Schlagwort: Zeit Online

Terroristen unter Flüchtlingen? Wie man mit Fehlalarmen Alarm schlägt

Das sind beunruhigende Nachrichten: Unter die Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, sollen sich auch Terroristen mischen. Innenminister Thomas de Maizière habe entsprechende Hinweise.

So melden es diverse Medien:



Die Quelle dafür ist ein Interview, das der Innenminister den Zeitungen der Funke-Gruppe gegeben hat. Darin sagt er, angesprochen Sorgen der Bürger, „ob Deutschland ein sicherer Ort bleibt“, tatsächlich:

Es gab und es gibt Hinweise von Nachrichtendiensten aus dem Ausland, dass sich Terroristen unter die Flüchtlinge mischen.

Seine Antwort geht aber weiter:

Das zeigt, wie wichtig die Zusammenarbeit mit anderen Nachrichtendiensten ist, auch wenn sie zum Teil aus Staaten kommen, die nicht ganz unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung haben. Wir nehmen all diese Hinweise ernst und gehen ihnen nach. Bisher hat sich keiner dieser Hinweise irgendwie bewahrheitet.

Es gab Hinweise, sagt der Innenminister, aber bislang waren sie alle falsch. Es war jedes Mal falscher Alarm. Das schließt nicht aus, dass es in Zukunft anders sein wird, aber bisher hat sich kein Hinweis bewahrheitet.

Und daraus machen deutsche Medien – nicht nur solche wie „Focus Online“, sondern auch solche wie „Zeit Online“ – dass der Innenminister Hinweise auf Terroristen unter den Flüchtlingen hat? Das ist natürlich in einem wortwörtlichen Sinne korrekt, so wie jeder Fehlalarm ja auch ein Alarm ist. Es verkehrt die Aussage des Innenministers aber in ihr Gegenteil.

Die „Thüringische Landeszeitung“ hat die Sache mit den „Hinweisen“ der Einfachheit halber in der Überschrift gleich ganz weggelassen und titelt schön knackig:

Die Einschränkung de Maizières, dass sich keiner der Hinweise bewahrheitet habe, findet sich zwar auch in allen Meldungen im Kleinergedruckten. Aber beim Texten von Überschriften und Vorspännen spielte das offenkundig keine Rolle, wie etwa die „Hannoversche Allgemeine“ beweist, die grob irreführend formuliert: 


Hinweise auf „Terroristen“ unter Flüchtlingen

Die Bundesregierung verfügt nach Angaben von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) über Informationen, dass mit den Flüchtlingen auch mutmaßliche Terroristen nach Deutschland kommen.

Die Nachrichtenagentur dpa hatte das Interview in der Nacht mit dem gegensätzlichen Titel verbreitet:

Hinweise auf Terroristen unter den Flüchtlingen nicht bewahrheitet

Die Konkurrenz von AFP schickte dann aber drei Stunden später die ungleich aufregendere Variante über die Ticker:

De Maizière: Hinweise auf „Terroristen“ unter den Flüchtlingen – Deutschland „im Fokus des internationalen Terrorismus“

Auch das zweite Zitat aus diesem Titel verliert an Brisanz, wenn man es im Original liest. De Maizière sagte:

Aber wir waren und sind im Fokus des internationalen Terrorismus. Wir hatten Anschlagsversuche, man denke nur an die sogenannte Sauerlandgruppe.

Der Innenminister spricht hier also nicht, wie man als Leser denken müsste, von einer neuen Gefährdung, sondern formuliert, dass „wir“ im Fokus des Terrorismus „waren und sind“. Diese Formulierung lässt AFP gleich ganz weg.

Heute Nacht schickte dpa übrigens auch einen Korrespondenten-Bericht „‚Die Stimmung kippt!‘ – Der Faktor Angst in der Flüchtlingskrise“. Und in ein paar Tagen können all die Medien, die jetzt aus Fehlalarmen Alarme gemacht haben, staatstragend-besorgt fragen, wie das nur passieren konnte, dass die Stimmung so schnell kippte, und woher die nur kommt, die ganze Angst.

Nachtrag, 18.50 Uhr. Die „Hannoversche Allgemeine“ hat Überschrift und Vorspann geändert:

Keine Hinweise auf Terroristen unter Flüchtlingen

Hinweise ausländischer Nachrichtendienste auf Terroristen unter den nach Deutschland kommenden Flüchtlingen haben sich nach Worten von Innenminister Thomas de Maizière (CDU) bisher nicht bewahrheitet.

Kodexfusion bei der „Zeit“: Gemeinsame ethische Richtlinien für Print und Online

„Die Zeit“ und „Zeit Online“ haben sich auf gemeinsame ethische Richtlinien für ihre Arbeit verständigt. Bislang hatten die Zeitung und ihr Internet-Angebot getrennte und teils voneinander abweichende Regelwerke (nämlich dieses und dieses).

Wegen der Abstimmung mit diversen Gremien und Stellen in Redaktion und Verlag zog sich der Fusionsprozess über viele Monate hin. Nun soll er aber auf entsprechend breitem Fundament stehen.

An einer Stelle gleich im ersten Absatz ist der neue Kodex gegenüber seinen Vorgängern entschärft: In der Aufzählung, welche möglichen Interessenkonflikte Redakteure gegenüber ihren Vorgesetzten offenlegen müssen, fehlt die Mitgliedschaft in Organisationen. Der stellvertretende „Zeit“-Chefredakteur Moritz Müller-Wirth sagt: „Wir haben hart darum gerungen, aber da haben sich unsere Juristen durchgesetzt. Sie haben uns darauf hingewiesen, dass wir als Arbeitgeber auf Grund höchstrichterlichen Entscheidungen kein generelles Recht haben, unsere Mitarbeiter nach solchen Mitgliedschaften zu fragen.“

Die bislang nur für Online explizit formulierte Vorgabe, dass „Reisen im Rahmen journalistischer Berichterstattung selbst bezahlt“ werden, gilt nun auch für die Print-Redaktion. Eine Ausnahme gibt es für das Reiseressort der gedruckten „Zeit“, das „bei einzelnen Recherchen die Unterstützung von Fremdenverkehrsämtern, Tourismusagenturen, Veranstaltern, Fluglinien oder Hotelunternehmen in Anspruch“ nehmen darf, worauf ein Kasten im „Reisen“-Teil hinweist.

Vorgaben, die sich dem Verhältnis zu den Anzeigenkunden widmen, hatte es vorher nur für „Zeit Online“ gegeben. Bei der „Zeit“ war man anscheinend davon ausgegangen, dass sich die Leser ohnehin nicht vorstellen könnten, dass sich ihre Wochenzeitung von Werbekunden reinreden lassen würde. Nun ja. Jedenfalls gelten diese Regeln von nun an gleichermaßen für Print und Online.

Der vorher in der Online-Version geltende Satz, dass eine Benennung als „Spezial“, „Verlagsbeilage“ oder „Sonderveröffentlichung“ nicht vorkommen dürfe, ist zwar weggefallen. Aber dafür gibt es eine eindeutige Kennzeichnungspflicht. „Es ist ganz einfach“, sagt Müller-Wirth. „Generell muss überall ‚Anzeige‘ drüberstehen. Ausnahmen sind sich selbst erklärende Angebote aus unserem eigenen ‚Zeit‘-Shop und weitere Serviceleistungen des Verlages, die als ‚Verlagsangebote‘ gekennzeichnet werden.“

Der unterschiedliche Grad an redaktioneller Kontrolle bleibt erhalten: Online-Texte werden von mindestens einer, Print-Texte von mindestens zwei weiteren Personen auf „sachliche und stilistische Qualität überprüft“.

Die neuen Regeln wurden jetzt ins Intranet gestellt. Veröffentlichen oder selbst den Lesern bekanntmachen will die „Zeit“ ihre neuen Regeln rätselhafterweise nicht, sondern nur im Einzelfall bei Nachfragen Auskunft geben. Vielleicht findet man es im Haus einfach eleganter, wenn jemand anders das Werk publiziert.

Also gut.

