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Das „Handelsblatt“ gegen ARD und ZDF: Wenn Ahnungslose Kampagnen machen

Dies ist das Niveau, auf dem die Kampagne des „Handelsblatts“ gegen ARD und ZDF angekommen ist:

Ein Dossier bläst auf zehn Seiten annähernd alles, was der Medienredakteur Hans-Peter Siebenhaar in den vergangenen Tagen und Jahren schon über ARD und ZDF ins „Handelsblatt“ sowie in sein Buch „Die Nimmersatten“ geschrieben hatte, noch einmal neu auf und schafft damit das Kunststück, selbst das Sommerprogramm des Hessischen Fernsehens an Wiederholungen zu übertreffen.

Es recycelt erneut eine angebliche „Studie“ für den Autovermieter Sixt, wonach die Gebühreneinnahmen von ARD und ZDF durch die neue Haushaltsabgabe um 1,6 Milliarden Euro jährlich steigen. Sixt hatte im Oktober 2010 ein zufällig vorbeikommendes Milchmädchen gebeten, das zu errechnen. Seitdem wird die Zahl vom „Handelsblatt“ und anderen Gegnern von ARD und ZDF benutzt, eine Gebetsmühle anzutreiben. Dass seriöse Schätzungen dieser Zahl widersprechen und nachvollziehbar erläutern, warum sie sich nicht so leicht errechnen lässt wie es Sixt behauptet, erwähnt das „Handelsblatt“ ebenso wenig wie die Tatsache, dass ARD und ZDF diese Einnahmen, wenn sie wider Erwarten tatsächlich realisiert würden, nicht behalten dürften.

Zur umfassenden Desinformation packt das „Handelsblatt“ die Zahl nun sogar in eine Statistik mit offiziell wirkender Quellenangabe:

Die Dossier-Artikel selbst prägt die inzwischen bekannte Denkverweigerung. Das „Handelsblatt“ wirft es ARD und ZDF ebenso vor, bloß auf die Quoten zu schauen, wie Programme zu machen, die keine großen Quoten haben. Wenn die Öffentlich-Rechtlichen den Privaten Sportrechte wegkaufen, hält das „Handelsblatt“ das für verwerflich; wenn sie im Kampf um teure Filmrechte den Privaten das Feld weitgehend überlassen, hält das „Handelsblatt“ das auch für verwerflich.

Immerhin ist mir nach dem Lesen dieser zehn Seiten klar geworden, warum das „Handelsblatt“ sich so ausdauernd an den Öffentlich-Rechtlichen und ihrer neuen Finanzierung abarbeitet: nicht nur aus ideologischen Gründen, wegen des Konkurrenzverhältnisses, aus Neid, Populismus oder weil es nichts kostet (vor allem keine Recherche). Offenkundig gehören die Leute, die im „Handelsblatt“ übers Fernsehen schreiben, zu denen, die nie Fernsehen schauen und jetzt trotzdem zahlen müssen. Anders lässt sich die Flut von sachlichen Fehlern kaum erklären:

Die ARD, die den Vorabend bis dahin [gemeint ist der Start der RTL-Soap „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“] mit biederen Familienserien bestritten hatte, zog nach: mit dem Liebes-und Intrigenstadel „Verbotene Liebe“ rund um das Schloss der Familie von Anstetten. (…) Bald legte die ARD „Marienhof“ und „Rote Rosen“ nach.

„Verbotene Liebe“ ging erst 1995 auf Sendung, „Marienhof“ schon 1992.

An den Erfolg von Casting Shows wie „Deutschland sucht den Superstar“ (RTL) oder „Popstars“ (Sat1), versuchte das ZDF mit dem Polit-Klamauk „Ich kann Kanzler“ oder dem „Musical Show Star“ anzuknüpfen.

„Popstars“ lief auf RTL 2 und ProSieben, aber nie auf Sat.1.

Die Wirklichkeit sieht dann so aus: Der Erfolgsregisseur Bora Dagetkan etwa hat für die ARD die Vorabendserie „Türkisch für Anfänger“ entworfen. Die sorgte zwar nicht für tolle Quoten, laut Kritikern aber für Überraschung, Esprit und Witz. Dinge, die bei
ARD und ZDF nicht gerade im Überfluss vorhanden sind. Eine Zukunft hatte die Serie dennoch nicht.

Der Mann heißt Bora Dağtekin, und „Türkisch für Anfänger“ brachte es, trotz durchwachsener Quoten, immerhin auf drei Staffeln mit insgesamt 52 Folgen.

Die US-Erfolgsserien „Mad Men“ und „West Wing“ wurden gleich in den Spartenkanal ZDF neo verbannt.

„West Wing“ läuft nicht auf ZDFneo.

Als sich die Diskussion über die Haushaltsabgabe immer stärker zuspitzte, entschloss sich das ZDF zu einem in der Sendergeschichte einmaligen Experiment. Die Anstalt machte sich erstmals selbst zum Thema.

Das ZDF hat eine lange Tradition, sich selbst im Programm zum Thema zu machen. Es tat das zum Beispiel in Sendungen wie „Gespräch mit dem Intendanten“ (1963-1976) und „Wir stellen uns“ (1984-1992). Übrigens hat auch die ARD schon den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und die Kritik daran in einer Talkshow am Hauptabend zum Thema gemacht: Im Januar 2006 diskutierten bei „Hart aber fair“ unter anderem Privatfernsehlobbyist Jürgen Doetz und Henryk M. Broder mit Senderverantwortlichen über Kommerzialisierung, Schleichwerbung, Volksmusikwahn.

