Autor: Stefan Niggemeier

Im Fernsehen wird nicht gestorben

Ich habe eigentlich gar keine Zeit, das jetzt aufzuschreiben, fürchte aber, dass mein Mund vorher nicht wieder zuklappt. Die Kollegin Antje Hildebrandt berichtet auf „Welt Online“ über die „Popstars“-Folge von gestern, die soviel (zumeist unberechtigten) Wirbel ausgelöst hat.

Während der Dreharbeiten zu der Casting-Show ist die Mutter einer Kandidatin unerwartet gestorben. Die Kameras sind, anders als eine Schwesterzeitung der „Welt“ behauptet hatte, nicht dabei, als sie diese Nachricht bekommt. Die Sendung zeigt das Mädchen auch hinterher nicht, sondern nur die Hilf- und Fassungslosigkeit der anderen.

Frau Hildebrandt meint, dass das verboten sein müsste.

Was machen die Produzenten einer Casting-Show, wenn die Mutter einer Kandidatin plötzlich stirbt? Pro Sieben baute das persönliche Unglück einer ihrer Kandidaten in die Dramaturgie mit ein. Ein unerträglicher Faux pas, der ein rechtliches Nachspiel haben sollte.

Bevor Frau Hildebrandt sich damit beschäftigt, was da im Fernsehen zu sehen war, erklärt sie uns, was das überhaupt ist, so ein „Tod“:

[Der Tod] ist die Antithese der Show. Er konfrontiert uns mit der Erkenntnis, dass das Leben kein Selbstbedienungsladen ist. Am Ende schnurren alle Sonderangebote auf zwei Optionen zusammen: On oder Off. Sein oder Nichtsein.

(Nehmen Sie sich eine Minute, um über dieses Bild nachzudenken.)

Sie meint dann, dass ProSieben die Trauer der anderen Mädchen auf gar keinen Fall hätte zeigen dürfen: „Das gebietet schon der Respekt vor den Gefühlen der Familie von Victoria.“ Darüber kann man natürlich streiten. Ich hätte es wesentlich zynischer gefunden, auf diese paar Minuten Kitsch zu verzichten, die ein Abschied von Victoria waren, und unmittelbar zur Tagesordnung zurück zu kehren.

Dann zitiert Hildebrandt die wohlfeilen Kritiker, die sich (vermutlich ohne die Sendung gesehen zu haben) vorab empörten, und nennt es eine „Ironie des Schicksals“, dass „ausgerechnet die Kritik an der Sendung zur PR“ wurde:

Any motion is promotion.

Das ist eine anscheinend selbst erfundene Redensart, die die Kollegin so sehr mag, dass sie sie nun schon zum dritten Mal in eine ihrer Fernsehkritiken eingebaut hat (zuvor über „Wetten dass“ und die Dschungelshow).

Über die Pressemitteilung, mit der ProSieben der Falschmeldung der „Bild“-Zeitung widerspricht, schreibt Hildebrandt schließlich:

Das Dementi ist die makabere Schlusspointe einer Geschichte, von der man nur hoffen kann, dass sie ein Nachspiel vor Gericht haben wird.

Vielleicht kann ProSieben ja den Tod verklagen.

[Auf ProSieben.de kann man sich die Folge noch eine Woche ansehen. Die umstrittene Szene beginnt ungefähr ab 16.00.]

„Blogging is writing out loud“

Andrew Sullivan hat im „Atlantic“ einen in jeder Hinsicht großen Artikel über das Bloggen veröffentlicht — über seine ganze eigene Art, das Medium und seine Möglichkeiten zu nutzen, und das Bloggen an sich:

(…) From the first few days of using the form, I was hooked. The simple experience of being able to directly broadcast my own words to readers was an exhilarating literary liberation. Unlike the current generation of writers, who have only ever blogged, I knew firsthand what the alternative meant. I’d edited a weekly print magazine, The New Republic, for five years, and written countless columns and essays for a variety of traditional outlets. And in all this, I’d often chafed, as most writers do, at the endless delays, revisions, office politics, editorial fights, and last-minute cuts for space that dead-tree publishing entails. Blogging—even to an audience of a few hundred in the early days—was intoxicatingly free in comparison. Like taking a narcotic.