Code of Ethics von ZEIT ONLINE und DIE ZEIT

1. JOURNALISTISCHE UNABHÄNGIGKEIT

a. Redakteure von ZEIT ONLINE und ZEIT legen mögliche Interessenkonflikte gegenüber ihrem direkten Vorgesetzten offen. Ein möglicher Interessenkonflikt liegt vor, wenn durch Bekleiden eines Amtes oder durch ein Mandat in Vereinen, Parteien, Verbänden und sonstigen Institutionen einschließlich Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, durch Beteiligung an Unternehmen, durch Nebentätigkeit oder durch Beziehungen zu Personen oder Institutionen der Anschein entstehen kann, dass dadurch die Unabhängigkeit und Unvoreingenommenheit/Objektivität der Berichterstattung über diese Vereine, Parteien, Verbände, Unternehmen, Personen und sonstigen Institutionen beeinträchtigt werden könnten. Der direkte Vorgesetzte entscheidet, ob der Auftrag aufrechterhalten wird, und ggf., ob der Umstand, der den möglichen Interessenkonflikt begründet, mit Zustimmung des Redakteurs in dem Artikel offengelegt wird.

b. Aktienbesitz wird innerhalb der Wirtschaftsressorts offen gelegt.

c. Die Redaktionen von ZEIT ONLINE und ZEIT nehmen keine Journalistenrabatte in Anspruch. Auch von der privaten, außerdienstlichen Nutzung von Journalistenrabatten wird abgeraten. Insbesondere ist es nicht gestattet, bei privater Beantragung von Journalistenrabatten auf ZEIT ONLINE oder ZEIT als Arbeitgeber zu verweisen.

d. Reisen im Rahmen journalistischer Berichterstattung werden selbst bezahlt. Bei Einladungen wird eine den Reisekosten entsprechende Summe gegen Rechnung überwiesen. Begleiten Journalisten Politiker, Manager oder andere auf Reisen im In- und Ausland, wird in der Regel von den Ausrichtern die übernahme der Kosten angeboten. Solche Kostenübernahme-Angebote lehnen ZEIT ONLINE und ZEIT ab.

Ausnahmen sind in begründeten Einzelfällen Reisen in Krisengebiete oder Reisen mit Politikern bzw. an Bord von Flugzeugen oder Schiffen der deutschen Bundeswehr, wenn über Themen von erheblichem öffentlichen Interesse berichtet wird und diese Berichterstattung aus eigenen Mitteln oder aus Gründen der persönlichen Sicherheit des jeweiligen Reporters nicht realisierbar wäre.

Ausnahmen sind auch ergebnisoffene Reisestipendien von Organisationen wie IJP oder der Arthur F. Burns Fellowship. Auch wenn Redakteure von einer externen Organisation zu einer Reise eingeladen werden und sämtliche Reisekosten von der Redaktion selbst getragen werden, sollte in den mithilfe dieser Reise entstanden Beiträgen dennoch darauf hingewiesen bzw. erwähnt werden, wer diese Reise organisiert hat.

Das ZEIT-Ressort „Reisen“ nimmt bei einzelnen Recherchen die Unterstützung von Fremdenverkehrsämtern, Tourismusagenturen, Veranstaltern, Fluglinien oder Hotelunternehmen in Anspruch. Dies wird im „Reisen“-Teil der ZEIT durch einen entsprechenden Vermerk transparent gemacht.

Ausnahmen von diesen Regelungen müssen von der Chefredaktion genehmigt werden.

e. Alle Arten von Geschenken werden sozialisiert, soweit sie einen Wert von 40 Euro überschreiten. Redakteure liefern Geschenke an einer zentralen Stelle ab. Am Ende des Jahres werden sie zugunsten eines wohltätigen Zwecks versteigert.

f. Bücher oder andere Produkte von Redakteuren werden nicht redaktionell bewertet. Bei eventuellen Vorabveröffentlichungen solcher Werke wird die Befangenheit für den Leser deutlich gekennzeichnet.

Redakteure können ihre Bücher auf ihren persönlichen ZEIT-Online-Profilseiten erwähnen. Diese Erwähnungen können auf begleitende Websites dieser jeweiligen Bücher oder Leseproben der jeweiligen Verlags-Site verlinkt werden. Bei der Besprechung von Büchern ehemaliger Redakteure von ZEIT ONLINE oder DIE ZEIT wird auf den Umstand ihrer früheren Redaktionszugehörigkeit hingewiesen.

g. Jede Nebentätigkeit von Redakteuren muss der jeweiligen Chefredaktion angezeigt werden. Die Nebentätigkeit kann nur untersagt werden, wenn berechtigte Interessen des Arbeitgebers entgegenstehen, etwa mögliche Beeinflussung der Berichterstattung, mögliche Beschädigung der Marke ZEIT / ONLINE oder Tätigkeit für ein Konkurrenzunternehmen. Der Chefredakteur muss seine Nebentätigkeiten dem Verleger anzeigen. Die Regelung in den Arbeitsverträgen bleibt hiervon unberührt.

h. Freie Mitarbeiter müssen Tätigkeiten in dem Journalismus nahen Bereichen – Marketing, PR – offen legen. Eine Tätigkeit in einem dieser Bereiche schließt in der Regel die redaktionelle Bearbeitung inhaltlich verwandter Themen bei ZEIT ONLINE und ZEIT für den Zeitraum eines Jahres nach Abschluss der jeweiligen Tätigkeit in Marketing und PR aus, wenn nicht in beiderseitigem Einvernehmen eine Regelung getroffen werden konnte, die eine Einflussnahme auf die Berichterstattung ausschließt.

2. QUALITÄTSSICHERUNG

a. Jeder auf ZEIT ONLINE erscheinende Text wird außer vom Autor noch von mindestens einer weiteren Person, jeder in der ZEIT erscheinende Text von mindestens zwei weiteren Personen auf sachliche und stilistische Qualität überprüft und anschließend von einem Korrektor auf Orthografie, Interpunktion und Grammatik. An der Verantwortung für die Richtigkeit der redaktionellen Inhalte, die durch Gesetz oder Vertrag geregelt ist, ändert sich durch diese Regelung nichts.

b. Bei berechtigter Kritik durch Leser an einem Online-Text melden sich Online-Redakteure und je nach Möglichkeit auch Print-Redakteure, die online publiziert haben, im Kommentar-Thread unter ihrem Artikel selbst zu Wort.

Faktische Fehler werden dabei in folgender Weise berichtigt:

1. Korrektur der betreffenden Textstelle

2. ein Hinweis unter dem Text, dass korrigiert wurde

3. sofern geboten: im Kommentarthread eine Antwort an den jeweiligen Leser, die seinen Hinweis anerkennt

Inhaltliche Fehler online nur stillschweigend auszubessern ist nicht akzeptabel.

Werden in Print-Artikeln Fakten (insbesondere zur Stützung eigener Argumente) wiedergegeben, die sich im Nachhinein als falsch erweisen, ist dies, nach Möglichkeit vom Autor selbst, im Blatt zu korrigieren. Ist der Print-Artikel auch online zu finden, wird dort auf die jeweilige Korrektur verwiesen.

3. BEZIEHUNG ZU ANZEIGENKUNDEN

a. Anzeigenkunden haben keine Möglichkeit, den redaktionellen Inhalt zu beeinflussen. Einzelne Themen tauchen zwar durchaus auch aufgrund möglicher Anzeigenerlöse in ihrem jeweiligen Umfeld auf, potenzielle Inserenten haben jedoch keine Möglichkeit, auf Umfang, Art und Urteil der Berichterstattung Einfluss zu nehmen.

b. Kein Anzeigenkunde kann durch die Drohung, Aufträge zu stornieren, kritische Berichterstattung verhindern.

c. Anzeigen müssen sich in der Darstellung vom Layout der redaktionellen Inhalte von ZEIT ONLINE bzw. ZEIT offensichtlich unterscheiden. Dies betrifft zum Beispiel Schrifttype, Spaltenbreite, Link- oder Hintergrundfarbe. Advertorials müssen stringent als „Anzeige“ gekennzeichnet sein. Verweise auf Online-Angebote des ZEIT-Verlags (Stellenmarkt, ZEIT-Shop, etc.) werden mit dem Zusatz „Verlagsangebot“ gekennzeichnet.

d. Die Details der auf ZEIT ONLINE einzusetzenden Werbemittel sind in der zwischen Chefredaktion und Verlagsgeschäftsführung regelmäßig definierten Werbemittelkonvention geregelt.