Samstag, 20.15 Uhr, beste Sendezeit im deutschen Fernsehen. Die ARD zeigt „Das Winterfest der fliegenden Stars“. Am kommenden Samstag sieht es ähnlich aus: Die ARD zeigt, wieder am Samstag, 20.15 Uhr, die Sendung „Servus, Hansi Hinterseer“. Beim ZDF heißt es am16. Februar, natürlich auch ein Samstag, 20.15 Uhr: „Willkommen bei Carmen Nebel“. Drei Sendungen, ein Programm. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen zeigt zur Primetime am Wochenende Volksmusik.

„Willkommen bei Carmen Nebel“ ist keine Volksmusiksendung. In der letzten Sendung traten auf: Eros Ramazzotti, Il Divo, Rolando Villazón, Unheilig, Pur, Andreas Gabalier, Chris de Burgh, Patricia Kaas, Peter Cornelius, Nik P., Linda Hesse, Wolfgang Trepper, Leo Rojas, Sir Roger Moore.

In der Rangliste der beliebtesten Fernsehformate kommt Volkstümliches laut Allensbach mit elf Prozent erst auf Rang 18 — noch hinter Daily Soaps und Talentshows. Nur eins boomt in dem Genre: die TV-Präsenz am Samstagabend.

Die Zahl der volkstümlichen Sendungen am Samstagabend geht zurück.

Hin und wieder zeigen sich die Sender einsichtig. Der MDR etwa hat kürzlich den Wernesgrüner Musikantenstadl eingestellt.

Die Sendung hieß „Wernesgrüner Musikantenschenke„. Ihre Einstellung hat übrigens zu zahlreichen Protesten von Politikern, Musikern und Zuschauern geführt.

Als das ZDF vor einiger Zeit moderner werden wollte, kündigte Programmdirektor Thomas Bellut an, weniger Volksmusik und stattdessen mehr Schlager zeigen zu wollen. Verbessert hat das die Lage nur unwesentlich.

Das ZDF hat in den vergangenen zehn Jahren „Weihnachten mit Marianne & Michael“ abgesetzt, „Liebesgrüße mit Marianne & Michael“, den „Grand-Prix der Volksmusik“, „Lustige Musikanten on Tour“ und „Das ZDF-Wunschkonzert der Volksmusik“. Es würde mich überraschen, wenn das „Handelsblatt“ auch nur eine Volksmusik-Sendung im ZDF benennen könnte.

Der Kabarettist Volker Pispers wagte, im öffentlich-rechtlichen WDR auszusprechen, was viele denken: „Von meinen GEZ-Gebühren dürfen keine Volksmusik-Sendungen finanziert werden.“

Ja, das wagte er. Aber vielleicht hätte die Berufsbezeichnung „Kabarettist“ den eifrigen Strohhalmklammerern des „Handelsblattes“ eine Warnung sein sollen. Der Kontext des Satzes von Pispers lautet nämlich so:

Was die unsachgemäße Verwendung Ihrer Gebühren angeht, möchte ich Sie an dieser Stelle einmal beruhigen. Ich selber lege großen Wert darauf, dass meine Honorare ausschließlich aus den Gebühren derjenigen Hörerinnen und Hörer bezahlt werden, die meine Beiträge mögen. Schließlich bin ich selber Gebührenzahler und fände es unerträglich, wenn von meinen Gebühren Sendungen oder Moderatoren bezahlt würden, die ich über Gebühr schrecklich finde. So habe ich zum Beispiel verfügt, dass von meinen GEZ-Gebühren keine Volksmusiksendungen finanziert werden dürfen. Auch die Honorare der Herren Reinhold Beckmann, Wolf-Dieter Poschmann und Peter Hahne dürfen unter gar keinen Umständen aus Geldern bestritten werden, die ich zwangsweise überwiesen habe.

Das habe ich der GEZ unmissverständlich klar gemacht. Natürlich kann die GEZ Ihre kostbaren Gebühren, liebe Hörerinnen und Hörer, nur dann korrekt verwenden, wenn in der dortigen Gebührenverteilungsstelle ihre persönlichen Vorlieben bzw. Abneigungen auch bekannt sind. Da reicht übrigens ein formloses Schreiben. Es ist zwar für die GEZ ein Riesenaufwand, die eingehenden Gebühren auf die verschiedenen Töpfe, aus denen bestimmte Sendungen nicht finanziert werden dürfen, zu verteilen. Aber das machen die da gerne. Genauso wie mein Finanzamt ohne mit der Wimper zu zucken zur Kenntnis genommen hat, dass ich nicht möchte, dass von meinen Steuergeldern die Diäten von Abgeordneten der FDP bzw. Polizeieinsätze bei Castor-Transporten oder Fußballspielen des FC Bayern München bezahlt werden.

Es immer schwierig mit der Ironie. Aber kann man wirklich so dumm sein, diese Sätze als Forderung zu verstehen, keine Volksmusik mehr mit den Rundfunkgebühren zu finanzieren, und nicht als Kritik an genau der Art von Ignoranz, wie sie das „Handelsblatt“ demonstriert?

Aber ja. Man muss nur dumm genug sein wollen.

Rundfunkbeitrag bald fast so schlimm wie Hitler

Es gibt allem Anschein nach nichts, was dem „Handelsblatt“ zu falsch oder zu dumm ist, um es im Kampf gegen ARD und ZDF zu verwenden. Den vorläufigen (und schwer zu untertreffenden) Tiefpunkt markiert ein Gastbeitrag der früheren CDU-Bundestagsabgeordneten Vera Lengsfeld, den die Zeitung gestern auf ihrer Internetseite veröffentlichte.