It was obvious from the start that it was revolutionary. Every writer since the printing press has longed for a means to publish himself and reach—instantly—any reader on Earth. Every professional writer has paid some dues waiting for an editor’s nod, or enduring a publisher’s incompetence, or being ground to literary dust by a legion of fact-checkers and copy editors. If you added up the time a writer once had to spend finding an outlet, impressing editors, sucking up to proprietors, and proofreading edits, you’d find another lifetime buried in the interstices. But with one click of the Publish Now button, all these troubles evaporated.

Alas, as I soon discovered, this sudden freedom from above was immediately replaced by insurrection from below. Within minutes of my posting something, even in the earliest days, readers responded. E-mail seemed to unleash their inner beast. They were more brutal than any editor, more persnickety than any copy editor, and more emotionally unstable than any colleague. (…)

Sullivan ist eine faszinierende Persönlichkeit: Er ist konservativ und schwul, legt sich mit christlichen Fundamentalisten an und mit fanatischen Atheisten, war 2000 für George W. Bush und 2004 gegen ihn, hasst Hillary Clinton und verachtet Sarah Palin … Ich merke, es klingt lächerlich banal, wenn ich das so aufschreibe. Lesen Sie sein Blog „The Daily Dish“. Ach so, und den Artikel natürlich:

Andrew Sullivan: Why I Blog.

[via Medienlese]

Obama wird zu 95,1 Prozent US-Präsident

Als Kind haben mir meine Eltern einmal den Frankfurter Flughafen gezeigt, und ich war begeistert. Nicht von den Flugzeugen, die waren mir völlig egal, von der großen Anzeigetafel. Am liebsten hätte ich stundenlang nur dagestanden und den Buchstaben- und Zahlenplättchen beim Klackern zugesehen.

Später verbrachte ich die Wahlabende aufgeregt vor dem Fernseher und versuchte (in einer besonders traurigen Phase meiner Kindheit) auf meinem VC-20 die Säulen- und Kuchendiagramme mit den Prognosen, Hochrechnungen und Sitzverteilungen nachzubauen, die mich mehr interessierten als alles andere.

So gesehen ist es ein großer Fortschritt, wenn ich meine merkwürdige Leidenschaft für Statistiken heute auslebe, indem ich mich nächtelang durch Seiten mit Daten zur amerikanischen Präsidentschaftswahl wühle. Sie machen aus dem Prozess gleich einen doppelten Wettlauf: den der Kandidaten um den Sieg, aber auch den einer Vielzahl konkurrierender Beobachter, die ununterbrochen um die Wette versuchen, Zwischenstände zu messen und daraus Prognosen auf den Ausgang des Rennens abzugeben. Aber sie bieten auch einen faszinierenden Zugang, um das Land und sein politisches System, die Strategien und ihre Erfolge und Misserfolge zu verstehen.

Die Seite „Real Clear Politics“ bietet eine wunderbar übersichtliche Art, den Wahlkampf zu verfolgen. Sie verlinkt auf der Startseite mit knappsten Überschriften auf Kommentare und Analysen in den Medien — auf staatstragende Kommentare ebenso wie auf lesenswerte Extremmeinungen von rechts oder links. Dazu trägt sie den Wust der Meinungsumfragen zusammen, berechnet einen Durchschnitt und bastelt daraus Kurven und Karten — wie diese über die Entwicklung im Duell Obama gegen McCain seit einem Jahr:

Knapp acht Prozentpunkt Vorsprung sind eine Menge, und noch bemerkenswerter ist die Tatsache, dass Obamas Momentum gar nicht aufzuhören scheint. Aber entscheidend ist aufgrund des amerikanischen Wahlsystems, in dem Wahlmänner blockweise nach Bundesstaaten abstimmen, eine andere Grafik. Und die ist noch ermutigender für Obama:

Sie besagt, dass selbst wenn John McCain alle Bundesstaaten, in denen es gerade knapp ist, am Ende für sich entscheiden können sollte, Barack Obama trotzdem genug Wahlmänner-Stimmen bekäme (270), um Präsident zu werden.