4. VERHÄLTNIS ZU KOMMERZIELLEN PRODUKTEN IM EIGENEN HAUS

a. Kommerzielle Produkte des Verlages werden im redaktionellen Teil nicht besprochen. Ausnahmen bilden Non-Profit-Produkte des Verlages.

b. Veranstaltungen, die der Verlag ausrichtet, werden in aller Regel im redaktionellen Teil nicht besprochen. Wertende Berichterstattung dazu findet grundsätzlich nicht statt. Eine dokumentierende Wiedergabe als Video oder im Wortlaut ist möglich und liegt im Ermessen der Redaktion.

c. Geschäftspartner, die Veranstaltungen, Produkte oder andere Aktivitäten des Verlages unterstützen, haben keinerlei Einfluss auf die redaktionelle Berichterstattung.

d. Für journalistische Produkte im Bereich von Corporate Publishing des ZEIT Verlags (Tempus Corporate GmbH) dürfen Redakteure und feste freie Mitarbeiter nicht aktiv werden. Freie Mitarbeiter müssen ihre Mitarbeit im Corporate Publishing offen legen – und sind daraufhin im entsprechenden Themenbereich als Autoren für ein Jahr nach Abschluss der jeweiligen Tätigkeit im Corporate Publishing gesperrt.

5. DER CODE OF ETHICS IST EINE FREIWILLIGE SELBSTVERPFLICHTUNG

Etwaige Verstöße dagegen ziehen keine arbeitsrechtlichen Konsequenzen nach sich. Davon ausgenommen sind Verstöße gegen Pflichten, die sich bereits aus dem Arbeitsverhältnis der jeweiligen Kollegin/des jeweiligen Kollegen ergeben.

Falsche Wolken über der Ukraine? Die Photoshop-Arbeiten des Kreml und die Fehler der Bellingcat-Analyse

Mehrere Satellitenfotos, die das russische Verteidigungsministerium nach dem Abschuss von Malaysia-Airlines-Flug MH17 veröffentlicht hat, sollen gefälscht sein. Die Bürgerjournalisten-Rechercheplattform Bellingcat behauptet, das in einer „forensischen Untersuchung“ nachgewiesen zu haben.

Und wenn Bellingcat das behauptet, behaupten die deutschen Medien das auch. Dabei gibt es erhebliche Zweifel an den Methoden und Schlussfolgerungen. Ausgerechnet der Erfinder der Fotoauswertungs-Software, die Bellingcat benutzte, distanziert sich deutlich von dem Bericht und nennt die Analyse „fehlerhaft“.

Bellingcat gibt mehrere Belege dafür an, dass die Fotos, die die russische Regierung vorgelegt hat, gefälscht sein müssen. Darunter diese:

· · ·

1. Aus den Metadaten der Fotos gehe hervor, dass sie nachträglich mit Photoshop bearbeitet wurden.

Ja, bloß: Das bedeutet nichts. Man hätte nicht einmal in die Metadaten der Fotos schauen müssen, um zu wissen, dass sie mit einem Programm wie Photoshop manipuliert wurden. Es wurden nämlich, wie man sieht, nachträglich Beschriftungen hinzugefügt.

Bearbeitet wurden die Fotos auch insofern, als sie für die Veröffentlichung auf der Seite des Verteidigungsministeriums verkleinert werden mussten.

Die Fotos sind also zweifellos nachbearbeitet, und zwar offenbar mit „Creator Tool Adobe Photoshop CS5 Windows“. Dass zusätzlich zu den offensichtlichen Änderungen aber auch Manipulationen im Sinne einer Fälschung des Bildinhaltes vorgenommen wurden, besagen die Metadaten in keiner Weise.

· · ·

2. Die Fehlerstufenanalyse („Error Level Analysis“, ELA) eines der entscheidenden Fotos zeige, dass sein Inhalt mit großer Wahrscheinlichkeit verändert wurde. Konkret seien nachträglich Wolken hinzugefügt worden, vermutlich um irgendwelche anderen Bildinhalte zu verdecken.

Die ELA macht verdächtige Stellen in der Komprimierung von Fotos im JPEG-Format sichtbar. Zugegeben: Ich habe die Details dieser Art der Analyse nicht verstanden – aber die Bellingcat-Leuten anscheinend auch nicht. Die behaupten zum Beispiel, bei einem nicht-manipulierten Foto sollten alle Bildinhalte in etwa das gleiche „Fehlerniveau“ haben. Weil das nicht der Fall ist und zum Beispiel für die Wolken auf einem der zentralen Bilder ein anderes Fehlerniveau angezeigt wird, schließen sie daraus, dass diese Wolken „mit hoher Wahrscheinlichkeit digital hinzugefügt“ wurden.

Nur geht die Fehlerstufenanalyse keineswegs davon aus, dass „echte“ Fotos ein konstantes Fehlerniveau haben. Bereiche mit mehr Details haben zum Beispiel ein höheres Niveau als glatte Oberflächen und erscheinen auf den ELA-Bildern deshalb heller.

Bellingcat hat für die ELA-Untersuchung die Seite fotoforensics.com benutzt, bei der jeder Fotos hochladen und testen lassen kann (und die davor warnt, die Aussagekraft dieser Analyse zu überschätzen). Hinter dieser Seite und dieser Analyseform steht der Computerwissenschaftler Neal Krawetz. Eben dieser Neal Krawetz bescheinigt den Bellcat-Leuten unmissverständlich, dass ihre Analyse mit seiner Methode fehlerhaft sei. Er twitterte, es sei ein Lehrbuchbeispiel dafür, wie man Bildanalyse nicht durchführen sollte.

· · ·

3. Der Vergleich mit Satellitenfotos auf Google Earth beweise, dass die Bilder, die das russische Verteidigungsministerium veröffentlicht hat, zu einem anderen Zeitpunkt als angegeben entstanden sein müssen.

Es gibt ein Problem, wenn man Satelliten-Aufnahmen bei Google Earth benutzt, um den genauen Zustand einer Landschaft zu einem exakten Zeitpunkt zu bestimmen: Die Datumsangaben sind unzuverlässig. Teilweise kennt Google selbst nicht den exakten Zeitpunkt, zu dem die Fotos entstanden sind. Bellingcat erwähnt dieses Phänomen nicht einmal und erklärt deshalb auch nicht, warum es womöglich Grund zur Annahme gab, dass die Google-Earth-Angaben im konkreten Fall dennoch zweifelsfrei korrekt sind.

· · ·

All das bedeutet nicht, dass der Bericht von Bellingcat, der noch weitere Analysen enthält, insbesondere was die Datierung von Fotos angeht, vollständig falsch ist. Und schon gar nicht bedeutet das, dass die Fotos, die das russische Verteidigungsministerium vorgelegt hat, echt sind.

Aber die so hochtrabend klingende „forensische Untersuchung“ weist einige Ungereimtheiten und haarsträubende Kurzschlüsse auf. Und das in einem Bericht, der Bellingcat zu dem eindeutigen Schluss führt, dass die Satellitenbilder von Russland gefälscht wurden, „in einem eindeutigen Versuch, die Öffentlichkeit, die Weltgemeinschaft und die Familien der Opfer des Fluges MH17 nur Tage nach dem Abschuss in die Irre zu führen“.

Es gibt Anlass, an Details des Bellingcat-Berichts zu zweifeln, Fragen zu stellen, ihn mit Vorsicht zu interpretieren. Stattdessen machen führende deutsche Medien sich seine Aussagen weitgehend zu eigen.

Bei „Spiegel Online“, das groß mit dem Bericht aufmachte, waren die letzten Zweifel, die ein „offenbar“ in der Überschrift und im Vorspann noch ausdrückte …

… am Ende des Artikels verschwunden:

Doch nun haben die Experten von Bellingcat eben diese Aufnahme als Fälschung enttarnt.