Ich fürchte, man muss das lesen, um eine Ahnung davon zu haben, auf welchem Niveau inzwischen die — an sich nicht nur legitime, sondern auch notwendige — Debatte über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk geführt wird. (mehr …)

Die Nimmerklugen: Die „Handelsblatt“-Propaganda gegen ARD und ZDF

Es ist unmöglich, auch nur im Ansatz all die Desinformationen zu dokumentieren oder gar zu berichtigen, die die deutsche Presse in diesen Tagen über die neue Haushaltsabgabe für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk verbreitet. Ich habe das gestern im BILDblog wenigstens mit einigen Details aus der „Bild“-Kampagne versucht, aber es kommen jeden Tag neue Unwahrheiten nach.

Heute liefert der Medienredakteur und Widerstandskämpfer Hans-Peter Siebenhaar im „Handelsblatt“ ein besonders krasses Beispiel dafür, wie umfassend man die Leser (und natürlich andere vermeintliche Fachjournalisten) in die Irre führen kann, wenn man altbekannte Tatsachen als neu präsentiert und falsch interpretiert.

Sein Artikel beginnt so:

Die öffentlich-rechtlichen Anstalten dürfen die erwarteten Mehreinnahmen durch die neue Rundfunkgebühr in Höhe von 304 Millionen Euro behalten. Davon entfallen auf die ARD 197,3 Millionen Euro, auf das ZDF 60,1Millionen und auf das Deutschlandradio 46,7 Millionen Euro im Zeitraum 2013 bis 2016. Das teilte gestern die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten (KEF) in Mainz auf Anfrage des Handelsblatts mit.

Das ist fast schon preisverdächtig irreführend.

Verständnisfrage: Werden Mehreinnahmen in Höhe von 304 Millionen Euro erwartet? Oder dürfen die öffentlich-rechtlichen Anstalten von möglichen Mehreinnahmen in unbestimmter Höhe 304 Millionen Euro behalten?

Richtig wäre die zweite Interpretation, aber durch den bestimmten Artikel („die erwarteten Mehreinnahmen in Höhe von“) lenkt Siebenhaar die Leser in die andere, die falsche Richtung.

All die Zahlen, die Siebenhaar da nennt und die die KEF angeblich gestern seiner Zeitung mitteilte, stehen im 18. Bericht, den diese Kommission im Dezember 2011 vorgelegt hat. Sie stehen dort gleich auf der ersten Text-Seite. Sie geben die Finanzierungslücke an, die nach den Schätzungen der KEF bei ARD, ZDF und Deutschlandradio in den nächsten vier Jahren entsteht.

Normalerweise hätte die Rundfunkgebühr um 18, 35 Cent erhöht werden müssen, um diese Lücke zu schließen. Weil aber außer Burkhardt Müller-Sönksen und der „Bild“-Zeitung niemand weiß, wieviel Geld durch das neue Verfahren wirklich eingenommen wird (und weil es politisch so gewollt war), wurde die Höhe des Beitrages nicht angehoben.

Es sollte erst abgewartet werden, wie sich die Einnahmen tatsächlich entwickeln. Liegen sie über den Schätzungen, würde daraus der Finanzbedarf gedeckt. Kommt noch mehr Geld zusammen, als den öffentlich-rechtlichen zusteht, würde das bei der zukünftigen Festsetzung der Gebühren berücksichtigt: Sie würden weniger stark steigen oder sogar sinken. Kommt weniger zusammen, müssten sie entsprechend stärker steigen.

Das ist alles seit Jahren bekannt. Das ist das Wesen des ganzen Systems. Das Geld, das ARD und ZDF bekommen, richtet sich nicht danach, was eingenommen wird, sondern danach, was ihnen aufgrund ihrer Kosten zugestanden wird. Die seit Tagen anhaltende mediale Fixierung auf die mögliche Höhe der Einnahmen durch das neue System funktioniert als Skandalisierung nur, weil sie diesen Grundsatz ignoriert.

Deshalb kann Siebenhaar falsche und längst bekannte Tatsachen zu einer vermeintlichen Nachricht zusammenrühren. Er schreibt weiter:

Mittlerweile ist auch eine Reduzierung der monatlichen Rundfunkgebühr, früher als GEZ-Gebühr bekannt, kein Tabuthema mehr. „Wenn es zu deutlichen Mehreinnahmen kommt, ist auch eine Senkung der Rundfunkgebühren denkbar“, sagte KEF-Geschäftsführer Horst Wegner dem Handelsblatt. „Eine Gebührensenkung ist frühestens zum 1. Januar 2015 denkbar.“ Wenn eine Milliarde Euro mehr reinkommt, müssten diese Mehreinnahmen an die Gebührenzahler durch eine Gebührensenkung weitergegeben werden, sagte gestern ein KEF-Experte, der ungenannt bleiben will.

Schön dass der ungenannte KEF-Experte einfach noch einmal dasselbe sagt wie der genannte KEF-Experte. Aber da auch der genannte KEF-Experte nur sagt, was immer schon feststand (und keineswegs ein „Tabuthema“ war, wie Siebenhaar fantasiert), ist es eh wurscht. Redundanz wird erst in der Wiederholung richtig schön.