Der Blick auf die Entwicklung in den einzelnen Bundesstaaten zeigt deutlich, wie sehr die Stimmung gegen McCain umgeschlagen ist. (Und viele Statistiken deuten darauf hin, dass es nicht nur an der Finanzkrise liegt, sondern auch an seinem Wahlkampf und der Entscheidung für Sarah Palin, die bei Hardcore-Republikanern ankommt, aber moderate Wähler abzuschrecken scheint.)

Pollster.com, eine andere Seite, die Umfragen sammelt und auswertet, ermöglicht es sogar, die Statistiken auf der eigenen Seite einzubinden. Dies ist die Entwicklung in Florida (Sie erinnern sich):

Und so sieht es in Ohio aus, einem anderen Staat, den John McCain einfach gewinnen muss:

Nate Silver ist jemand, der noch einen viel schlimmeren Statistik-Fetisch haben muss als ich. Er hat sich einen Namen in der Baseball-Welt gemacht, indem er Daten über Spiele so gut auswertete, dass er besser als die meisten anderen die Ergebnisse vorhersagen konnte. Seit einigen Monaten nutzt er seine Leidenschaft, sein Talent und seine Erfahrung, um die Umfragen zur Wahl und den Vorwahlen auszuwerten — mit erstaunlicher Detailliebe und mit beeindruckendem Erfolg.

FiveThirtyEight.com heißt seine Seite (538 ist die Zahl der Wahlmänner). Aktuell sagt er auf der Grundlage der diversen Umfragen und eigener Modelle, die u.a. die Entwicklung vergangener Wahlkämpfe berücksichtigen, voraus, dass Obama mit einer Wahrscheinlichkeit von 95,1 Prozent die Wahl gewinnen wird. Am wahrscheinlichsten sei es, dass Obama mit 369, 338, 375, 386 oder 364 electoral votes bekommen werde (wie gesagt: nötig für einen Sieg sind 270). Silver hat für seine Hochrechnung die einzelnen Umfrageinstituten auch noch unterschiedlich gewichtet — je nach Treffsicherheit in der Vergangenheit.

Silver (der selbst Demokrat ist) wirft „Real Clear Politics“ übrigens vor, die Statistiken zugunsten der Republikaner zu manipulieren — und begründet das ausführlich. Interessant ist auch ein Beitrag, in dem er berichtet, warum das Umfrageinstitut Selzer & Co. glaubt, dass Obama besser abschneiden wird, als die meisten Konkurrenten glauben: Ann Selzer meint, dass sie die Wahlbeteiligung der jungen Wähler und der schwarzen Wähler systematisch unterschätzen.

Jenseits der Prognosen und Umfragen stellt FiveThirtyEight.com auch alle Staaten mit ihren demographischen und kulturellen Faktoren vor, die für den einen oder anderen Kandidaten sprechen. Das hier sind zum Beispiel die Angaben zu Florida:

Je größer die roten Balken, desto mehr sprechen die Daten für die Republikaner; je größer die blauen, desto mehr müsste es ein Faktor für die Demokraten sein. Florida ist also der Bundesstaat mit dem höchsten Anteil älterer Bürger; der Anteil der Waffenbesitzer ist aber relativ gering. Faszinierend ist auch ein Währung wie das Verhältnis von Starbucks- zu Walmart-Filialen. Je höher der Wert, desto größer sollen die Chancen des liberalen Obama sein.

Und alle, denen diese ganzen Daten und Analysen immer noch nicht genug sind, können sich die Zeit auf 270toWin.com vertreiben und die Ergebnisse aller Präsidentschaftswahlen seit 1789 ansehen. Damals gewann übrigens ein gewisser George Washington.

Die Finanzkrise erklärt

Endlich habe ich verstanden, was da passiert ist mit dem Immobilienmarkt in den Vereinigten Staaten. Dank der britischen Satiriker John Bird und John Fortune:


(Der Auftritt der beiden in der „South Bank Show“ ist übrigens über ein Jahr alt. Und die „South Bank Show“ läuft übrigens auf dem britischen Privatsender ITV. Was für eine abwegige Vorstellung, dass das deutsche Gegenstück RTL jemals etwas zeigen könnte, das gleichzeitig so relevant, klug und lustig ist.)

