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Wolf Schneider hat „Jehova“ gesagt

Zugegeben: Ich habe mir „Das neue Handbuch des Journalismus und des Online-Journalismus“ nur wegen der Stellen gekauft. Viele schlimme Stellen hatte ich erwartet, nachdem sich mehrere Blogs in einen kleinen Empörungsrausch geschrieben haben. Die Autoren Wolf Schneider und Paul-Josef Raue, so der Tenor, hätten ihre Arroganz und Ahnungslosigkeit, was das Internet angeht, in bestürzender und entlarvender Weise zur Schau gestellt.

Doch das Buch hält nicht, was seine Kritiker versprechen. Ich habe darin keine „Steinzeitansichten über Zukunfts-Journalismus“ entdeckt, kein „schockierend schlechtes Machwerk“, nicht einmal einen fast bewundernswerten „Mut, ohne irgendeine Recherche zum Thema ein paar steile Thesen aufzustellen“.

Die Kritiker tun Wolf Schneider unrecht, und das ärgert mich schon deshalb, weil es dadurch so wirken könnte, als hätte Wolf Schneider recht.

Der Journalist, Journalistenausbilder und Journalistenhandbuchherausgeber Christian Jakubetz („‚Universalcode‘ — der neue Standard der Journalismus-Lehre“) empört sich über das Buch:

Um welch merkwürdige Haltung handelt es sich eigentlich, wenn zwei Journalistenausbilder jungen Journalisten die Vorzüge einer Onlineredaktion vor allem so anpreisen, als dass dort niemand gegenliest und man dort Texte, die für die hochwertige Zeitungsredaktion unverdaulich sind, irgendwie noch unterbringen kann? Online als Müllschlucker, als Resteverwerter, als Spielwiese, die Driving Range für alle, bei denen es für die journalistische Platzreife nicht ganz reicht? Doch ja, das glauben Schneider und Raue allen Ernstes — um es am Ende des Kapitels nochmal ausdrücklich zu bekräftigen (extra fett gesetzt): Wer diesen ganzen Technikkram also halbwegs beherrsche, der „hat als Anfänger große Chancen, zumal viele Zeitungsredakteure Online wenig achten und beachten“.

Es ist sicher kein Zufall, dass Jakubetz hier nur einen Halbsatz wiedergibt. Im Zusammenhang hätte das Zitat nämlich seine Unterstellungen nicht gedeckt. Es lautet vollständig so:

Online-Redaktionen arbeiten wie Zeitungsredaktionen, nur viel schneller und viel härter. Wer sich vom Zeitdruck nicht drangsalieren lässt, wer die Technik souverän beherrscht, wer auch mal auf eigene Faust recherchiert und mit fertigen Texten und Bildern in die Redaktion kommt — der hat als Anfänger große Chancen, zumal viele Zeitungsredakteure Online wenig achten und beachten.

Keineswegs wird hier „Online als Müllschlucker“ beschrieben, sondern als Medium, das Freiräume bietet, wenn man sie zu nutzen versteht. Ich halte jedes Wort in diesem Zitat für zutreffend und sogar für schwer bestreitbar.

Wenn „man“ (Jakubetz benutzt das Wort im Wulffschen Sinne als „ich“) die folgenden Zitate aus dem Buch liest, fällt einem (ihm) die Kinnlade runter:

  • Die meisten Leser wollen gar nicht mehr lesen, sie verzweifeln vor der Masse der Informationen – und wenden sich im Internet gleich den Vergnügungen und Zerstreuungen zu, die einen Mausklick entfernt liegen.
  • Der Dialog im Internet besteht zum Großteil aus Schwachsinn und Dampfplauderei; er kostet mehr Zeit als er Gewinn bringt.

Darüber kann man sicher streiten. Ich halte zum Beispiel den ersten Teil des Dialog-Satzes für wahr und den zweiten für falsch, aber bezeichnend ist auch hier wieder, dass Jakubetz den Zusammenhang weglässt. Die Sätze stehen am Ende der folgenden Ausführungen:

Das Internet wirbelt den Journalismus durcheinander.

Das Internet macht einen Traum wahr, den Traum der Unendlichkeit von Raum und Kommunikation:

  • Ist der Raum auf einer Zeitungsseite endlich, so sind die Räume im Internet unendlich. Jeder schreibt so lange und so viel, wie er will; er stellt alle Materialien, die er genutzt hat, neben seine Artikel und macht dem Leser das Wissen nutzbar, das er hat.
  • Ist die Zeitung eine Einbahnstraße der Kommunikation, so bietet das Internet die Chance des Dialogs mit der denkbar kleinsten Verzögerung: Ich schreibe, mein Leser reagiert sofort — und umgekehrt.

Doch der Weg vom Traum zum Alptraum ist kurz:

  • Die meisten Leser wollen gar nicht mehr lesen, sie verzweifeln vor der Masse der Informationen – und wenden sich im Internet gleich den Vergnügungen und Zerstreuungen zu, die einen Mausklick entfernt liegen.
  • Der Dialog im Internet besteht zum Großteil aus Schwachsinn und Dampfplauderei; er kostet mehr Zeit als er Gewinn bringt.