Apropos. Siebenhaar schreibt heute:

Für Unternehmen können die neuen Beiträge nach Berechnungen des Handelsblatts und von Wirtschaftsverbänden um den Faktor 17 höher ausfallen als die alten Gebühren. Die Deutsche-Bahn-Tochter DB Netz etwa zahlte bislang 26.000 Euro Rundfunkgebühren im Jahr, künftig werden es 472.000 Euro sein. Den Drogeriemarkt-Filialisten DM kosteten ARD und ZDF bislang 94.000 Euro, mit dem Jahreswechsel werden daraus 266.000 Euro. Deutschlands Lebensmittelhändler Rewe erwartet eine Kostensteigerung um 500 Prozent.

Nach früheren Berechnungen des Autovermieters Sixt drohen Bürgern pro Jahr Zusatzkosten von 600 Millionen Euro und Firmen von 950 Millionen Euro.

Gestern hatte Siebenhaar zusammen mit „Handelsblatt“-Kollegen geschrieben:

Für Unternehmen können die neuen Beiträge nach Berechnungen des Handelsblatts und von Wirtschaftsverbänden um den Faktor 17 höher ausfallen als die alten Gebühren. Die Deutsche-Bahn-Tochter DB Netz etwa zahlte bislang 26.000 Euro Rundfunkgebühren im Jahr, künftig werden es 472.000 Euro sein. Den Drogeriemarkt-Filialisten dm kosteten ARD und ZDF bislang 94.000 Euro, mit dem Jahreswechsel werden daraus 266.000 Euro. (…) Deutschlands Lebensmittelhändler Rewe erwartet eine Kostensteigerung um 500 Prozent. Nach früheren Berechnungen des Autovermieters Sixt drohen Bürgern pro Jahr Zusatzkosten von 600 Millionen Euro und Firmen von 950 Millionen Euro.

Neinnein, das ist nicht derselbe Text. Gestern war „DM“ klein geschrieben.

Vielleicht veröffentlicht das „Handelsblatt“ jetzt aus Protest gegen die Finanzierung von ARD und ZDF diese Absätze einfach täglich neu, angereichert mit Informationen, die man sich ein bis vier Jahre nach ihrer Veröffentlichung nochmal von den jeweiligen Behörden bestätigen lässt und dann falsch interpretiert.

Wenn Leser dafür tatsächlich Geld ausgeben, hätte das „Handelsblatt“ ein Finanzierungssystem für seine Propagandamaschine erfunden, das fast so zukunftssicher ist wie das öffentlich-rechtliche Fernsehen.

„Es ist manchmal so schlicht, wie man’s unterstellt“

Ich habe jetzt herausgefunden, warum ich schlecht über Markus Lanz schreibe: Weil er vor fünf Jahren die Anfrage, einen Gastbeitrag für BILDblog zu schreiben, abgelehnt hat.

Ich hatte das längst vergessen. Lanz nicht. Und so kam es, als er kurz vor seiner ersten „Wetten, dass“-Sendung beim österreichischen Radiosender Ö3 zu Gast war, zu folgendem Dialog:

[audio:http://www.stefan-niggemeier.de/blog/wp-content/lanz3.mp3]

Claudia Stöckl: Jetzt hast du auch schon in einem „Focus“-Interview gesagt: Eigentlich spürst du schon lange, seit du in der Fernsehbranche bist, man bekommt Dresche. Die Kritik ist hart. Das merkst du jetzt, glaub ich, besonders. Es gibt Leute, die sagen, sie trauen dir das nicht zu. Und da gibt es ja diesen „Spiegel“-Redakteur, den Stefan Niggemeier, der einen ganz bösen Blog über dich geschrieben hat. Zum Beispiel hat er geschrieben: „Es sind ja nicht nur diese Posen, das Finger-an-den-Mund-legen, der Dackelblick, dieses sich Spreizen, die Witzelsucht, die konsequente Unterforderung des Zuschauers, die persönlichen Zudringlichkeiten, die Phrasen, die Wichtigtuerei, das ganze streberhafte Gehabe.“ Ja, also, er hat’s ganz böse über dich geurteilt.

Lanz: Das war ein Pamphlet!

Stöckl: Kann man dich vergiften so? Im Sinne: Trifft dich dieses Gift?

Lanz: Ich beschäftige mich, ehrlich gesagt, nicht damit, aber speziell in seinem Fall habe ich eine Vermutung, diesem Menschen mal wirklich auch das Gewicht zu geben, das er eigentlich in meinem Leben nicht hat. Der hat vor vielen Jahren mich mal angefragt, ob ich an seinem Anti-„Bild“-Zeitungs-Blog mitwirken möchte. Ich hab damals zu ihm gesagt, ich mache das nicht. Ich habe kein Interesse daran, in irgendeiner Form gegen die „Bild“-Zeitung zu hetzen, genauso wenig wie ich ein Interesse daran habe, mich mit der „Bild“-Zeitung gemein zu machen. Ich hab mein journalistisches Handwerk gelernt und versuche immer, so ne gewisse Distanz zu wahren. Und als ich das so gelesen hab, hatte ich schon das Gefühl: Da sind noch ein paar alte Rechnungen offen. Es ist manchmal so schlicht, wie man’s unterstellt.

Ich habe, als ein Kommentator mir diese Stelle vorhielt, natürlich erst alles abgestritten: Lanz, am BILDblog mitwirken, wie lächerlich ist das denn?

Dann fiel mir ein, worauf er sich beziehen könnte. Ende 2007 haben wir viele bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten gefragt, ob sie für uns einen Gastbeitrag schreiben, als „BILDblogger für einen Tag“ für unsere damalige Adventsaktion. Darunter war auch Markus Lanz (oder „Mario Lanz“, wie es auf einer Liste mit über 50 Namen von Wunsch-Teilnehmern steht), damals noch Moderator des RTL-Sprengstoffmagazins „Explosiv“.