[via Delphine Hauen, Retroaktiv.de]

Alltag im Irak

Ich kann mir nicht vorstellen, was es bedeutet, in Bagdad oder überhaupt im Irak zu leben. Was für eine Art Alltag sich entwickelt zwischen der Bedrohung durch Terroristen und Aufständische und der Willkür durch amerikanische Besatzer. Was Normalität bedeutet zwischen den besonders verheerenden Anschlägen, die es in unsere Nachrichten schaffen.

Eine Gruppe von irakischen Journalisten, die für den großen amerikanischen Zeitungsverlag McClatchy arbeitet, schreibt solche Geschichten auf, in dem Blog „Inside Iraq“.

Sie berichten, wie in dem Bus, der plötzlich eine andere Route nimmt und durch ein gefährliches Viertel Bagdads fährt, die Passagiere anfangen zu diskutieren, ob Frauen, alte Leute und Kinder sich auch Sorgen machen müssen oder nicht. Wie Autobomben dafür sorgen, dass Leute plötzlich, ganz banal, im Stau stecken und zu spät zur Arbeit kommen, was aber nicht schlimm ist, weil alle anderen auch im Stau stecken und zu spät zur Arbeit kommen. Und wie amerikanische Soldaten, wenn sie wollen, sich einfach alles erlauben können:

About 5:40 on Saturday afternoon; the Iraqi security forces blocked the main street of Jadiriyah neighborhood because one of the Iraqi officials was passing through. The drivers were waiting for the convoy to pass. While they were waiting, a US military convoy came from behind. The driver of the first humvee saw the real long of the stooped cars and I’m sure he knows for sure they stooped because the street was blocked. Yet; he didn’t stop. He used the horn and he kept hitting a sedan Mercedes in front of his humvee. The driver of the Mercedes took his hand out of the car and waved to the humvee driver as if he was telling him to stop hitting the car because the man doesn’t have any choices but the American soldier kept hitting the car. He kept doing that for more than three minutes. I was on the other side of the street trying to get a taxi to go home. I left the street while the American soldier was enjoying hitting and bothering the poor Iraqi man who could do nothing because he knows for sure that he might be killed if he thought about going out of his car and tried to ask the soldier to stop. No one would even blame the US soldier if he killed him and simply the poor man would be considered a TERRORIST who tried to kill the innocent poor American liberator. The principle of the US soldier is (Im the one who has the gun. SO; I’m above law.)

Ihre Schilderungen machen das Grauen ein bisschen begreifbarer.

McClatchy: Inside Iraq

[via Buchstaben in Bewegung]

Klickstrecken-Innovation bei Spiegel Online

„Spiegel Online“ scheint den Tod von Jörg Haider dafür zu nutzen, eine neue (zumindest mir bisher unbekannte) Form der Klickstrecke auszuprobieren.

Fast sämtliche aktuellen Artikel von „Spiegel Online“ über Haider, insgesamt sechs, tun am Ende so, als würden sie noch weitergehen. Die folgenden Teile sind aber bei allen identisch: Es handelt sich nur um eine Klickstrecke mit Zitaten Haiders.

Konkret sieht das so aus (beachten Sie die jeweils wechselnde Überschrift des ersten „Teils“):






Womöglich lohnt sich das zur Aufblähung der Klickzahlen schon durch die Zahl der Leser, die nur versehentlich darauf klicken, weil sie denken, der eigentliche Artikel gehe noch weiter.

[via Jörg-Olaf]

Vorschlag zur Güte

  • Marcel Reich-Ranicki verspricht, keine weiteren Interviews zum Thema Fernsehen mehr zu geben.
  • Die Fernsehverantwortlichen versprechen, keine Varianten der Aussage „Natürlich gibt es ein Qualitätsproblem — bei den anderen“ mehr zu wiederholen.
  • Wir versprechen, am Freitagabend die Sendung „Zwei Blinde reden über die Farbe“ „Aus gegebenem Anlass“ zu gucken.
  • Und gehen spätestens am Sonntagmittag wieder zur Tagesordnung über.

(Ach, und falls Sie sich fragen, wie ein Medium wie sueddeutsche.de, das sich mit Qualität ja auskennt wie kaum ein zweites, eine solche Qualitätsdebatte aufgreift — exakt so, wie Sie sich das denken würden.)