ein „Glaubenssystem“ geworden:

Wer sich outet, wird zum leuchtenden Märtyrer einer bekennenden Kirche.

Nun ist es ein bisschen bedrückend, dass ein Kulturchef die Bedeutung des Wortes „Märtyrer“ nicht kennt. Vermutlich wollte er einfach „Helden“ oder gar „Heiligen“ sagen. Aber er belegt ohnhin nicht einmal im Ansatz, worin eigentlich dieses „Glaubenssystem“ besteht, was das quasi Religiöse daran sein soll, dass viele Menschen ihr Schwul- und Lesbischsein nicht mehr verstecken.

Nein, es geht nicht um Religion. Es geht darum, dass Philipp Gut eine Art gesamtgesellschaftliches „Don’t Ask Don’t Tell“ fordert. Er schreibt:

Man braucht nur ein paar Minuten im Internet zu surfen, um auf alle möglichen Interessen- und Lobbygruppen zu stoßen.

Das Angebot reicht von den Schwulen Eisenbahnfreunden in Deutschland über die Schwulen Väter und den LesBiSchwulen Jugendverband bis zu schwulen Offizieren und Polizisten.

Ist das nicht schön? Menschen mit gleichen Interessen tun sich zusammen. Solange der Verein Schwuler Eisenbahnfreunde niemanden zwingt, bei sich Mitglied zu werden, wüsste ich nicht, was man dagegen haben könnte – oder was es Herrn Gut überhaupt angeht. Andererseits kann ich mir vorstellen, dass es gerade für Soldaten oder Polizisten auch im Jahr 2009, auch in Deutschland nicht immer ganz einfach ist, schwul zu sein oder gar zur eigenen Homosexualität zu stehen, und so ein Verband sehr hilfreich sein kann.

Philipp Gut spricht von einem „Siegeszug des schwulen Lifestyles“. Ich weiß nicht, was er damit meint. Ich weiß allerdings, dass sich ein Guido Westerwelle von den Oliver Pochers dieser Welt immer noch schlechte Schwulenwitze anhören muss. (Gut selbst macht auch einen kleinen Witz, der aus den sechziger Jahren oder der sechsten Klasse kommen könnte, und spricht von der „pardon: Penetrierung des öffentlichen Lebens mit der Homosexualität“. Da weiß man wenigstens, wovor er sich am meisten fürchtet.)

Der Punkt scheint erreicht, wo die Propagierung des eigenen Lebensstils auf Kosten der Meinungsäußerungsfreiheit ins Intolerante kippt. Jüngstes Beispiel ist der Fall von Carrie Prejean, die den Titel einer Miss California wegen kritischer Äußerungen zur Homo-Ehe abgeben musste.

Mal abgesehen davon, dass ich nicht sehe, wo Schwule ihren Lebensstil „propagieren“ (das Wort knüpft wohl nicht zufällig an die uralte Mär an, man könne oder wolle heterosexuelle junge Menschen für sich rekrutieren), und mal abgesehen davon, dass es ja so dramatisch nicht zu sein scheint, mit der Einschränkung der Meinungsfreiheit, wenn das „jüngste Beispiel“ Monate zurückliegt: Carrie Prejean musste den Titel einer Miss California nicht wegen kritischer Äußerungen zur Homo-Ehe abgeben.

Philipp Gut behauptet, Homosexuelle übten „heute selbstverständlich alle erdenklichen Bürgerrechte aus“ und spricht von einer „rechtlichen Gleichstellung“. Ich weiß nicht, von welchem Land er spricht, aber in Deutschland haben schwule Paare nicht die gleichen Rechte wie heterosexuellen Paare, und in den Vereinigten Staaten fliegen sie sogar aus der Armee, wenn ihre Homosexualität bekannt wird.

Gut schreibt:

In Berlin zogen auch dieses Jahr aus Anlass des Christopher Street Day Zehntausende von Lesben und Schwulen zur Siegessäule, angeführt vom schwulen Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD). Riegelt man für diskriminierte Minderheiten ganze Innenstädte ab?

Das ist die verquere Logik des Herrn Gut: Wenn die Schwulen noch diskriminiert würden, dürften sie nicht auf die Straße. Wenn sie aber nicht diskriminiert werden, haben sie auch auf der Straße nichts zu suchen.