In zwei weiteren Artikeln am selben Tag gab es dann keine Zweifel mehr:

(„Spiegel Online“-Korrespondent Bidder* hat dabei übrigens die Bellingcat-Argumentation teilweise offenbar nicht richtig verstanden. Er schreibt über die verschiedenen vermeintlich verdächtigen Bereiche, die Bellingcat auf einem Foto ausgemacht und mit Buchstaben markiert hat:

Die farbige Linie im Bereich B zeige, schreiben die Experten, dass das Foto unten mit einem Streifen überdeckt worden sei. „Oben wurde dieser Streifen an das Foto angesetzt. Der dunkle Bereich E ist wahrscheinlich durch eine Aufhellung bzw. Kontrastverstärkung des Fotos entstanden. Dieser Bereich ist sozusagen überbelichtet.“

Ja, nur: Diese beiden Auffälligkeiten findet Bellingcat nicht besonders problematisch, da sie sich durch den Bildinhalt erklären lassen. Vor allem der Bereich B (das ist der türkis markiert schmale Streifen ganz unten) entsteht einfach durch die graue Fläche, die oben und unten über das Satellitenfoto gelegt wurde. Eigentlich problematisch findet Bellingcat den Unterschied zwischen den Flächen D und C.)

Bei tagesschau.de verschwand die journalistische Distanz noch schneller. Es passierte zwischen Überschrift …

Russland soll Fotos gefälscht haben

… und Vorspann:

Mithilfe von Satellitenfotos wollte die russische Regierung belegen, dass die Ukraine für den Abschuss des Fluges MH-17 verantwortlich ist. Die Recherchegruppe Bellingcat hat nun nachgewiesen, dass die Fotos manipuliert worden sind.

Die „Süddeutsche Zeitung“ machte es genau umgekehrt. Im Text behält Hans Leyendecker Distanz zu den Bellingcat-Urteilen:

Die Investigativ-Plattform Bellingcat, die bislang in diesem Propagandakrieg mit sauberer Recherche aufgefallen ist, hat jetzt in einem Untersuchungsbericht die russischen Fotos auf Echtheit überprüft; und das Ergebnis ist aus Sicht der Prüfer klar: Es handelt sich um Fälschungen. Die Analyse soll „unzweifelhaft“ ergeben haben, dass die Satellitenfotos falsch datiert und durch die Software Adobe Photoshop CS5 „digital verändert“ worden seien.

Aber die Überschrift lautet:

Stümper und Fälscher

Bei der „Frankfurter Rundschau“ blieben erst gar keine Fragen offen:

Manipulierte MH17-Bilder

Die Internet-Recherche-Plattform Bellingcat weist nach, dass Russland Satellitenaufnahmen gefälscht hat

Derselbe Artikel trug bei der „Berliner Zeitung“ die Überschrift:

Das Blaue vom Himmel

Wie Russland Satellitenbilder fälschte, um eine ukrainische Schuld am Absturz von MH17 zu belegen

Die FR- und „Berliner Zeitung“-Autorin glaubt genau zu wissen, wie es war:

Das Verfahren ist alles andere als neu. Photoshop-Verfahren sind als Softwareprogramme im Netz allgemein zugänglich. [sic!] Jedes Urlaubsfoto lässt sich mit ihrer Hilfe verschönern. Im vorliegenden Fall wurde der Himmel über der Ostukraine allerdings nicht nachträglich ein wenig blauer gestaltet, sondern im Gegenteil mit Wolken verhangen, die auf den Originalfoto fehlen.

Auch die „Welt“, die sich durchaus skeptisch mit den Bewertungen von Bellingcat auseinandersetzt, übernimmt die zweifelhafte Foto-Analyse-Bewertung im Indikativ:

Bei näherer Betrachtung der Fehlerstufenanalyse ist tatsächlich ein hochgradig unregelmäßiges Rauschen festzustellen. Ein in Gänze komprimiertes Bild würde diese Unterschiede nicht aufweisen. Wolken wurden also offenbar hinzugefügt, um weitere Details zu verdecken.

„Zeit Online“ hatte keine Fragen:

Kreml manipulierte mit Photoshop. Anhand von Satellitenfotos wollte Russland die Schuld der Ukraine am Absturz von Flug MH17 beweisen. Eine unabhängige Analyse belegt nun: Die Bilder wurden gefälscht.

Das ZDF auch nicht:

MH17-Absturz: Fotos lügen doch

Bemerkenswert ist, wie oft in all diesen Berichten von den „Experten“ von Bellingcat die Rede ist – woher genau die Expertise der Bürgerjournalisten für die konkreten Auswertungen kommt, ist völlig unklar. Es handelt sich in der Regel um interessierte und engagierte Laien. Über den Mann, der für die „forensische Analyse“ zuständig gewesen sein soll, ist nur der Name „Timmi Allen“ bekannt. Auch der WDR, der ihn interviewt hat, erwähnt keinerlei fachlichen Hintergrund, sondern nennt ihn nur „Mitglied“ der Investigativplattform.

Noch einmal: All das belegt nicht, dass die Fotos keine Fälschungen sind, und Bellingcat nennt weitere Indizien dafür als die oben genannten. Aber die Vorgehensweise von Bellingcat hat erhebliche Mängel. Das macht es problematisch, die vermeintlichen Ergebnisse einfach zu übernehmen.

Der Bellingcat-Bericht:

Die Kritik daran:

 

Nachtrag, 10.10 Uhr. „Spiegel Online“ hat jetzt ein Interview mit dem Foto-Forensiker veröffentlicht, in dem der Bellingcat „Fehlinterpretationen“ und „Kaffeesatzleserei“ vorwirft, und plötzlich sind es nur noch „angebliche“ russische Foto-Manipulationen.

Nachtrag, 4. Juni. Im SPIEGELblog räumt „Spiegel Online“-Chefredakteur Florian Harms ein: „Selbstkritisch müssen wir festhalten: Diese professionelle Skepsis im Umgang mit der Quellenlage, das Hinterfragen der Quelle hätten wir bereits in den vorherigen Artikeln stärker zum Ausdruck bringen sollen. Wir lernen daraus und nehmen uns vor, dies in künftigen Fällen zu beherzigen.“

*) Korrektur 9. Juni. Ich habe oben Benjamin Bidder persönlich für einen Fehler kritisiert. Der konkrete Artikel ist aber gar nicht von ihm.

Gedruckt weniger streng als online: Der Ethik-Kodex der „Zeit“

Man ahnt sowas ja nicht, aber auch die gedruckte „Zeit“ hat einen Ethik-Kodex. Es gibt ihn noch nicht so lange wie bei der Online-Schwester, nämlich erst seit Januar 2013, und er ist weniger umfangreich. Er lautet so:

CODE OF ETHICS
für DIE ZEIT

1. JOURNALISTISCHE UNABHÄNGIGKEIT

a. Redakteure der ZEIT legen mögliche Interessenkonflikte gegenüber ihrem direkten Vorgesetzten offen. Ein möglicher Interessenkonflikt liegt vor, wenn durch Mitgliedschaft, Bekleiden eines Amtes oder durch ein Mandat in Vereinen, Parteien, Verbänden und sonstigen Institutionen einschließlich Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, durch Beteiligung an Unternehmen, durch gestattete Nebentätigkeit oder durch Beziehungen zu Personen oder Institutionen der Anschein entstehen kann, dass dadurch die Unabhängigkeit und Unvoreingenommenheit/Objektivität der Berichterstattung über diese Vereine, Parteien, Verbände, Unternehmen, Personen und sonstigen Institutionen beeinträchtigt werden könnten. Der direkte Vorgesetzte entscheidet, ob der Auftrag aufrechterhalten wird, und ggf., ob der Umstand, der den möglichen Interessenkonflikt begründet, mit Zustimmung des Redakteurs in dem Artikel offengelegt wird.

b. Aktienbesitz wird innerhalb des Wirtschaftsressorts offengelegt.

c. Die Redaktion der ZEIT nimmt keine Journalistenrabatte in Anspruch. Auch von der privaten, außerdienstlichen Nutzung von Journalistenrabatten wird abgeraten. Insbesondere ist es nicht gestattet, bei privater Beantragung von Journalistenrabatten auf DIE ZEIT als Arbeitgeber zu verweisen.