Ich habe sogar die Mail wiedergefunden, die ich damals an den RTL-Pressesprecher geschickt hatte:

Von: Stefan Niggemeier [mailto:stefan.niggemeier@bildblog.de]
Gesendet: Donnerstag, 29. November 2007 16:02
An: Körner, Christian [RTL Television]
Betreff: Anfrage für Markus Lanz / BILDblogger für einen Tag

Lieber Herr Körner,

darf ich Sie mal als Boten missbrauchen? Könnten Sie für mich die folgende Anfrage an Markus Lanz weiterleiten? Das wäre supernett!

Vielen Dank,
schöne Grüße
Stefan Niggemeier

Lieber Herr Lanz,

wir brauchen Sie. Für unsere große, natürlich 24-teilige Adventsaktion „BILDblogger für einen Tag“.

Unser Weihnachtswunsch ist es, im Advent jeden Tag einen anderen Gastautor zu präsentieren, der uns einen BILDblog-Eintrag schenkt. Der aufschreibt, was ihm an der „Bild“-Zeitung aufgefallen ist: die kleinen Merkwürdigkeiten oder das große Schlimme. Das können Fehler oder journalistische Entgleisungen des jeweiligen Tages sein, aber auch grundsätzliche Ärgernisse oder Gedanken zur „Bild“-Zeitung, was Sie immer schon mal bloggen wollten — am liebsten natürlich mit Bezug zur aktuellen „Bild“-Ausgabe. Gerne im BILDblog-Stil, gerne aber auch ganz anders: in der Form und Länge, die Sie sich wünschen.

Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie dabei wären. Können Sie sich das grundsätzlich vorstellen? Wenn Ja: Sagen Sie uns schnell Bescheid, damit wir gemeinsam nach einem passenden Termin suchen können. Und wenn Sie noch zögern, sagen Sie uns, was Sie zweifeln lässt — wir überreden Sie gern (mit guten Argumenten natürlich und mit Details über das Wie, Mit Wem und Warum).

Eine Antwort von Lanz habe ich nicht gefunden, und ich kann mich nicht erinnern, ob Lanz oder der RTL-Pressesprecher telefonisch abgesagt haben. Fest steht nur: Markus Lanz war damals nicht dabei, beim „Hetzen“ gegen die „Bild“-Zeitung.

Und deshalb schreibe ich heute schlecht über Markus Lanz. Woran soll es auch sonst liegen? An seinen Moderationen?

Manchmal ist es so schlicht, wie man’s unterstellt.

Wie die „Wirtschaftswoche“ ARD und ZDF erledigt

Er ist ein großer Hit: Der Online-Artikel, in dem die „Wirtschaftswoche“ die Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und der GEZ fordert. Auf den Seiten von Gebührengegnern wird er gefeiert. Laut „Wiwo“ war er einer der am häufigsten abgerufenen Artikel auf der Seite im Oktober.

Zwischendurch war er allerdings eine Weile verschwunden. Und als er wieder da war, war er nicht mehr, wie er war. Auf Nachfrage hieß es, er sei „zum Ergänzen“ offline genommen worden; „Kleinigkeiten“ seien geändert worden.

Nach weiterem Drängen, das Hin und Her zu erklären, veröffentlichte „WiWo“-Online-Chefredakteurin Franziska Bluhm einen Eintrag im Redaktionsblog der „WiWo“. „Der Text enthielt missverständliche Formulierungen und einen kleinen Fehler“, schrieb sie. Die Offline-Phase habe man dazu genutzt, „die Argumente des Kommentars noch klarer zu formulieren. Wir haben sie dabei nicht abgeschwächt, sondern eher noch zugespitzt. Dafür haben den Text teilweise inhaltlich gestrafft.“

In Wahrheit hat die „WiWo“ mehrere gravierende Fehler berichtigt, ganze Absätze gestrichen oder umformuliert. Das ist prinzipiell zu begrüßen, denn den ursprünglichen Text hat jemand ohne Sachkenntnis und mit bestürzenden Artikulationsschwierigkeiten geschrieben. Bloß hat die umfassende Überarbeitung daran nicht so viel geändert.

Es lohnt sich, die „Kleinigkeiten“ anzusehen, die die „Wiwo“ geändert hat, und über den Text zu staunen, den das Blatt nun für vorzeigbar hält.

Alte Fassung Neue Fassung
Wen betrifft die neue Rundfunkgebühr?

Sie wird für jeden Haushalt und Betrieb fällig. Es soll auch nicht mehr wie bislang Befreiungen für Hartz-IV-Empfänger von der Beitragspflicht geben. Sie bekämen aber entsprechend mehr Geld vom Staat. Ausnahmen sind nur wegen „ersichtlicher Empfangsunfähigkeit“ oder langer Abwesenheit vorgesehen.

Wen betrifft die neue Rundfunkgebühr?

Sie wird zunächst für jeden Haushalt und Betrieb fällig. Hartz-IV-Empfänger können einen Antrag auf Befreiung stellen. Menschen mit Behinderungen werden mit einem reduzierten Beitrag eingestuft.

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Medienlexikon: Sissifizierung

Der Spiegel

Sissifizierung, Quotenoptimierung von Dokumentationen durch Hofberichterstattung und flächendeckenden Streichereinsatz.

Es gehört zu den vornehmsten Aufgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, über Menschen zu berichten, deren Leiden allzu oft vergessen wird. Menschen wie Georg Friedrich Prinz von Preußen. Ein junger Mann, der tapfer sein Schicksal trägt, Ururenkel von Kaiser Wilhelm II. zu sein.

