Autor: Stefan Niggemeier

sid beruft Olympia-Mann ab

Der Sport-Informations-Dienst (sid) hat seinen Redaktionsleiter Dieter Hennig abberufen. Das hat sid-Geschäftsführer Michael Cremer gegenüber dem Journalisten Jens Weinreich bestätigt. Weinreich berichtet, dass es in der sid-Redaktion „härtere Auseinandersetzungen um die Berichterstattung und den Kurs von Hennig“ gegeben haben soll. Geschäftsführer Cremer wollte das nicht bestätigen, sagte laut Weinreich aber:

„Wir müssen in Peking differenziert berichten und dürfen uns nicht nur auf den rein sportlichen Aspekt beschränken. Wir dürfen nicht in so eine Hurra-Falle laufen.“

Die IOC-Berichterstattung wird von heute an aus dem Berliner Büro des sid geleitet. Dieter Hennig darf auf Vorschlag des IOC (ebenso wie vier andere Journalisten aus anderen Ländern) am Mittwoch in Peking die olympische Fackel tragen. Cremer sagte:

“Dieter Hennig wird als Privatmann am olympischen Fackellauf teilnehmen, aber nicht als Redaktionsleiter des sid.“

Der sid-Geschäftsführer fügte hinzu, „anders als unterstellt wurde“ habe es „keinen Zusammenhang zwischen der Berichterstattung des sid und dem Fackellauf von Dieter Hennig gegeben“. Hennig vertrete seine Linie seit Jahrzehnten.

Ich habe keinen Zweifel, dass das stimmt. Ich habe nie vermutet, dass Hennig vergangene Woche so IOC-freundlich (und falsch) berichtet hat, weil er für den Fackellauf nominiert wurde. Meine Vermutung ist, dass er für den Fackellauf nominiert wurde, weil er seit Jahrzehnten so IOC-freundlich berichtet hat. (Auch das ist allerdings eine Unterstellung.)

Weitere Informationen in Jens Weinreichs Blog.
Mehr zur Vorgeschichte hier und hier.

Von wegen, Blocks fehlt die Relevanz

Die Stadt Dinslaken erklärt in einer Pressemitteilung:

Dinslaken in den Medien
Selbstironie ist gefragt — auch Gelassenheit

Dinslaken/München/Frankfurt. Pünktlich zur Reisezeit erschien kürzlich in der renommierten Süddeutschen Zeitung (SZ) unter „Hippenstocks Strategien“ ein Cartoon: Vor der Rezeption eines offenbar überbuchten Hotels ein Ehepaar mit Koffern. Der Portier dahinter zu den Touristen: „In der ersten Woche teilen Sie Ihr Zimmer mit einem Ehepaar aus Dinslaken — ich denke, deshalb der Rabatt.“

In der aktuellen Ausgabe des Satiremagazins „Titanic“ geht es in einem anderen Cartoon auch um diese Stadt. Der hier geborene Lukas Heinser, derzeit in Bochum wohnend, befürchtet, durch die bundesweit kurz hintereinander verbreiteten Karikaturen sei Dinslaken in der Medienlandschaft offenbar „endgültig irgend so ein hinterwäldlerisches Kaff“ geworden.

Der junge Mann, der in seinem Block (www.coffeeandtv.de) gelegentlich aus und über seine Heimatstadt schreibt, teilte der Stadtpressestelle überdies mit, Wetterexperte Jörg Kachelmann und TV-Plauderer Roger Willemsen hätten sich lästernd über die Stadt im Grünen ausgelassen. Unter anderem soll Willemsen die Star-Sopranistin Sandra Schwarzhaupt gefragt haben, warum sie in New York und nicht zum Beispiel in Dinslaken studiert habe.

(Link zum Leseverständnis: Coffee And TV: „Mit ‚D‘ wie ‚Provinz'“.)

Die Peking-Enten des sid

Den ganzen Freitag, in nicht weniger als fünf Meldungen, verbreitet die Nachrichtenagentur Sport-Informationsdienst (sid) die exklusive Falschmeldung, China habe die „Internet-Zensur aufgehoben“. Während andere Journalisten und die Konkurrenz von dpa korrekt berichten, dass keine Rede davon sein konnte, dass China das Internet „komplett freigegeben“ habe, beharrt der sid auf seiner Ente, und sid-Redaktionsleiter Dieter Hennig lästert in einem Kommentar über die „Schnellschuss-Kommentatoren“, die das IOC wegen seiner nicht eingehaltenen Versprechen kritisieren.

Am Samstagmorgen räumt der sid seinen Fehler ein und zieht die falschen Meldungen mit folgendem Hinweis zurück:

Wir bedauern den Fehler und senden bis 14 Uhr MESZ einen neuen Situationsbericht, der die Lage angemessen wiedergibt.