Schneider und Raue beschreiben Traum und Alptraum, Theorie und Praxis, fantastische Möglichkeiten und ernüchternde Realitäten. Natürlich lässt sich darüber streiten, ob sie zu pessimistisch sind. Aber so zu tun, als hätten sie sich mit dieser Beschreibung als Nichtswisser und Nichtnachdenker zu erkennen gegeben, halte ich für abwegig.

Thomas Knüwer klagt über das Buch:

Hier wird der Online-Journalismus nicht als Chance dargestellt, als weites Feld, in dem sich die Träume all jener erfüllen, die Leidenschaft für diesen Beruf empfinden.

Im Zweifel bin ich da eher bei Schneider und Raue. Ich bin begeistert von den journalistischen Möglichkeiten des Internets. Aber ich würde nicht suggerieren wollen, dass sich hier „die Träume all jener erfüllen, die Leidenschaft für diesen Beruf empfinden“, dazu weiß ich von zu vielen Träumen, auch eigenen, die sich bislang nicht erfüllt haben.

Im Übrigen schreiben Schneider und Raue:

Wer klug ist, integriert die Kritik der Leser in seinen Online-Auftritt, antwortet ihnen, diskutiert mit ihnen. Er legt seine Quellen offen, es sei denn, sie sind vertraulich, und lässt Fragen zu (…).

Es ist bemerkenswert, wie manipulativ und sinnentstellend Jakubetz aus dem Buch zitiert, wenn er sich gleichzeitig darüber empört, dass das Buch nicht richtig zitiert. Schneider und Raue schreiben Thomas Knüwer folgende Worte zu:

„Online-Redakteure sind die dummen Textschrubber, die nichts können.“

In Wahrheit hatte Knüwer gesagt:

„Aber Onliner sind aus Sicht vieler Printkollegen nur die dummen Textschrubber, die nichts können.“

Das ist ein außerordentlich peinlicher Fehler. Aber im Gegensatz zu Jakubetz spricht nichts dafür, dass Schneider und Raue Knüwer absichtlich sinnentstellend zitieren. Jakubetz behauptet, Knüwer sei ihr „Kronzeuge“ dafür, dass im Internet nur Schrott stehe. Doch im Buch heißt es (wie auch Jakubetz schreibt):

„Online-Redakteure sind die dummen Textschrubber, die nichts können“, sagt Ex-Handelsblatt-Redakteur Thomas Knüwer. Mit solch einer Arroganz urteilen Zeitungsschreiber nicht selten,  doch die Klage hat einen wahren Kern.

Knüwers Zitat ist nicht Beleg für die Schlechtheit des Internets, sondern für die „Arroganz“ vieler Zeitungsschreiber. In diese Argumentation hätte Knüwers korrektes Zitat genauso gepasst. Es gab keinen Grund, ihn bewusst falsch zu zitieren, weshalb man vielleicht einfach davon ausgehen könnte, dass es sich um eine schlichte Panne handelte, und von der Palme herunterklettern, statt sich etwas von ihr herunterzuwedeln.

Den „wahren Kern“ der „Arroganz“ beschreiben Schneider und Raue übrigens so:

Onliner schreiben unermüdlich Texte um, die sie als Rohfassung vom Newsdesk bekommen; sie kürzen, bearbeiten PR-Texte, indem sie zumindest die Quelle angeben; sie füllen eben das Internet und nicht selten tun sie es ohne Sinn und Verstand.

Auch das findet Jakubetz wieder empörend, dabei lässt es sich tausendfach belegen. Das Problem ist nicht die Aussage, sondern ihr Absender. Von Ahnungslosen wie Wolf Schneider wollen wir uns nicht sagen lassen, wie traurig die journalistische Online-Realität ist.

Die Angriffe auf Schneider und Raue sind auch deswegen so wütend, weil die beiden als Stellvertreter für die ganze Gattung der Dinosaurier stehen. Deshalb wirkt es unfreiwillig komisch, wenn Ulrike Langer in ihrem Blog den beiden vorwirft, von einem „Krieg“ zu sprechen, der im Internet zwischen Journalisten und Bloggern herrsche — als würden die Reaktionen der Blogger das nicht bestätigen.

Dabei ist auch die Kriegs-Beschreibung im Buch recht ausgewogen. Das Kapitel, in dem sie steht, trägt den Titel: „Was Journalisten von Bloggern lernen können.“ Es referiert erst die wütendsten Angriffe aus der Presse auf Online-Amateure, spricht dann davon, dass durch die digitale Revolution ein „epochaler Machtwechsel“ stattgefunden habe, und wägt dann ab:

Dass [Journalisten] gleichzeitig die Schleusenwärter sind, Leute also, die entscheiden, was überhaupt zur Veröffentlichung durchgelassen werden soll — das hat einen Vorteil und einen Nachteil auch. Der Vorteil: Sie ließen und lassen das ganz und gar Gleichgültige und das offenbar Unsinnige und Erlogene nicht herein; sie wägen und prüfen, und sie haften für das, was sie passieren lassen und wie sie es tun. Der Nachteil: Dabei treffen sie natürlich auch Fehlentscheidungen — fahrlässig, verblendet oder korrumpiert. So oder so: Eine Minderheit entschied allein, was die Mehrheit wissen konnte. Überwiegend entschied sie kritisch und gescheit. Aber keineswegs immer.