Seine Kindheit endete „jäh“: Mit „gerade mal 18“ Jahren wurde er Chef des Hauses Preußen. „Auf seinen jungen Schultern lasten jetzt Jahrhunderte wechselvoller Geschichte. Und zum ersten Mal in seinem Leben muss er ohne den Rat des Großvaters zurechtkommen.“ Dramatisch, mit Anteilnahme und Bewunderung, schildert das ZDF am kommenden Dienstag um 20.15 Uhr, wie Georg Friedrich das Leben als Adeliger in Deutschland meistert. Lässt ihn erzählen, dass man als „Prinz von Preußen“ nicht einfach zu spät kommen kann, weil es sonst heißt, er nehme sich was heraus. Zeigt, wie er den tollsten Edelstein für Millionen Euro versteigern muss. Staunt, wie „bescheiden“ der Herr Prinz sich gibt: „Für ihn ist der Titel nur ein Name“, sagt der Sprecher. Fürs ZDF nicht?

Georgs Frau Sophie, geborene Prinzessin von Isenburg, schildert, wie „bodenständig“ ihre Kindheit im Schloss Birstein war, mit bloß zwei Damen, die kochten, wuschen und putzten. Eigentlich hätte sie ganz privat heiraten wollen. Aber „schließlich gibt das Paar dem öffentlichen Drängen doch noch nach“ — und schenkte der Welt Aufnahmen von adeligen Herrschaften in Potsdam, die sich nun vom ZDF mit Geigen unterlegen und als Dokumentation verkaufen lassen.

Es ist eh ein einziges musikalisches Gejuchze und Trompeten. Der zweiteilige Film läuft in der Reihe „ZDFzeit“, die der Chefredakteur Peter Frey zum Start als „filmisch opulent, intensiv, kritisch und analytisch“ angekündigt hat. Hier solle es „um die großen Fragen unserer Zeit gehen: Wie leben wir? Was verändert unsere Gesellschaft? Was ist uns wirklich wichtig?“

Was dem ZDF also wirklich wichtig ist in diesen Wochen: das Schicksal von Charlène und Kate, die Queen, die Höhen und Tiefen des schwedischen Königshauses. Und weil es so viel hofberichtzuerstatten gibt, räumte der Sender auch Samstage dafür frei. Unter dem Namen „ZDF Royal“ wurde dort nun ebenfalls gejuchzt und trompetet: „Blaues Blut und schwarze Schafe“, „Doppelglück in Dänemark“, „Die kleinen Königinnen kommen“.

Plötzlich erscheinen die lustigen Abenteuer des Schimpansen Charly, der sonst diesen Sendeplatz regierte, im Vergleich wie brisante zeitgeschichtliche Sozialdramen.

Sinn- und Besinnungslosigkeit

Erinnern Sie sich an Christian Wulff? Warum musste der eigentlich nochmal zurücktreten? Ach ja, richtig:

Sein voreiliges Postulat: „Der Islam gehört zu Deutschland“ wurde ihm zum Verhängnis.

Man kann eine Einladung zu einer Diskussionveranstaltung über kritischen Journalismus, die das behauptet, natürlich einfach wegwerfen. Wenn diese Veranstaltung aber von der Staatskanzlei Rheinland Pfalz, der rheinland-pfälzischen Landesmedienanstalt und der Friedrich-Ebert-Stiftung veranstaltet wird und als „Medienpartner“ das ZDF und den SWR hat, kann man sich vorher vielleicht noch einen Moment lang darüber empören.

Es geht um den „MainzerMedienDisput“ (sic), der im Oktober zum 17. Mal stattfindet und von einer unabhängigen Projektgruppe vorbereitet wird. Ihr gehört unter anderem Thomas Leif an, der Chefreporter des SWR, der im vergangenen Jahr als Vorsitzender des Netzwerkes Recherche geschasst wurde.

Die Einladung ist in seinem typischen apokalyptischen Adjektiv- und Wortspielrausch verfasst und könnte in kleinen Dosen vermutlich auch als Mittel gegen niedrigen Blutdruck verschrieben werden. Sie beginnt mit dem stimmungsvollen Satz:

Auf dem 17. MainzerMedienDisput wird darüber gestritten, ob sich die Meinungsmacher im Schatten besinnungsloser Shitstorms und perfider Sozialpornos dem Sog der Unterhaltung in allen Spielarten und Mischformen überhaupt noch entziehen können.

Vermutlich würden die Autoren selbst das Wort „Holocaust“ nicht benutzen, ohne ihm sicherheitshalber noch ein negatives Adjektiv beizustellen. (mehr …)

Kein schöner Lanz

„Der isst, wie er Ski fährt, wie er spricht, wie er moderiert, wie er ist — elegant und lustvoll. Und konzentriert. (…) Er ist als Mensch ein Naturtalent.“

Der „Stern“ über Markus Lanz

Ich habe im „Spiegel“ dieser Woche versucht zu erklären, was Markus Lanz für mich so unausstehlich macht.

Es sind ja nicht nur diese Posen, das Finger-an-den-Mund-legen, der Dackelblick, dieses sich Spreizen, die Witzelsucht, die konsequente Unterforderung des Zuschauers, die persönlichen Zudringlichkeiten, das Desinteresse an Inhalten, die Fragetechnik, die von Johannes B. Kerner gelernte Kunst, sich von sich selbst zu distanzieren, die Phrasen, die angestrengte und anstrengende Vortäuschung des kritischen Nachfragens, das Aufondulieren der Sprache, die Wichtigtuerei, das ganze streberhafte Gehabe.