d. Alle Arten von Geschenken werden sozialisiert, soweit sie einen Wert von 40 Euro überschreiten. Redakteure liefern Geschenke bei einer zentralen Stelle ab. Am Ende des Jahres werden sie zugunsten eines wohltätigen Zwecks versteigert.

e. Bücher oder andere Produkte von Redakteuren werden nicht redaktionell bewertet. Bei eventuellen Vorabveröffentlichungen solcher Werke wird die Befangenheit für den Leser deutlich gemacht.

f. Jede Nebentätigkeit von Redakteuren muss der Chefredaktion zur Genehmigung vorgelegt werden. Die Prüfung erfolgt unter Berücksichtigung einer möglichen Beeinflussung der Berichterstattung, einer möglichen Beschädigung der Marke ZEIT sowie unter arbeitsökonomischen Gesichtspunkten der Redakteure. Der Chefredakteur muss seine Nebentätigkeiten dem Verleger mitteilen.

g. Freie Mitarbeiter müssen Tätigkeiten in den journalismusnahen Bereichen Marketing, PR offenlegen. Eine Tätigkeit in einem dieser Bereiche schließt in der Regel die redaktionelle Bearbeitung inhaltlich verwandter Themen bei der ZEIT für den Zeitraum eines Jahres aus, wenn nicht in beiderseitigem Einvernehmen eine Regelung getroffen werden konnte, die eine Einflussnahme auf die Berichterstattung ausschließt.

2. QUALITÄTSSICHERUNG

a. Jeder in der Printausgabe der ZEIT erscheinende Text wird in aller Regel außer von dem Autor noch von mindestens zwei Personen auf sachliche und stilistische Korrektheit überprüft. Zusätzlich überprüft das Korrektorat jeden Text auf Orthografie, Interpunktion und Grammatik. Die Verantwortung für die Richtigkeit von Daten und Fakten verbleibt beim Autor bzw. beim im Impressum als „verantwortlich“ Genannten.

b. Werden in Printartikeln Fakten (insbesondere zur Stützung eigener Argumente) wiedergegeben, die sich im Nachhinein als falsch erweisen, ist dies, nach Möglichkeit vom Autor selbst, im Blatt zu korrigieren.

c. Sofern zeitnah möglich, werden auch Fehler in bei ZEIT ONLINE veröffentlichten Texten aus der Printredaktion nach Rücksprache mit dem Autor online korrigiert.

3. SELBSTVERPFLICHTUNG

Etwaige Verstöße gegen den Code of Ethics ziehen keine arbeitsrechtlichen Konsequenzen nach sich. Davon ausgenommen sind Verstöße gegen Pflichten, die sich bereits aus dem Arbeitsverhältnis der jeweiligen Kollegin/des jeweiligen Kollegen ergeben.

Texte müssen also bei der gedruckten „Zeit“ von mindestens zwei zusätzlichen Personen „auf sachliche und stilistische Korrektheit überprüft“ werden, online genügt es, wenn ein Kollege redigiert.

Das ist allerdings der einzige Punkt, bei dem der Kodex für das gedruckte Produkt strengere Regeln vorsieht als für den Internet-Ableger. Eine Reihe anderer Vorgaben, die für „Zeit Online“ gelten, fehlen hingegen bei der Print-„Zeit“, darunter der komplette Block, der sich den heiklen „Beziehungen zu Anzeigenkunden“ widmet. Aus der „Zeit“ heißt es zur Erklärung: Der Gedanke, dass ein Werbekunde Einfluss auf die redaktionellen Inhalte des Wochenblattes nehmen könnte, sei für dessen Leser so abwegig, dass sie es schon zweifelhaft fänden, wenn ihre Zeitung glaubte, es ausdrücklich in einem Kodex ausschließen zu müssen.

Nun ja. Andererseits hatte die „Zeit“ ihren Kodex ohnehin bisher nicht selbst veröffentlicht. (Sie hat ihn mir allerdings auf Nachfrage ohne größere Umstände zur Verfügung gestellt.)

Erstaunlicherweise verzichtet die gedruckte „Zeit“ — anders als „Zeit Online“ — in ihrem Kodex auch vollständig auf Richtlinien, unter welchen Umständen Reisekosten für ihre Journalisten von denen übernommen werden dürfen, die ein Interesse an der Berichterstattung haben. Dabei ist gerade das ein Feld, bei dem ein Versuch hilfreich wäre, klare Vorgaben zu definieren.

Anders als ihren Online-Kollegen ist „Zeit“-Journalisten jedenfalls nicht untersagt, Politiker auf deren Kosten auf Reisen zu begleiten. Auch für den Reiseteil gibt es keine Vorgaben. „Zeit Online“ nimmt dieses Ressort von den strengen Bezahl-Regeln aus und fordert nur, die Finanzierung durch Dritte transparent zu machen. In der gedruckten „Zeit“ fehlt eine solche Kennzeichnung im Einzelnen. Stattdessen gibt es nur einen allgemeinen Hinweis in dieser Form:

Hinweis der Redaktion: Bei unseren Recherchen nutzen wir gelegentlich die Unterstützung von Fremdenverkehrsämtern, Tourismusagenturen, Veranstaltern, Fluglinien oder Hotelunternehmen. Dies hat keinen Einfluss auf den Inhalt der Berichterstattung.

Die gedruckte „Zeit“ sieht, anders als „Zeit Online“, offenbar auch keine Notwendigkeit, Werbung für kommerzielle Produkte des eigenen Verlages im Kodex zu reglementieren.

Die Vorgabe, dass Autoren, die für Corporate-Publishing-Medien (wie sie auch die „Zeit“-Schwester Tempus Corporate GmbH herstellt), nicht über ähnliche Themen für die „Zeit“ schreiben dürfen, fehlt im Print-Kodex, ist aber Teil einer separaten Vereinbarung.

Die Ethik-Regeln haben eine Sollbruchstelle. Sie hört auf den Namen Josef Joffe. Für den „Zeit“-Herausgeber gilt der Kodex offenbar bestenfalls nur bedingt. Obwohl er in einer unüberschaubaren Zahl von Vereinen, Verbänden und Gremien engagiert ist, insbesondere solchen mit engen Verbindungen zu den USA, habe ich bislang keinen Transparenzhinweis unter seinen „Zeit“-Artikeln gefunden. Auch die Pflicht, Fakten („insbesondere zur Stützung eigener Argumente“), die sich im Nachhinein als falsch erwiesen haben, im Blatt zu korrigieren, scheint für ihn nicht uneingeschränkt zu gelten.

Bei Fehlern, die Nicht-Joffes passieren, sollen Korrekturen aber in Zukunft auch bei den Online-Veröffentlichungen der Print-Artikel eingepflegt werden — vor einem Jahr war das anscheinend noch nicht umgesetzt, weshalb der „Zeit“-Irrtum über die Existenz einer „Shitstorm-Agentur“ online offenbar für alle Zeit ohne Korrektur bleiben muss.

Merkwürdig sind auch die Umstände eines Artikels, den die Redakteure Jochen Bittner und Matthias Nass in der „Zeit“ 7/2014 veröffentlichten. Sie berichteten darin über die außenpolitische Neuorientierung Deutschlands und ein dabei entscheidendes Papier namens „Neue Macht, neue Verantwortung“. Entwickelt wurde es von einer Arbeitsgruppe, in der ein Jahr lang „Beamte aus dem Kanzleramt und dem Auswärtigen Amt ebenso mit[diskutierten] wie Vertreter von Denkfabriken, Völkerrechtsprofessoren, Journalisten sowie die führenden Außenpolitiker aller Bundestagsfraktionen“. Einer der „mitdiskutierenden“ Journalisten: Jochen Bittner.

Ein „Zeit“-Autor schreibt über ein Projekt, bei dem eine neue Außenpolitik verhandelt wird, woran er selbst beteiligt war, ohne das zu erwähnen — ein klarer Verstoß gegen den Kodex. Angeblich handelte es sich nur um eine Panne: Versehentlich habe der eigentlich vorgesehene Transparenz-Hinweis gefehlt. In der folgenden Woche veröffentlichte die gedruckte „Zeit“ eine dezente „Klarstellung“ ohne Entschuldigung. Unter der Online-Fassung des Artikels fehlt bis heute jeder entsprechende Hinweis.