Das ist offensichtlich nicht ernst gemeint.

Denn der „neue Situationsbericht“, den der sid um 12:52 Uhr über die Ticker schickt und der ebenfalls das Kürzel von Dieter Hennig trägt, überrascht mit der Überschrift:

Verbruggen: „Mehr erlaubt als zugesagt“
IOC würdigt weitere Lockerung der Internetzensur

Was für eine hübsche Idee, die negative Neuigkeit für sid-Abonnenten, dass es doch noch eine Internetzensur gibt, hinter einer positiven Formulierung zu verstecken. Vor allem aber: Eine weitere Lockerung? Vielleicht kann jemand bei Dieter Hennig oder dem sid nachfragen, was er damit meint. Sein Text verrät es nicht.

Auch in anderen Medien, die nicht vollauf damit beschäftigt sind, das IOC und die chinesischen Organisatoren im besten Licht dastehen zu lassen, ist zu diesem Zeitpunkt von „weitergehenden“ Aufhebungen der Zensur die Rede — aber als Forderung, nicht als Tatsache.

Nach einer Pressekonferenz von IOC-Präsident Jacques Rogge berichtet dpa:

Rogge rudert zurück: Nur noch «größtmöglichen» Internet-Zugang

Peking (dpa) – In der Kontroverse um die chinesische Internet- Zensur ist IOC-Präsident Jacques Rogge von seinem Versprechen eines «freien und unzensierten» Zugangs bei den Olympischen Spielen zurück gerudert. Auf seiner ersten Pressekonferenz in der Olympia-Stadt Peking machte der Belgier am Samstag deutlich, dass es nur noch um «größtmöglichen» Zugang für die 25 0000 Journalisten gehe. (…)

Beim sid liest sich das so:

Großes Lob für Chinas Vorbereitungen
Rogge: „Was zählt, ist der Fortschritt“

(…) Peking (sid) IOC-Präsident Jacques Rogge hat die Zugeständnisse Chinas beim Internet-Zugang als „beispiellos für dieses Land“ gewürdigt. (…)

Indirekt machte der Belgier klar, dass die Wünsche des IOC nicht in vollem Umfang erfüllt wurden. (…)

sid-Mann Dieter Hennig darf (wie gesagt) laut einem Bericht des „Sportjournalist“ am 6. August auf Vorschlag des IOC ein Stück weit die olympische Fackel tragen.

(Und überrascht es Sie, wenn ich Ihnen sage, dass die vom sid zurückgezogenen Falschmeldungen noch immer von den Online-Auftritten von „Rheinischer Post“ und n-tv weiterverbreitet werden?)

Dieter Hennig, Sportjournalist

„Thema des Tages“ von Dieter Hennig, sid, 24. März 2008:

Olympia/Neuss (sid). Das Olympische Feuer ist seit Ostermontag auf dem Weg nach Peking. Es wird rund um die Welt die Menschen in seinen Bann ziehen, daran ließ schon die Entzündung in Olympia keinen Zweifel. (…)

Mit jedem Schritt, den sich das Feuer dem Schauplatz der Spiele nähert, wird es das Tibet-Problem weiter ins Bewusstsein rücken. Allein deshalb sind alle Störmanöver kontraproduktiv. Die Tibet-Aktivisten, die das bereits zum Auftakt versuchten, laufen Gefahr, ihr Ansehen zu verspielen und ihrem berechtigten Anliegen zu schaden.

Die Fackel ist das Symbol der Hoffnung auf eine bessere Welt, und nur Olympia vereint sie in dieser Weise. Auf einer langen Reise, auf der nur der Weg das Ziel sein kann. Ihn will die große Mehrheit der Menschen gehen, und niemand sollte sie davon abhalten.

Meldung aus dem „Sportjournalist“, zitiert nach „Süddeutsche Zeitung“, 2. August 2008:

Dieter Hennig (64) aus der Redaktionsleitung des Sport-Informationsdienstes (sid) beendet nach den Olympischen Spielen seine berufliche Laufbahn. (…) Das Internationale Olympische Komitee hat ihn als einen von fünf Journalisten aus aller Welt zum Träger des olympischen Feuers ernannt, am 6. August auf einigen Hundert Metern durch Peking.