Nun gebe ich zu, dass die CSD-Veranstaltungen eine verwirrende Mischung sind: Es sind Partys, in denen man öffentlich die eigenen Sexualität feiert, es sind ultra-kommerzielle Werbeveranstaltungen, und es gibt gleichzeitig einen von Stadt zu Stadt unterschiedlich großen Rest politischer Demonstration für echte Gleichberechtigung und Toleranz. Das muss man nicht mögen, als Schwuler so wenig wie als Hetero, aber man muss es hinnehmen, jedenfalls in dem gleichen Maße wie man jede andere Großveranstaltung mit Absperrung der Innenstadt hinnehmen muss. Und was ist schlimm daran, wenn relativ weltoffene Städte wie Berlin, Zürich und Amsterdam erkannt haben, dass es sich auch wirtschaftlich für sie lohnt, sich dieser Zielgruppe positiv zu verkaufen?

Die Opferrolle, mit der [Homosexuelle] nach wir [sic!] vor kokettieren, passt nicht mehr. Ihre Demonstrationen sind zu hohlen Ritualen gutmenschlicher Bekenntnisse geworden, die nichts kosten. Wer hingeht, kann sich besser fühlen — eine Gratistoleranz.

Er war offensichtlich nie da. Die Gay-Pride-Veranstaltungen sind keine Gutmenschen-, sondern Hedonisten-Veranstaltungen. Man hat Spaß und feiert sich und die Vielfalt menschlicher Lebensformen. Und die Heteros, die mitfeiern oder zugucken, tun dies sicher nicht aus dem Gefühl, damit ein Opfer gebracht zu haben und bessere Menschen zu sein. Sondern weil das „gutmenschliche Bekenntnis“ für sie eine Selbstverständlichkeit ist, und weil sie Spaß daran haben. Weil sie das, was Philipp Gut als eine Bedrohung und eine Belästigung empfindet, als eine Bereicherung erleben: dass Menschen verschieden sind.

Und dann, natürlich, die armen Kinder. Gut schreibt, dass „selbst vor Kindern und Schulen die schwulen Pressure-Groups nicht halt machen“. Er reibt sich daran, dass es Forderungen gibt, das Thema der sexuellen Orientierung „sowohl mit der allgemeinen Sexualerziehung als auch fächerübergreifend im jeweiligen Kontext in allen Altersstufen“ zu behandeln. Vielleicht weiß er nicht, was es bedeuten kann, in der Provinz oder in einem traditionellen muslimischen Milieu in einer deutschen Großstadt als Schwuler aufzuwachsen. Vielleicht glaubt er, man dürfe Kindern in der Schule deshalb nicht über Homosexualität und die Normalität von Homosexualität aufklären, weil sie dann alle schwul werden.

Er schreibt:

Ein bekannter Schriftsteller, der in Berlin lebt, erzählt, dass der Lehrer seines Sohnes der Klasse schon am ersten Schultag die Information aufdrängte, dass er schwul sei.

Nun weiß ich nicht, ob Philipp Gut oder der unbekannte bekannte Schriftsteller darüber weniger empört wären, wenn der Lehrer seinen Schülern das am dritten Tag oder erst bei der Abi-Feier erzählt hätte. Ich kann mir nur vorstellen, was es heißt, als schwuler Lehrer Schüler zu unterrichten, für die „schwul“ eines der schlimmsten Schimpfwörter ist; in der Angst zu leben, dass das rauskommt und irgendwann Gerüchte und böse Sprüche die Runde machen. Ich kann mir vorstellen, warum sich ein schwuler Lehrer, der einen wesentlichen Teil seines Lebens nicht verleugnen will, in dieser Situation dafür entscheidet, es gar nicht erst darauf ankommen zu lassen, sondern vom ersten Tag an reinen Tisch zu machen und zu sagen: So ist das. Nehmt’s hin. Ein solcher Lehrer kann das machen, um ein Vorbild zu sein für die, statistisch gesehen, vermutlich zwei, drei, vier Kinder in seiner Klasse, die auch homosexuell sind. Oder er kann es machen, damit es, im Gegenteil, gar kein Thema mehr ist.

Philipp Gut ist ein besonders heuchlerischer Schwulengegner: Er hat nichts gegen schwule Lehrer, solange sie ihr Schwulsein verstecken. Im Klartext heißt das: Er hat nichts gegen schwule Lehrer, solange sie nicht schwul sind. Ich bin mir sicher, er findet sich aufgeklärt, tolerant und modern.

Sein Artikel endet mit einem Missverständnis, das für seinen Text zentral und leider weit verbreitet ist:

Nach der erfolgreichen Emanzipation der Schwulen dürfte man eigentlich erwarten, dass die Homosexuellenbewegung etwas lockerer wird. Welche Bedeutung hat die penetrante, ja das öffentliche Leben bedrängende „Sichtbarkeit“ noch?