Es ist auch das Ausmaß, in dem er aus seiner Talkshow eine Art Betriebsausflug gemacht hat, mit diesem unbedingten Willen zur kontrollierten Ausgelassenheit und dieser gezwungen Kumpelhaftigkeit. Hinter einer Fassade moderner Munterkeit tun sich Abgründe spießiger Bräsigkeit auf.

Man kann sich das schlecht vorstellen, wenn man es nicht gesehen hat, und weil ich mir ohnehin viele Stunden „Markus Lanz“ ansehen musste, habe ich als Begleitmaterial zu meinem „Spiegel“-Artikel ein Worst-Of aus den Sendungen zusammengestellt. (Ich rede mir ein, dass die Stunden, die das gedauert hat, nicht nur dem Erkenntnisgewinn dienen, sondern auch einen therapeutischen Effekt für mich hatten.)

Aus dem kurzen Video, das ich mir ursprünglich vorgestellt hatte, ist dann allerdings eine über 20 Minuten lange Collage geworden:

Wer sich davor fürchtet, kann sich allerdings auch das folgende Kondensat auf Quickie-Länge (150 Sekunden) ansehen:

Das Schlimmste an alldem ist die Ahnung, dass Lanz alles richtig macht. Dass das vom ZDF genau so gewollt ist. Dass der Sender sich vorstellt, dass seine Zuschauer so unterhalten werden wollen: so routiniert, so manieriert, mit dieser Mischung aus Wichtigtuerei und Besinnungslosigkeit — Anarchie für Leute, die es anarchisch finden, den Käse im Kühlschrank mal ins Gemüsefach zu legen.

Es ist leicht, sich vorzustellen, wie Lanz diese Art der Unterhaltung vom Herbst an nicht mehr nur am Dienstag, Mittwoch, Donnerstag herstellt, sondern auch am Samstagabend in einer Sendung namens „Wetten dass“. Man muss sich nur ein Sofa anstelle der Sessel denken und Robbie Williams oder Angelina Jolie zusätzlich darauf.

Nachtrag, 5. August: Inzwischen kann man den „Spiegel“-Artikel auch kostenlos lesen.

Deutschland ringt um Fassung

Ich würde die Frage „Sind eigentlich alle verrückt geworden?“ während Fußball-Welt- und Europa-Meisterschaften ohnehin pauschal mit „Ja“ beantworten. Aber der Wahn, der in diesen Tagen ARD und ZDF erfasst hat, ist ganz besonders besorgniserregend.

Es ist eine Sache, wenn die „Bild“-Zeitung innerhalb nicht einmal einer Woche aufgrund eines einzigen verlorenen Spiels aus einer Truppe, die sie gerade noch als unschlagbar bezeichnet hat, eine Ansammlung von Volldeppen macht. Ich nehme an, dass das nicht nur mit der üblichen Schamlosigkeit, Skrupellosigkeit und Schizophrenie zu tun hat, die die Leute auszeichnet, die dort arbeiten. Ich schätze, es ist auch Ausdruck eines Selbsthasses, der durch die nicht mehr auflösbare Vieldeutigkeit des Begriffes „wir“ dramatisch verschärft wird. Wenn „Bild“ in diesen Zeiten „wir“ schreibt, kann das „Bild“, „die Deutschen“ oder „die deutsche Nationalmannschaft“ meinen.

Aus der Sicht der „Bild“-Leute bedeutet das: Wenn wir uns attestiert haben, dass wir unschlagbar sind, und wir dann doch geschlagen werden, bedeutet das für uns eine doppelte Niederlage, die wir uns ganz besonders übel nehmen.

Die „Bild“-Leute müssten sich verfluchen für den eigenen Rausch, für die grotesk übertriebenen Erwartungen und hysterischen Lobeshymnen. Stattdessen verfluchen sie die Mannschaft, weil sie nicht in der Lage war, diesen Übertreibungen gerecht zu werden. Plötzlich sind die Schuld, dass wir verloren haben — und „Bild“ rechnet mit ihnen ab.

Das ist so widerlich wie erwartbar, aber das ist „Bild“.

Arnd Zeigler schreibt in einem lesenswerten Offenen Brief:

Es ist wirklich interessant zu beobachten, dass es für ein Abschneiden wie diesmal bei der BILD (und überraschenderweise auch bei vielen Fußball-Konsumenten) gar keine Kategorie mehr gibt. Es gibt nur „Europameister“ oder „Vollversager“.

Das aber ist leider kein exklusives „Bild“-Phänomen. Das war in der Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender nicht anders.

Das Erste zeigte gestern am Ende seiner Berichterstattung von der Leichtathletik-EM einen Beitrag von Bernd Schmelzer, der aus der Niederlage im Halbfinale eine nationale Katastrophe beinahe apokalyptischen Ausmaßes machte. Offenbar zu betroffen, um Verben benutzen zu können, sprach er aus dem Off zu Bildern von der abreisenden Mannschaft:

Nichts wie weg. Weg aus Warschau. Abhaken diese EM. Dieses Halbfinale. Die Personaldiskussionen. Die goldene Generation. Ein Trauma. Den Tiefpunkt. Auch wenn’s schwerfällt.

Alles aus, vorbei. Wieder gegen Italien. Es ist wie ein Fluch.

Zu Aufnahmen von enttäuschten Fans rang Schmelzer um Fassung, fand sie nicht und sagte also:

Deutschland ringt um Fassung.

Und gleich danach noch einmal:

Ein ganzes Land ist fassungslos. Hunderttausende auf den Fanmeilen — wie in Schockstarre.

Katerstimmung von Nord bis Süd.