Auch hier kann man wieder über die Gewichtung streiten. Aber die Kritiker reagieren, als hätten Schneider und Raue „Jehova“ gesagt.

Schneider und Raue äußern sich nicht übermäßig schmeichelhaft über Blogger. Aber sie tun das auch nicht über Journalisten. Sie schreiben etwa, unter den Journalisten gebe es eine „ziemlich kleine Minderheit von solchen, die sich redlich plagen, das Unwichtige auszusondern und das Verworrene zu erklären, wie sie es ihren Mitbürgern schuldig sind“.

Die Kritiker werfen dem Buch überkommenes Schwarz-Weiß-Denken vor, dabei haben sie sich selbst in einem viel größeren Maße auf ihrer Seite der Front in den Schützengraben eingebuddelt.

Die Ahnungslosigkeit der „Buch“-Autoren machen mehrere Kritiker auch daran fest, dass sie das Wort „Blog“ „grammatisch falsch“ verwenden. Gemeint sind im Buch häufig vorkommende Formulierungen wie:

Blog und Twitter haben aber ebenfalls ihre Unschuld längst verloren.

Das liest sich, ohne Frage, merkwürdig. Schneider und Raue benutzen das Wort „Blog“ als Singularetantum, als Einzahl, die für das Ganze steht. Sie formulieren „Blog und Twitter haben der Presse geholfen“, wie sie sagen könnten: „Fernsehen und Hörfunk haben der Presse geholfen“. Das ist unüblich und gewöhnungsbedürftig. Ist es schlimm? Anders gefragt: Wenn das Buch tatsächlich vor furchtbaren Dummheiten strotzen würde, wie etwa Ulrike Langer behauptet (ohne es gelesen zu haben), müsste man sich dann an solchen Nebensächlichkeiten abarbeiten?

Es gibt vieles, was an dem Buch und seinen Autoren auszusetzen ist. Schneiders Eitelkeit scheint inzwischen pathologische Ausmaße angenommen zu haben. Was ihn und Raue überhaupt qualifiziert, über Online-Journalismus zu schreiben, ist mir schleierhaft. Ein größeres Missverständnis in dem Buch scheint mir darin zu liegen, dass es behauptet, der einzelne Mensch könne sich nur dann gut im Internet informieren, wenn „Journalisten klassischen Stils den Mahlstrom der Blogs und tweets sichten und gewichten“. Dass es inzwischen ganz andere Instanzen gibt, die diese Sichtung und Gewichtung für den Einzelnen vornehmen, und dass der „Mahlstrom der Blogs und tweets“ gerade auch von klassisch-journalistischen Inhalten angetrieben wird, das scheint den Autoren fremd zu sein.

Dirk von Gehlen hat im selben Zusammenhang, aber mit umgekehrter Stoßrichtung einen wunderbaren Satz des Philosophen Hans-Georg Gadamer zitiert:

Ein Gespräch setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte.

Das ist, fürchte ich, das Hauptproblem der Reaktionen vieler Blogger auf Wolf Schneider und sein Buch und vieler „Shitstorms“ überhaupt: Sie diskutieren nicht, inwiefern der Andere möglicherweise unrecht hat, sondern sprechen ihm pauschal jede Ahnung ab.

Das geht im konkreten Fall gerne auf Kosten der eigenen Aufrichtigkeit. Das Buch sei „eine Warnung vor dem Internet“, schreibt Thomas Knüwer — unbelegt und unbelegbar. Und den Autoren unterstellt er, sie hofften:

„die Veränderung der Welt aufhalten zu können, indem sie schreiben, dass sie sich nicht verändere und wenn, dann zum üblen.“

Wenn die so wären wie er, würden sie lautstark eine Berichtigung verlangen. Denn Schneider und Raue zählen ein ganzes Kapitel lang auf, wie dramatisch das Internet die Welt verändert: „das Leben“, „den Alltag der Menschen“, „die Wahrheit“, „die Mächtigen“, „die Nutzung von Medien“, „die Märkte“, „die Verlage“, „die Redaktionen“. Sie beschreiben diese „Revolution“ aus einer skeptischen — meiner Meinung nach zu skeptischen — Perspektive. Aber sie schreiben in diesem Zusammenhang auch:

Als Zeitungen konkurrenzlos waren, konnten sie die Leser (…) auch mit langweiligen Texten, oberflächlichen Recherchen und unscharfen Bildern halten. Diese Verachtung des Publikums war immer schon verwerflich, aber lange folgenlos. Heute kann sie Zeitungen in den Ruin treiben.

Lustig. Wenn es nicht von Wolf Schneider wäre, könnte es von Thomas Knüwer sein.