Schwulsein wäre dann einfach eine sexuelle Veranlagung, eine Privatsache, die nach den Regeln des guten Geschmacks in der Öffentlichkeit endlich wieder diskret behandelt würde. Man läuft ja auch sonst nicht dauernd mit offenem Hosenladen herum.

Man darf nicht auf die treuherzige Harmlosigkeit hereinfallen, in der er das formuliert. Philipp Gut will, dass Schwule und Lesben aus der Öffentlichkeit verschwinden und ihr Schwul- und Lesbischsein wieder verstecken. Aber es geht nicht um eine „sexuelle Veranlagung“, um die eigene Intimsphäre, um Diskretion und „guten Geschmack“. Jemand, der sagt, dass er schwul ist, gibt damit nicht mehr von sich Preis als jemand, der sagt, dass er verheiratet ist. Als Klaus Wowereit öffentlich verkündete, dass er schwul sei, hat er damit nicht mehr von sich verraten als jeder Politiker, der sich mit seiner Frau zeigt, genau genommen weniger.

Komisch, dass Herr Gut sich von sichtbaren Schwulen belästigt fühlt, aber nicht von sichtbaren Heterosexuellen. Wo bleibt sein Aufschrei, dass die deutsche Bundeskanzlerin, zum Beispiel, kein Geheimnis daraus macht, dass sie mit einem Mann zusammenlebt? Ist das nur Ausdruck ihrer „sexuellen Veranlagung“? Warum, könnte man mit Gut fragen, müssen Heterosexuelle (Ehe-)Männer und (Ehe-)Frauen ihr Intimleben auf diese Art öffentlich machen und damit, man merke sich die Formulierung: „das öffentliche Leben bedrängen“?

Philipp Gut, Ressortleiter bei der sich auf irgendeine verquere Art für liberal und freiheitlich haltenden „Weltwoche“, meint, dass nur Heterosexuelle das Recht haben, ihre Partner der Öffentlichkeit vorzustellen. Natürlich fühlt er sich von denen nicht bedrängt, denn die sind ja wie er: normal. (Es sei denn, ich täte ihm Unrecht, und er sagt bei jeder Veranstaltung, wo ihm ein Mann seine Lebensgefährtin vorstellt: „Iiiieh, verschonen Sie mich mit diesen sexuellen Details, ich renne hier ja auch nicht mit offener Hose rum.“) Er spricht damit sicher vielen anständigen Bürgern (und dem Udo Walz natürlich) aus der Seele, die es auch eklig finden, wenn zwei Männer sich auf offener Straße küssen.

Es geht nicht um eine „sexuelle Veranlagung“ und nicht um das Intimleben, weshalb es nicht nur diskriminierend, sondern vor allem dumm ist, wenn Gut fragt: „Wie sehr interessiert es uns eigentlich, wer welchen sexuellen Praktiken nachgeht und warum? Kommt als Nächstes die Latexfraktion? Oder beglücken uns die Tierliebhaber mit ihren Vergnügungen?“

Es gibt bei der Emanzipation von Homosexuellen einen entscheidenden Unterschied zu anderen Gruppen wie Frauen, Schwarzen oder Behinderten, die gegen ihre Diskriminierung kämpfen: Homosexualität ist unsichtbar. Die Schwulenbewegung hat nicht nur um Rechte gekämpft wie das, überhaupt einen anderen Mann lieben zu dürfen, sondern auch darum, sich nicht länger verstecken zu müssen. Jemand müsste dem sich so bedrängt fühlenden Philipp Gut vielleicht erklären, was der Begriff des „Coming Out“ bedeutet und warum er so zentral ist für Schwule und Lesben. Dass das Sichtbarmachen von Homosexualität nicht nur ein Mittel war im Kampf um Bürgerrechte, sondern wesentliches Ziel dieses Kampfes: das Recht, sein Schwul- oder Lesbischsein nicht verstecken zu müssen.

Philipp Gut plädiert dafür, dass die Homosexuellen schön wieder in den Schrank zurück gehen. In diesem Schrank, soweit reicht seine Scheintoleranz, dürfen sie dann machen, was sie wollen, da gelten dann auch die Bürgerrechte und so.

Gut schreibt:

Die Schwulen bestimmen heute, wie über Schwule zu denken und zu sprechen ist — und vor allem, worüber man nicht sprechen darf.

Er merkt nicht, wie ironisch der Satz ist, wenn man den ganzen Rotz nun schon zum zweiten Mal in eine große Zeitung schreiben durfte.

Aber das darf man den modernen Schwulengegnern wie ihm am wenigsten durchgehen lassen: dass sie sich auch noch als Opfer stilisieren.