Ich habe Mitleid mit Harald Martenstein.
Das ist vermutlich in seinem Sinne. Seit Monaten schon schreibt er mitleiderregende Kolumnen ins „Zeit Magazin“. Aber anscheinend ist so immer noch nicht genug Mitleid für ihn zustande gekommen.
Martenstein fühlt sich benachteiligt, weil er keiner benachteiligten Minderheit angehört.
Er ist damit nicht allein. Er schreibt stellvertretend für die sich für schweigend haltende Mehrheit weißer, heterosexueller, alter Männer, die die Welt nicht mehr verstehen.
Martenstein hält sich sicher für liberal, aufgeschlossen, aufgeklärt. Er ist bestimmt für Gleichberechtigung und gegen Diskriminierung. Aber er hat offenbar das Gefühl, dass es jetzt langsam mal reicht. Dass ihm und Seinesgleichen die Welt entgleitet.
Er schreibt gegen diesen Machtverlust an und benutzt dabei regelmäßig die stärkste stumpfe Waffe, die ihm zur Verfügung steht: Ignoranz.
In der vergangenen Woche hat er sich darüber geärgert, dass die Berliner Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg beschlossen hat, in öffentlichen Gebäuden neben Toiletten für Männer und Frauen auch Unisextoiletten einzurichten — für Menschen, die sich entweder keinem der beiden Geschlechter zuordnen können oder wollen oder aber einem Geschlecht, das sichtbar nicht ihrem biologischen Geschlecht entspricht.
Martenstein schreibt:
Mir ist klar, dass Inter- und Transsexuelle sich in einer schwierigen Situation befinden und dass solche Menschen Anspruch auf Respekt und Toleranz haben.
Das ist bloß eine Variante des klassischen Satzes „Ich habe nichts gegen Ausländer, aber.“ Martenstein fährt fort:
Warum man deswegen Toiletten umbauen muss, ist mir hingegen unklar.
Der Witz ist: Man muss deswegen gar keine Toiletten umbauen. Jedenfalls hat die Bezirksverordnetenversammlung nichts dergleichen beschlossen. Beschlossen hat sie, prüfen zu lassen, wo es möglich ist, eine bereits vorhandene Toilette pro Gebäude durch schlichte Änderung der Beschilderung in eine Unisextoilette umzuwidmen. Das kostet fast nichts.
Martenstein hat das nicht interessiert. Die behauptete Geldverschwendung ist sein Scheinargument, um gegen die ihm bizarr vorkommenden Spezialinteressen einer Minderheit anschreiben zu können.
Schon über seinem Text steht:
Inter- und Transsexuelle bekommen in Berlin-Kreuzberg eigene Toiletten. Harald Martenstein meint: Mehr Respekt für die Not kommunaler Haushalte würde auch nicht schaden.
Er kontert die Forderung, dass er „Respekt und Toleranz“ für Inter- und Transsexuelle aufbringen soll, mit der Forderung, dass Inter- und Transsexuelle „Respekt und Toleranz für die Lage der kommunalen Haushalte aufbringen“ sollen, indem sie auf einen teuren Umbau von Toiletten verzichten.
Gleich dreimal benutzt er in seiner Kolumne das Wortpaar „Respekt und Toleranz“ und demonstriert, dass er es für eine Zumutung hält, dass das jetzt dauernd von ihm gefordert wird — sogar auf (von ihm selbst imaginierte) Kosten des Haushaltes.
Und er beweist, wie wenig ihn die Nöte und Befindlichkeiten anderer Menschen tatsächlich interessieren, indem er erzählt, wie unkompliziert die Welt sein könnte, wenn nur alle so normal wären wie er oder sich wenigstens so normal gäben.
Er erzählt: „Wenn die Männertoilette kaputt war, bin ich immer auf der Frauentoilette gewesen. (…) Ich habe gelächelt und habe gesagt: ‚Tschuldigung. Das andere Klo ist kaputt.'“ Er schlägt vor, dass Inter- und Transsexuelle beim Gang auf die Toilette diese „kleine Notlüge“ benutzen sollen: „Was kostet es denn, zu sagen: ‚Das andere Klo ist kaputt‘?“
Die Antwort auf die Frage, was die Betroffenen eine solche Notlüge denn koste, interessiert ihn genauso wenig wie die Antwort auf die Frage, was es die Kommune kosten würde. Sonst wäre er vermutlich selbst darauf gekommen, was es für das Leben, die Selbstachtung, eines Menschen bedeuten kann, wenn er etwas so Alltägliches wie einen Toilettengang nur unter Rückgriff auf eine „kleine Notlüge“ absolvieren kann. Er hätte, wenn ihm schon die Empathie fehlt, sich das selbst auszumalen, auch in der Stellungnahme des Ethikrates nachlesen können, in der „das Verstecken der eigenen Intersexualität, die tägliche Entscheidung zwischen den Geschlechtern (zum Beispiel auf öffentlichen Toiletten)“ ausdrücklich als „Hürde im Alltag“ für die Betroffenen erwähnt wird.
Natürlich ist es eine Utopie, dass sich alle „Hürden“, die von einer speziellen Gruppe von Menschen im Alltag beklagt werden, beseitigen ließen. Und natürlich ist es auch richtig, eine Abwägung vorzunehmen, ob die Kosten, die für eine bestimmte Beseitigung von Hürden anfallen, in einem akzeptablen Verhältnis zu deren Größe stehen.
Aber Martensteins dummstolzes Ich schaff das doch auch zeigt, dass er sich für beides gar nicht interessiert.
Er hat die Haltung von jemandem, der eigentlich nicht dagegen war, öffentliche Gebäude — auch für teures Geld — für Rollstuhlfahrer zugänglich zu machen, das aber im Nachhinein bereut, weil er sieht, wohin das führt, wenn alle möglichen Leute plötzlich Rampen durchs Leben gebaut bekommen wollen, das normale Menschen doch eigentlich ganz gut bewältigen können.
Er hat eine Form gefunden, dem bürgerlichen „Zeit“-Publikum, das sich eigentlich ungern mit der „Bild“-Zeitung identifizieren möchte, dieselbe Mischung aus Ignoranz, Intoleranz und Desinteresse an Fakten zu servieren. In „Bild“ war der Kommentar zum Thema Unisextoiletten überschrieben mit: „Wir haben andere Sorgen.“ Das Wir, das sind Martenstein, „Bild“ und die dröhnende Mehrheit der Normalen.
Harald Martenstein meint, sich Respekt und Toleranz nicht mehr leisten zu können, nicht einmal dann, wenn sie so wenig kosten wie im Fall des Beschlusses der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg. Das ist keine Frage des Geldes. Er hat einfach das Gefühl, dass sein Respekt-und-Toleranz-Konto als normaler Mensch längst über Gebühr belastet wurde und die anderen jetzt erstmal ohne seinen Beitrag auskommen müssen.
Vielleicht hilft es, wenn wir ihm alle Mitleid spenden. Meins hat er.