· · ·

sid-Meldung, 1. August 2008, 10:07 Uhr:

Peking (sid) Olympia-Gastgeber China hebt während der Sommerspiele die in den vergangenen Tagen heftig kritisierte Internetzensur auf.

sid-Meldung, 1. August 2008, 13:06 Uhr, 15:33 Uhr, 17:19 Uhr:

IOC setzt sich in Peking durch
Olympia-Gastgeber China hebt Internet-Zensur auf

(…) Gastgeber China hob am Freitag die heftig kritisierte Internet-Zensur auf und beugte sich damit dem entschiedenen Protest des IOC. (…)

„Thema des Tages“ von Dieter Hennig, sid, 1. August 2008, 14:27 Uhr:

Peking (sid). Die Urteile waren schon gefällt, ehe der Fall abgeschlossen war. Chinas anhaltende Internet-Zensur hatte die Wut der Medienwelt nicht nur über die Gastgeber der Spiele hereinbrechen lassen, sondern auch über das IOC. Gefeuert wurde aus allen Rohren nach dem Motto: auch mit Platzpatronen kann man Pulverdampf erzeugen und den Blick vernebeln.

Wenige Stunden später war klar, dass das IOC der Teilblockade entgegen vieler Unterstellungen nie seinen Segen gegeben und sich mit seiner Linie vielleicht nicht vollständig, aber weitgehend durchgesetzt hatte. China lenkte in einem Maße ein, wie es die wenigsten erwartet hatten. Selbst die Seite der „teuflischen“ Sekte Falun Gong war im Pressezentrum zumindest zeitweise nicht weiter gesperrt.

Chinas Machthaber hat offensichtlich der Vorwurf des IOC getroffen, sie hätten ein Versprechen gebrochen. Sie sind deshalb über ihren eigenen Schatten gesprungen, was durchaus Anerkennung verdient. Auch von manchem Schnellschuss-Kommentator.

sid-Meldung, 2. August 2008, 7:03 Uhr:

Achtung Redaktionen!

Wir ziehen unseren Situationsbericht zur Zensur des Internets bei den Olympischen Spielen in Peking von Freitag, 1. August, um 13.06 Uhr MESZ einschließlich der folgenden überholten Fassungen von 15. 33 Uhr und 17.19 Uhr sowie das entsprechende Thema des Tages von 14. 27 Uhr MESZ zurück.

Zur Begründung:

Bei unseren Recherchen zu der Einschränkung des Internets im Pekinger Medienzentrum sind wir von falschen Voraussetzungen ausgegangen. Wir haben uns irrtümlich am privilegierten Internetzugang unserer Agentur und nicht an dem für akkreditierte Journalisten im zentralen Arbeitsraum vorhandenen Netzwerk orientiert und deshalb fälschlich einige Internetseiten als verfügbar gemeldet, deren Besuch tatsächlich weiter unterbunden wird. Dabei handelt es sich unter anderem um die Homepage der Falun gong-Bewegung sowie freetibet.org.

Wir bedauern den Fehler und senden bis 14 Uhr MESZ einen neuen Situationsbericht, der die Lage angemessen wiedergibt.

Dieter Hennig SID-Redaktionsleitung

[via Jens Weinreich]

Nur kurz,

falls Sie sich fragen, warum hier grad so wenig passiert: Liegt an „The West Wing“, der famosen amerikanischen Fernsehserie über den Alltag im Weißen Haus, die ich neulich mit nur einem knappen Jahrzehnt Verspätung entdeckt habe und leider nicht aufhören kann zu gucken. Sind aber nur noch 99 Folgen.

Eine Zeitung, die über dem Gesetz steht

Dass die britische Sonntagszeitung „News Of The World“ den spektakulären Prozess gegen den Fia-Chef Max Mosley verloren hat, ist das beste, was ihr passieren konnte. Sicher, im Fall eines Sieges hätte man etwas Geld gespart und den Triumph zelebrieren können. Aber das wäre für die Selbstinszenierung nicht halb so wirkungsvoll gewesen wie diese Niederlage.

Deshalb hat die „News Of The World“ diese Niederlage in ihrer gestrigen Ausgabe auch nicht klein geredet, sondern groß. Verloren hat laut „News Of The World“ nicht eine Zeitung, sondern die britische Gesellschaft als ganzes, oder konkret: Jeder einzelne von Ihnen, liebe Leser, denen die Reichen und Mächtigen das Recht versagen wollen, die Wahrheit zu erfahren. Und unter dieser Voraussetzung ist die „News Of The World“ natürlich nicht eine der widerlichsten publizistischen Dreckschleudern des Landes. Sondern eine Freiheitskämpferin.

Mit diesem Credo:

The News of the World will not be gagged by the rich and the powerful.

Or judges.

Or the courts.

Or politicians.

Ich fürchte, die meinen das ernst.

Wer andern eine Grube gräbt, ist Journalist

Christoph Keese, Außenminister der Axel-Springer-AG und früher selbst Journalist, hat endlich eine langgesuchte Definition gefunden:

Wer Blogger ist und wer Journalist, ergibt sich aus dem Verhalten. Ein freier Blogger sollte „Journalist“ genannt werden, wenn er objektiv, wahr, fair, ausgewogen und korrekt berichtet. Umgekehrt müsste ein meinungsstarker, aber rechercheschwacher Redakteur „Blogger“ heißen, wenn er subjektive Eindrücke ohne Recherche verbreitet.

