Es gibt Meldungen, die sind auf eine furchtbare Art perfekt. Die (falsche) Geschichte von dem Jungen, der in Sebnitz von rechtsradikalen Jugendlichen im Schwimmbad ertränkt wurde, war so eine. Sie ließ die beunruhigende Entwicklung neonazistischer Gewalt in Ostdeutschland mediengerecht in einen einzigen Fall kondensieren, der dazu noch die schlimmsten Befürchtungen übertraf, und taugte als Aufhänger für Leitartikel, in denen es nicht um diesen Fall ging, diese Stadt, sondern um das Große und Ganze.
Das Geschehen an einem Strand in Neapel, an dem die Menschen unbeeindruckt von den Leichen zweier Roma-Kinder ihrem Urlaubsvergnügen nachgehen, ist auch so eine Meldung. In einem einzigen Bild scheint die ganze Menschenfeindlichkeit des Umgangs der Italiener mit den Roma geronnen, der alltägliche Hass auf die Fremden, eine Pogrom-Stimmung, teils geschürt, teils ausgenutzt von einer skrupellosen Regierung.
Die beiden Mädchen Cristina und Violetta sollen am Strand von Torregaveta gebettelt oder Tand verkauft haben. Sie gingen ins Wasser, wurden von hohen Wellen erfasst und gegen Felsen gespült. Sie ertranken, obwohl Rettungsschwimmer versuchten, ihnen zu helfen.
Eine Stunde lang lagen ihre Körper, notdürftig mit Handtüchtern bedeckt, im Sand, bevor die Leichen in Särgen abtransportiert wurden. Eine Stunde, in der die Menschen in der Nähe einfach weiter die Sonne genossen.
Es gibt Augenzeugenberichte von der Situation, aber eigentlich scheint ein Foto schon die ganze Geschichte zu erzählen. Es zeigt die beiden zugedeckten Leichen und im Hintergrund, unscharf, ein Ehepaar, das offenbar zum Sonnenbaden gekommen und nicht wieder gegangen ist.
Das Foto war in Medien auf der ganzen Welt zu sehen. Man weiß nicht, ob es Italiener sind, die da im Hintergrund sitzen, und man sieht nicht, ob sie gaffen oder die Stirn runzeln, unbeeindruckt oder schockiert sind. Und trotzdem symbolisiert das Foto perfekt die Verachtung der Italiener für die Roma. Es wirkt, schrieb die „taz“, wie eine Metapher, die das Verhältnis zweier Völker zueinander auf plakative Weise illustriert.
Der Kardinal von Neapel sagte, die Bilder seien für seine Stadt beschämender als jene von den Müllbergen in den Straßen. Das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge protestierte. „Herzlos!“, titelte der Kölner „Express“. Der britische „Independent“ überschrieb seinen Artikel mit „The picture that shames Italy“. Und die gleichnamige irische Zeitung fand für ihre Schlagzeile ein gruseliges Wortspiel: „Italian beach culture is usually so body conscious. But not this time…“ („body“ bedeutet im Englischen nicht nur „Körper“, sondern auch „Leiche“).
Die Empörung der Welt ist nicht unberechtigt. Aber sie ist wohlfeil. Eine einzelne Situation am Strand hat plötzlich das Urteil über den Umgang der Italiener mit den Roma ganz einfach gemacht. Selbst die „Daily Mail“, eine britische Tageszeitung, die sonst mit großer Leidenschaft und Ausdauer Vorurteile gegen Zigeuner in Großbritannien schürt und bedient, konnte sich in einem langen Artikel schockiert geben über den Rassismus der Italiener.
Torregaveta ist nicht Sebnitz. Die Menschen, die sich unweit der toten Roma-Mädchen gesonnt haben, hat es tatsächlich gegeben. Aber es lastet plötzlich extrem viel Gewicht an diesem Foto, es wird plötzlich extrem viel Grundsätzliches in diesen Einzelfall projiziert. Manchen Berichten liest man an, wie sie die dürren Fakten, die bekannt sind, zu maximalen Skandalen aufblasen — die Nähe der Urlauber zu den Leichen verkleinern und die Zeit, bis sie abgeholt wurden, vergrößern.
Und der Fotograf, der die Aufnahmen gemacht hat, scheint selbst erschrocken zu sein über ihre Wirkung und die Absolutheit ihrer Interpretation. Und er widerspricht ihr. Die Agentur AFP meldete am Freitag:
Die veröffentlichten Aufnahmen von gleichgültigen Badegästen neben den Leichen zweier ertrunkener Roma-Mädchen am Strand von Neapel geben nach Angaben des Fotografen die Situation nicht angemessen wieder. Er habe mehrere Bilder von dem Vorfall gemacht, nicht auf allen seien nur ungerührte Menschen zu sehen, sagte der Fotograf Alessandro Garofolo der Nachrichtenagentur AFP. Er habe auch Menschen abgelichtet, die offensichtlich bestürzt gewesen seien oder beim Tragen der Särge geholfen hätten. (…)
„Auf dem Foto, das von ausländischen Zeitung[en] ausgewählt wurde, scheinen alle gleichgültig zu sein“, sagte der 30-Jährige, der für die Mailänder Tageszeitung „Il Mattino“ arbeitet. „In der Tat verhielt sich nur etwa die Hälfte der anwesenden Menschen so, als sei nichts passiert, viele halfen oder verließen den Strand nach dem Unfall.“ Auch hätten mehrere Strandgäste versucht, die beiden Mädchen aus dem Wasser zu retten. Zudem wirkten die gleichgültig sonnenbadenden Urlauber durch das verwendete Kameraobjektiv näher an den Leichen, als sie es in Wirklichkeit gewesen seien, sagte Garofolo weiter. (…)
Garofolos Einwände haben natürlich keine große Verbreitung mehr gefunden. Der Medienzirkus ist längst weiter gezogen. Dabei sind sie eine gute Warnung, solchen scheinbar perfekten Meldungen und Bildern nicht zu sehr zu trauen. Gerade weil es so leicht ist, in sie eine allgemeine Wahrheit hineinzulesen, die weit über ihre tatsächliche Aussage hinausreicht, wo schon deren Wahrheit zweifelhaft ist.
Warnende Stimmen, die Bilder nicht überzuinterpretieren, gab es von Anfang an. Aber die kamen natürlich nicht an gegen die Macht der Fotos und ihrer scheinbar schlichten Botschaft. Natürlich kann man darin auch etwas Positives sehen: Dass auf diese Weise die unbestreitbare und erschreckende Eskalation im Umgang mit der Roma-Minderheit in Italien die mediale Aufmerksamkeit bekommen hat, die sie verdient. Aber der Gedanke, dass das womöglich nur mit solchen medialen Kurzschlüssen gelingt, ist auch kein beruhigender.
PS: Die Leute vom Online-Auftrittes der „Rheinischen Post“ waren übrigens die vermutlich einzigen weltweit, denen das Bild nicht dramatisch genug war. RP-Online zeigt stattdessen einfach einen anderen Strand:

Nachtrag, 29. Juli. RP-Online hat das Foto entfernt und erklärt: „Wir sind nicht wahnsinnig. Wir sind einfach nur unfähig.“ (Okay, nicht wörtlich.)