Es scheint mühsam zu sein. Trotz Kodex.

Angeblich gibt es trotzdem tatsächlich eine zunehmende Sensibilisierung für Fragen von Transparenz und Distanz in der Redaktion. Eine Folge davon ist, dass die „Zeit“ ihren Platz in der berüchtigten Bilderberg-Konferenz aufgegeben hat, den sie über viele Jahrzehnte inne hatte — „unwiderruflich“, wie es heißt. Dieser Sitz wird nun von Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner besetzt.

Im Wortlaut: Der „Code of Ethics“ von „Zeit Online“

Ein Problem an der ganzen Sache mit „Zeit Online“ und Moritz Gathmann war, dass sich die Redaktionsleitung auf „interne ethische Richtlinien“ berief, die außerhalb der Redaktion gar nicht bekannt waren und sind. Der „Code of Ethics“ gilt seit Sommer 2012 und ist nach Angaben von Markus Horeld, dem stellvertretenden Chefredakteur, allen Redakteuren bei „Zeit Online“ „bekannt und zugänglich“. Chefredakteur Jochen Wegner schrieb hier in den Kommentaren, es sei „sicher sinnvoll“, die Richtlinien „so schnell wie möglich zu publizieren. Auch das ist ein Versäumnis, das wir in den kommenden Monaten nachholen werden.“

Ich bin mir nicht ganz sicher, warum das so eine langwierige Angelegenheit sein soll, wenn sich andere Dinge in der Redaktion innerhalb von zwei Stunden und drei Tweets erledigen lassen. Vielleicht kann ich das abkürzen. Das hier ist der „Code of Ethics“ von „Zeit Online“:

1. JOURNALISTISCHE UNABHÄNGIGKEIT

a. Wir legen offen, wenn ein Autor zu den in seinen Artikeln beschriebenen Personen oder Institutionen persönliche Beziehungen unterhält. Dies betrifft Mitgliedschaften bei Parteien und Verbänden, gegebenenfalls auch bei Kirchen, ebenso wie in Jurys oder ähnlichen Gremien.

Die Offenlegung kann im Fließtext eines Artikels, in einer Autorenbox oder auch unter dem Text vorgenommen werden.

b. Aktienbesitz wird innerhalb des Wirtschaftsressorts offen gelegt.

c. Die Redaktion von ZEIT ONLINE nimmt keine Journalistenrabatte in Anspruch. Auch von der privaten, außerdienstlichen Nutzung von Journalistenrabatten wird abgeraten. Insbesondere ist es nicht gestattet, bei privater Beantragung von Journalistenrabatten auf ZEIT ONLINE als Arbeitgeber zu verweisen.

d. Reisen im Rahmen journalistischer Berichterstattung werden selbst bezahlt. Bei Einladungen wird eine den Reisekosten entsprechende Summe gegen Rechnung überwiesen. Begleiten Journalisten Politiker, Manager oder andere auf Reisen im In- und Ausland, wird in der Regel von den Ausrichtern die Übernahme der Kosten angeboten. Solche Kostenübernahme-Angebote lehnt ZEIT ONLINE ab. Eine Ausnahme bildet das Ressort Reisen.

Ausnahmen sind in begründeten Einzelfällen Reisen in Krisengebiete oder Reisen mit Politikern bzw. an Bord von Flugzeugen oder Schiffen der deutschen Bundeswehr, wenn über Themen von erheblichem öffentlichen Interesse berichtet wird und diese Berichterstattung aus eigenen Mitteln oder aus Gründen der persönlichen Sicherheit des jeweiligen Reporters nicht realisierbar wäre. Ausnahmen sind auch ergebnisoffene Reisestipendien von Organisationen wie IJP oder der Arthur F. Burns Fellowship. Auch wenn ZEIT ONLINE–Redakteure von einer externen Organisation zu einer Reise eingeladen werden und sämtliche Reisekosten von ZEIT ONLINE selbst getragen werden, sollte in den mithilfe dieser Reise entstanden Texten oder Videos dennoch darauf hingewiesen bzw. erwähnt werden, wer diese Reise organisiert hat.

Ein Sonderfall ist das Ressort „Reisen“, das oft auf die Unterstützung von Fremdenverkehrsorganisationen angewiesen ist. Hier wird unter dem Artikel von ZEIT ONLINE deklariert, wenn die Reportage mithilfe von Drittmitteln zustande gekommen ist. Selbstverständlich ist die Redaktion auch in diesen Fällen verpflichtet, Sponsoren in keiner Weise Einfluss auf Themenauswahl oder Inhalt der Reportage zu gewähren. Die Finanzierung einer Reise durch das unmittelbare Berichtsobjekt, also beispielsweise ein Hotel, das redaktionell besprochen wird, ist nicht möglich.

e. Alle Arten von Geschenken werden sozialisiert, soweit sie einen Wert von 40 Euro überschreiten. Redakteure liefern Geschenke an einer zentralen Stelle ab. Am Ende des Jahres werden sie zugunsten eines wohltätigen Zwecks versteigert.

f. Bücher oder andere Produkte von Redakteuren werden nicht redaktionell bewertet. Bei eventuellen Vorabveröffentlichungen solcher Werke wird die Befangenheit für den Leser deutlich gekennzeichnet. Redakteure können ihre Bücher auf ihren persönlichen Profilseiten erwähnen. Diese Erwähnungen können auf begleitende Websites dieser jeweiligen Bücher oder Leseproben der jeweiligen Verlags-Site verlinkt werden, nicht jedoch zu Amazon oder anderen Shop-Seiten, auf denen das Buch gekauft werden kann. Bei der Besprechung von Büchern ehemaliger Redakteure von ZEIT ONLINE oder DIE ZEIT wird auf den Umstand ihrer früheren Redaktionszugehörigkeit hingewiesen.

g. Jede Nebentätigkeit von Redakteuren muss der Chefredaktion zur Genehmigung vorgelegt werden. Die Prüfung erfolgt unter den Kriterien möglicher Beeinflussung der Berichterstattung, einer möglichen Beschädigung der Marke ZEIT ONLINE sowie unter arbeits-ökonomischen Gesichtspunkten der Redakteure. Der Chefredakteur muss seine Nebentätigkeiten dem Verleger mitteilen.

h. Freie Mitarbeiter müssen Tätigkeiten in dem Journalismus nahen Bereichen — Marketing, PR — offen legen. Eine Tätigkeit in einem dieser Bereiche schließt in der Regel die redaktionelle Bearbeitung inhaltlich verwandter Themen bei ZEIT ONLINE für den Zeitraum eines Jahres nach Abschluss der jeweiligen Tätigkeit in Marketing und PR aus, wenn nicht in beiderseitigem Einvernehmen eine Regelung getroffen werden konnte, die eine Einflussnahme auf die Berichterstattung ausschließt.

2. QUALITÄTSSICHERUNG

a. Jeder auf ZEIT ONLINE erscheinende Text wird außer vom Autor noch von mindestens einer weiteren Person auf sachliche und stilistische Qualität überprüft und anschließend von einem Korrektor bzw. Schlussredakteur auf Rechtschreibung überprüft. Die Verantwortung für die Richtigkeit von Daten und Fakten verbleibt beim Autor bzw. dem im Impressum als „verantwortlich“ genannten.

b. Bei berechtigter Kritik durch Online-Leser an einem Text aus der Redaktion von ZEIT ONLINE melden sich Online-Redakteure im Kommentar-Thread unter ihrem Artikel selbst zu Wort. Faktische Fehler werden dabei in folgender Weise berichtigt:

  • Korrektur der betreffenden Textstelle
  • Ein Hinweis unter dem Text, dass korrigiert wurde.
  • Sofern geboten: Im Kommentarthread eine Antwort an den jeweiligen Leser, die seinen Hinweis anerkennt.

Inhaltliche Fehler online nur stillschweigend auszubessern, ist nicht akzeptabel.