Absturz statt Höhenflug.

Das ZDF hatte schon tagsüber von seinem „ZDF-Fußballstrand“ auf Usedom berichtet. Dort hatte sich endgültig die Hölle aufgetan, die Metaphernhölle, und so formulierte ein öffentlich-rechtlicher Fußballstrandreporter:

Auch am ZDF-Fußballstrand in Heringsdorf mussten 1000 deutsche Fans ihren Traum vom EM-Titel begraben. (…) Wie ein zäher Küstennebel legte sich der Italienfluch über den ZDF-Fußbsallstrand. Die Stimmung der Fans so weit unten wie die Ostsee tief ist. (…) Nun fällt die Party ins Wasser. Hier am ZDF-Fußballstrand tragen die Fans Trauer.

Ich schätze, sie haben in der Nachrichtenredaktion des ZDF länger überlegt, ob sie „heute“ oder das „heute journal“ angesichts der dramatischen Ereignisse nicht direkt vom ZDF-Fußballstrand auf Usedom senden sollten. Und da dort bekanntlich Europa entsteht, wäre das ZDF vor den 1000 leeren Liegestühlen auch am perfekten Ort gewesen, um hautnah über die dramatischen Beschlüsse in Brüssel und die wichtigen europapolitischen Abstimmungen im Bundestag berichten zu können.

Am Ende nahm das ZDF dann aber doch nur ein „ZDF-Spezial“ gleich nach der Hauptausgabe der „heute“-Sendung zusätzlich ins Programm. (Nein, nicht zu den Euro-Beschlüssen. Zum Ausscheiden der deutschen Mannschaft im Halbfinale bei der Europameisterschaft.)

Das ZDF zeigt den Mannschaftsbus, wie er vor dem Hotel abfährt. Das Flugzeug, in dem die Mannschaft nach Deutschland fliegt. Die Autos, mit denen die Spieler in Frankfurt wegfahren.

Oliver, sagt Katrin Müller-Hohenstein dann, während man hinter ihr den geschichtsträchtigen Sand sehen kann, unter dem nun die Hoffnungen von 1000 deutschen Fans verbuddelt sein müssen. „Oliver“, sagt sie also, „wir müssen darüber reden, was gestern abend passiert ist.“ Es scheint also immerhin keine freie Entscheidung des Senders gewesen zu sein, dieses „ZDF-Spezial“ ins Programm zu nehmen, in dem Oliver Kahn insgesamt fast vier Minuten irgendetwas sagt, sondern eine Notwendigkeit, eine nationale Pflicht.

Zentraler Beitrag der Sendung ist ein Film von Boris Büchler über „eine unvollendete Generation 2006 bis 2012“, der mit folgenden Worten beginnt:

Für den Mann, den sie Jogi nennen, ist die EM Geschichte. Endstation Warschau. Die Stunde Null der vielzitierten goldenen Generation, der anscheinend die Siegermentalität bei großen Spielen, bei Turnieren fehlt. 2012 sollte für das Gesamtwerk des Bundestrainers ein entscheidendes werden. Doch Löw und seine Auserwählten bleiben die Unvollendeten.

Auch für den Mann, den sie Boris Büchler nennen, ist die EM Geschichte. Man muss diesen Film gesehen haben, um eine Ahnung davon zu bekommen, dass sich die Sportberichterstattung im ZDF weiter vom Journalismus entfernt hat, als selbst der Veranstaltungsort „Fußballstrand“ erahnen lässt. Er hat einen Nachruf gedreht, die Szenen sind mit dramatischer Musik unterlegt. Sein Stück hat nichts Dokumentarisches mehr, fast jede Szene ist verfremdet, durch Zeitlupe, durch Unschärfe, durch Überblendungen, durch Instagram-ähnliche Effekte. Alles ist historisiert: Schlieren und Schleier wie bei alten Schwarzweißfilmen liegen über den Aufnahmen, Markierungen und Symbole wie aus Spielfilmen, Flecken wie aus Homevideos mit der Super-8-Kamera.

Um den Eindruck einer Trauerfeier zu verstärken, sind die Ränder der Bilder abgedunkelt — ein Effekt, den RTL konsequent bei Sendungen wie dem „Supertalent“ benutzt, um künstlich Dramatik zu schaffen. Die gleiche Absicht, die gleiche Wirkung, hat er auch hier. Das ZDF zeigt in seiner Sondersendung nach den Nachrichten nicht, wie es war, sondern wie es sich angefühlt hat. Es ist eine konsequente Fiktionalisierung des Geschehens:


 
„Wir brauchen diese deutschen Tugenden, die uns immer groß gemacht haben“, sagt Oliver Kahn hinterher noch. „Darüber sollten wir uns mal zen-tra-le Gedanken machen.“ Damit endet das „ZDF-Spezial“ zum Ausscheiden der deutschen Mannschaft bei der Fußball-EM 2012.

Unterdessen gibt es Aufregung, dass die Uefa im Spiegel gegen Italien eine weinende Zuschauerin in der Übertragung nach dem 2:0 gezeigt hat, obwohl sie sagt, sie hätte schon vor dem Anpfiff geweint. Eine „bodenlose Frechheit“, meldet „Welt Online“ gewohnt nüchtern.

Die ARD will sich wieder beim Verband beschweren, und das ZDF wird sicher auch noch markige Worte für diese Art der Manipulation finden. Sie werden so laut und empört über diesen unseriösen Einsatz von Symbolbildern protestieren, dass man fast denken könnte, sie hätten einen Ruf zu verlieren, als Journalisten und seriöse Sportberichterstatter.