3. BEZIEHUNG ZU ANZEIGENKUNDEN

a. Anzeigenkunden haben keine Möglichkeit, den redaktionellen Inhalt zu beeinflussen. Einzelne Themen tauchen zwar durchaus auch aufgrund möglicher Anzeigenerlöse in ihrem jeweiligen Umfeld auf, potenzielle Inserenten haben jedoch keine Möglichkeit, auf Umfang, Art und Urteil der Berichterstattung Einfluss zu nehmen.

b. Kein Anzeigenkunde kann durch die Drohung, Aufträge zu stornieren, kritische Berichterstattung verhindern. Droht ein Anzeigenkunde damit, wird die Redaktion diesen Vorgang veröffentlichen.

c. Anzeigen mit journalistisch wirkenden Inhalten (zum Beispiel Anzeigen-veröffentlichungen/ Advertorials) müssen sich in der Darstellung vom Layout der redaktionellen Inhalte von ZEIT ONLINE so offensichtlich unterscheiden, dass keine Verwechslung möglich ist. Dies betrifft zum Beispiel Schrifttype oder Linkfarbe. Online-Advertorials müssen stringent als „Anzeige“ gekennzeichnet sein. Eine Benennung als „Spezial“, „Verlagsbeilage“ oder „Sonderveröffentlichung“ darf nicht vorkommen.

d. Die Details der auf ZEIT ONLINE einzusetzenden Werbemittel sind in der zwischen Chefredaktion und Verlagsgeschäftsführung regelmäßig definierten Werbemittelkonvention geregelt.

4. VERHÄLTNIS ZU KOMMERZIELLEN PRODUKTEN IM EIGENEN HAUS

a. Kommerzielle Produkte des Verlages werden im redaktionellen Teil nicht besprochen. Beworben werden sie durch Anzeigen. Ausnahmen bilden Non-Profit-Produkte des Verlages.

b. Veranstaltungen, die der Verlag ausrichtet, werden in aller Regel im redaktionellen Teil ZEIT ONLINE nicht besprochen. Wertende Berichterstattung dazu findet grundsätzlich nicht statt. Eine dokumentierende Wiedergabe als Video ist möglich und liegt im Ermessen der Redaktion.

c. Geschäftspartner, die Veranstaltungen, Produkte oder andere Aktivitäten des Verlages unterstützen, haben keinerlei Einfluss auf die redaktionelle Berichterstattung.

e. Für journalistische Produkte im Bereich von Corporate Publishing (Tempus Corporate GmbH) dürfen Redakteure und feste freie Mitarbeiter nicht aktiv werden. Freie Mitarbeiter von ZEIT ONLINE müssen ihre Mitarbeit im Corporate Publishing offen legen — und sind daraufhin im entsprechenden Themenbereich als Autoren von ZEIT ONLINE für ein Jahr nach Abschluss der jeweiligen Tätigkeit im Corporate Publishing gesperrt.

5. Der Code of Ethics ist eine freiwillige Selbstverpflichtung.

Etwaige Verstöße dagegen ziehen keine arbeitsrechtlichen Konsequenzen nach sich. Davon ausgenommen sind Verstöße gegen Pflichten, die sich bereits aus dem Arbeitsverhältnis der jeweiligen Kollegin/des jeweiligen Kollegen ergeben.

Das scheinen mir Richtlinien mit vielen vorbildlichen und brauchbaren Regeln zu sein. Es ist mir ein Rätsel, warum man sie quasi geheim halten wollte.

Allerdings könnte man angesichts des Wortlautes auch noch einmal fragen, warum sich „Zeit Online“ von Moritz Gathmann trennen musste. Der freie Journalist hatte, wie berichtet, für eine vom Kreml mitfinanzierte Zeitungsbeilage gearbeitet. Er hat diese Arbeit aber jetzt beendet. Unter Punkt 1h heißt es im Kodex, dass eine solche Tätigkeit „in der Regel“ die Bearbeitung ähnlicher Themen bei „Zeit Online“ ausschließe. Die folgende Sperre gelte nur, „wenn nicht in beiderseitigem Einvernehmen eine Regelung getroffen werden konnte, die eine Einflussnahme auf die Berichterstattung ausschließt“.

Jochen Wegner hatte es dagegen so dargestellt, als hätte es keinerlei Entscheidungsspielraum gegeben.

Kurzer Prozess: „Zeit Online“ und der geschasste 150-Euro-Reporter

Unter den Artikeln, die der freie Journalist Moritz Gathmann für „Zeit Online“ über die Ukraine geschrieben hat, steht seit kurzem folgender Hinweis:

Offenlegung: Der Autor arbeitet für die vom russischen Staat mitfinanzierte Zeitungsbeilage Russland heute. Dies entspricht nicht unseren Grundsätzen. Wir entschuldigen uns dafür.

Testfrage: Wofür genau entschuldigt sich „Zeit Online“?

Man würde annehmen, dass Leute, deren Beruf es ist, mit Sprache umzugehen, es schafften, eine solche Offenlegung klar zu formulieren. Aber vermutlich ist das im konkreten Fall keine Frage des Könnens, sondern des Wollens.

„Zeit Online“ hat an den Texten von Moritz Gathmann nichts auszusetzen. Markus Horeld, der stellvertretende Chefredakteur, sagte gegenüber dem Mediendienst „Newsroom“: „Wir waren mit seinen Beiträge[n] sehr zufrieden.“

Nicht zufrieden ist „Zeit Online“ damit, dass Gathmann außer für „Zeit Online“ auch für „Russland heute“ gearbeitet hat, ein deutschsprachiges Monatsmagazin, das der „Süddeutschen Zeitung“ beiliegt, vom Kreml finanziert wird und die Aufgabe hat, das angeblich „einseitige Bild“ Russlands in den ausländischen Medien zu korrigieren.

Dass Gathmann für „Russland heute“ gearbeitet hat, war kein Geheimnis. Es stand auf seiner Internetseite. (Vor allem habe er Texte redigiert und über eher unverfängliche Themen berichtet, sagt er.) „Zeit Online“ hat sich dafür wohl nicht interessiert, bis David Schraven sich darüber beschwert hat.

David Schraven leitet das Ressort „Recherche“ bei der Funke-Mediengruppe („WAZ“), er sitzt im Vorstand von „Netzwerk Recherche“ und er hat, was womöglich nicht ganz unwesentlich ist, eine andere Meinung zu den Vorgängen in der Ukraine als Gathmann. „Eher voreingenommen und gefärbt“, nennt er dessen Artikel.

Er fand einen Weg, sehr schnell etwas dagegen zu tun. Am Samstag um 17 Uhr twitterte er Jochen Wegner an, den Chefredakteur von „Zeit Online“:

diverse Sichtweisen in der Zeit sind gut. Aber es wär besser zu sagen, dass Moritz Gathmann für Russlands Propagandadienst schafft

Wegner ist zwar gerade in den USA auf einer Konferenz, antwortete aber eine Stunde später:

Ja, wir diskutieren dies gerade (auch aus anderen Gründen). Ich melde mich in spätestens 2h.

Es dauerte kaum mehr als eine Stunde, bis Wegner schnell mal geklärt hatte, dass die Zusammenarbeit mit dem freien Autor (an dessen Texten für „Zeit Online“ man, wie gesagt, nichts auszusetzen hat) mit sofortiger Wirkung beendet wird, was er ebenfalls auf Twitter bekanntgab.

So zügig geht das heute, dank Twitter, auch am Wochenende, auch aus der Ferne, wer wollte da bis zum folgenden Montag abwarten, um womöglich ein Gespräch mit dem betroffenen und eigentlich respektierten Autor abzuwarten?

David Schraven fand’s jedenfalls super so. „Danke“, twitterte er Wegner zurück, und lobte die unkomplizierte Ruck-Zuck-Trennung auf Facebook als „gut und bewundernswert“. Na, von so einem Mann möchte man doch gerne seine Interessen als Journalist vertreten lassen.

Nun räumt Gathmann selbst ein, dass die Arbeit für ein Medium, das vom russischen Staat mitfinanziert wird, problematisch war — jedenfalls in der aktuellen politischen Situation und „angesichts der immer stärker werdenden medialen Polarisierung aufgrund der Ukraine-Krise“. Er hat diese Arbeit jetzt beendet.

Warum war das nicht die Lösung: Gathmann arbeitet nicht mehr für „Russland heute“ und dafür weiter für „Zeit Online“? Weil dessen Ethik-Kodex das angeblich nicht erlaubt. „Unsere Grundsätze sehen eine Übergangszeit von mehreren Monaten vor“, antwortet mir Markus Horeld. „Heißt: Ein Autor kann erst nach einer gewissen Zeit wieder für uns über ein Thema schreiben, für das er zuvor PR o.ä. gemacht hat.“

Es geht also nur und ausschließlich ums Prinzip. „Zeit Online“ hat es vorher verschlafen, sich darum zu kümmern, ob der Reporter den Verhaltenskodex erfüllt, erzwingt diesen Verhaltenskodex aber im Nachhinein gnadenlos. Gathmann sagt übrigens, er habe von diesem Kodex und seinen Vorgaben, denen seine Arbeit für „Russland heute“ widersprach, nichts gewusst.

„PR o.ä.“ ist übrigens in diesem Fall eine treffend vage Beschreibung. Hat Gathmann wirklich PR für Russland gemacht? Das soll keine rhetorische Frage sein, sondern eine offene — meiner Meinung nach liegt die Antwort nämlich nicht auf der Hand.

Aber vielleicht bin ich da auch befangen, denn mir hat der „Spiegel“ vor ein paar Jahren vorgeworfen, als Medienjournalist für ein Magazin gearbeitet zu haben, das von ProSiebenSat.1 herausgegeben wird. Mir ist schon klar, dass die Fallhöhe und Brisanz in Gathmanns Fall um ein vielfaches größer sind, aber es geht „Zeit Online“ ja ums Prinzip, und das ist dann vielleicht doch vergleichbar.

Ich glaube im konkreten Fall unabhängig von der Frage, ob „PR“ der richtige Ausdruck ist, dass der Interessenkonflikt zu groß ist. Und dass es notwendig war, dass Gathmann nicht mehr für „Russland heute“ arbeitet. Aber solche und ähnliche Konflikte werden in Zukunft häufiger auftreten, nämlich zunehmend mit der abnehmenden Bereitschaft oder Fähigkeit unabhängiger Medien, Journalismus ordentlich zu bezahlen.

Gathmann formulierte es gegenüber „Newsroom“ so: „In gewisser Weise hat die Redakteursarbeit für Russland Heute mir auch erlaubt, mich in der übrigen Zeit mit ‚reinem‘, aber schlecht bezahltem Journalismus zu beschäftigen.“

Konkret hat er für seine Texte von „Zeit Online“ offenbar den „Standardsatz“ für Texte von mehr als 5000 Zeichen bekommen. Das sind 150 Euro. Außerdem hat sich „Zeit Online“ offenbar an den Spesen beteiligt.

Gathmann will sich über diese Bezahlung gar nicht beklagen. „Wenn gerade Revolution ist“, hätten Journalisten und Experten wie er kaum Finanzierungsprobleme. Schwierig sei eher die Zeit zwischen den Krisen, wenn die Medien keinen besonderen Bedarf an Berichterstattung aus Russland oder der Ukraine haben. Da hilft natürlich, scheinbar, ein Auftraggeber wie „Russland heute“.

Matthias Dell hat im „Altpapier“ heute einen dazu passenden Text von Gemma Pörzgen zitiert, die vor einem halben Jahr in der „taz“ darüber schrieb, dass „deutsche Zeitungen immer weniger Wert auf den eigenen Korrespondenten und ein Büro in Moskau zu legen [scheinen]“. Wieviel günstiger so ein freier Journalist ist, kann man da erahnen, und im Zweifel ist man ihn auch innerhalb von zwei Tweets los.

Gathmann sagt, dass andere deutsche Medien weiter mit ihm zusammenarbeiten wollen.

Homophobie ist heilbar

Ist Ihnen schon mal aufgefallen, wie oft Heterosexualität zur Schau gestellt wird? Paare, die händchenhaltend flanieren; Kolleginnen, die auf der Arbeit von ihrem Freund erzählen; Politiker, die auf Wahlplakaten mit Frau und Kindern posieren; Tanten, die ihren Neffen fragen, ob er schon eine Freundin hat. Wenn Thomas Hitzlsperger aber nicht länger verheimlichen möchte, dass er sich zu Männern hingezogen fühlt; wenn lesbische, schwule, trans– und intergeschlechtliche Personen in der Schule berücksichtigt werden wollen, dann fühlen sich viele belästigt oder bedroht. In Leserkommentaren ist von »Modeerscheinung« die Rede, von »permanentem Outing«. Menschen, denen die Allgegenwärtigkeit von Heterosexualität gar nicht auffällt, wird es zu intim, selbst wenn es gar nicht um Sex geht.

Warum ist das so, woher kommt diese Abneigung? Vor allem drei Faktoren beeinflussen die Entstehung von Homophobie: rigide Geschlechternormen, eine fundamentalistische Religiosität und Unkenntnis.

Der Sozialpsychologe Ulrich Klocke hat auf „Zeit Online“ ein wunderbar entspanntes, erkenntnisreiches Stück über den Stand der Forschung geschrieben, warum Menschen Homosexualität ablehnen und was dagegen hilft. Unbedingt lesen!

Und dazu passend auch hier noch einmal verlinkt: Die bewegende Rede der irischen Drag Queen Panti Bliss (alias Rory O’Neill) über die Allgegenwart von Schwulenfeindlichkeit. (Mehr über die Vorgeschichte hier.)

Wolfgang Blau: Auch das schärfste Urheberrecht würde den Verlagen nicht helfen

„Das Leistungsschutzrecht war eine Machtprobe für den Springer-Verlag, und Springer hat gewonnen.“ So hat es Wolfgang Blau, der Chefredakteur von „Zeit Online“, in einer Keynote formuliert, die er am 31. August bei einer Urheberrechts-Fachtagung von Bündnis 90/Die Grünen hielt. Er erläuterte, warum das geplante Gesetz nicht nur nicht hilfreich, sondern schädlich ist. Er forderte von Politikern den Mut, offen auszusprechen, dass infolge der Digitalisierung „ganze Branchen und ganze Berufszweige verschwinden werden“. Und er plädierte dafür, sich mit den heute kaum noch nachvollziehbaren Argumenten zu beschäftigen, mit denen frühere umwälzende Technologien wie der Buchdruck und die Eisenbahn bekämpft wurden.

Ich möchte dazu beitragen, dass diese bemerkenswerte Rede möglichst große Verbreitung findet, und dokumentiere sie hier mit freundlicher Unterstützung und Genehmigung von Wolfgang Blau:

Urheberrecht, Internet, Eisenbahn und Buchdruck

Worüber ich mit Ihnen heute reden will, ist etwas, das mir nun schon seit mehreren Jahren auffällt: Wie hitzig und geradezu verbittert der Streit um das Urheberrecht ausgetragen wird und wie oft es dabei gar nicht ums Urheberrecht geht, sondern um viel Grundlegenderes, um ein grundsätzliches Unbehagen gegenüber dem Netz und sogar um die Frage nach persönlicher Identität. Fragen wie: „Wer bin ich als Schriftsteller, wenn jeder sich als Autor bezeichnen und jeder publizieren kann?“ oder „wer sind wir eigentlich noch als Verleger und als Journalisten, wenn zum Beispiel soziale Netzwerke fast beiläufig — wie etwa in den ersten Fukushima-Nächten oder während der Frühphase der arabischen Revolutionen im letzten Jahr — genuin journalistische Funktionen übernehmen?“

Auch in den meisten meiner Diskussionen mit Befürwortern des Leistungsschutzrechtes geht es erstaunlich selten um das Urheberrecht und die angebliche Schutzlücke darin. Stattdessen höre ich regelmäßig Aussagen wie: „Ja, kann durchaus sein, dass uns ein Leistungsschutzrecht finanziell überhaupt nichts bringen wird oder sogar einen Imageschaden bei netzaffineren Lesern verursacht, aber man muss doch jetzt mal ein Zeichen setzen!“

Ein Zeichen wofür? (mehr …)