Keese hat einen Aufsatz für das Jahrbuch 2008 des Deutschen Presserates geschrieben, in dem er anregt, eine Grube für den Qualitätsjournalismus zu graben:

Genau dort, wo die Netzpessimisten durch das Seichte waten und am Internet verzweifeln, sollten sie mit dem Graben beginnen und einen tiefen See anlegen. Das Publikum kommt dann von allein. Handeln wird aber nur, wer genau weiß, was ihn von den Laien unterscheidet.

Man könnte Keeses Essay als ein Plädoyer für guten Journalismus und zum Beispiel für „die sorgfältige Redigatur über mehrere Stufen“ durchaus sympathisch, konstruktiv und notwendig finden. Leider hat er sich allerdings dafür entschieden, als Gegensatz zu „gutem Journalismus“ nicht „schlechten Journalismus“, sondern „Blogger“ zu wählen. Wenn Keese dagegen von „Journalisten“ spricht, meint er offenkundig nicht die real existierende Berufsgruppe, deren Ansehen ungefähr so schlecht ist wie das von Politikern, sondern ein fernes, golddurchwirktes Journalisten-Ideal:

Blogger blicken in sich hinein, Journalisten aus sich heraus. Blogger unterwerfen sich keiner Instanz, Journalisten bilden eine Instanz, die Wahres von Unwahrem unterscheiden will. Blogger akzeptieren keine fremden Regeln, Journalisten arbeiten nach Standards. (…)

Bloggern steht es frei, aufgeschnappte Gerüchte weiter zu verbreiten und damit Hysteriekaskaden in Gang zu setzen. Journalisten aber sollten keine Nachricht verbreiten, die sie nicht selbst geprüft haben. Journalismus ist die Schwelle, über die eine Hysteriewelle nicht springen kann.

Sogar Keese selbst scheint an dieser Stelle aufgefallen zu sein, wie wirklichkeitsfern diese Beschreibung ist, und so fügt er ein „Zugegeben“ hinzu:

Zugegeben, in der Praxis sieht das manchmal anders aus. Aus der Unsitte, das Vermelden einer Nachricht durch ein anderes Blatt als das eigentliche Nachrichtenereignis anzusehen und ohne Prüfung der Urnachricht an die eigene Leserschaft weiter zu melden, ist mancherorts eine Sitte geworden. Trotzdem halten zahlreiche Redaktionen den Standard ein.

Beispiele dafür nennt Keese nicht.

Die toten Roma-Mädchen von Neapel

Es gibt Meldungen, die sind auf eine furchtbare Art perfekt. Die (falsche) Geschichte von dem Jungen, der in Sebnitz von rechtsradikalen Jugendlichen im Schwimmbad ertränkt wurde, war so eine. Sie ließ die beunruhigende Entwicklung neonazistischer Gewalt in Ostdeutschland mediengerecht in einen einzigen Fall kondensieren, der dazu noch die schlimmsten Befürchtungen übertraf, und taugte als Aufhänger für Leitartikel, in denen es nicht um diesen Fall ging, diese Stadt, sondern um das Große und Ganze.

Das Geschehen an einem Strand in Neapel, an dem die Menschen unbeeindruckt von den Leichen zweier Roma-Kinder ihrem Urlaubsvergnügen nachgehen, ist auch so eine Meldung. In einem einzigen Bild scheint die ganze Menschenfeindlichkeit des Umgangs der Italiener mit den Roma geronnen, der alltägliche Hass auf die Fremden, eine Pogrom-Stimmung, teils geschürt, teils ausgenutzt von einer skrupellosen Regierung.

Die beiden Mädchen Cristina und Violetta sollen am Strand von Torregaveta gebettelt oder Tand verkauft haben. Sie gingen ins Wasser, wurden von hohen Wellen erfasst und gegen Felsen gespült. Sie ertranken, obwohl Rettungsschwimmer versuchten, ihnen zu helfen.

Eine Stunde lang lagen ihre Körper, notdürftig mit Handtüchtern bedeckt, im Sand, bevor die Leichen in Särgen abtransportiert wurden. Eine Stunde, in der die Menschen in der Nähe einfach weiter die Sonne genossen.

Es gibt Augenzeugenberichte von der Situation, aber eigentlich scheint ein Foto schon die ganze Geschichte zu erzählen. Es zeigt die beiden zugedeckten Leichen und im Hintergrund, unscharf, ein Ehepaar, das offenbar zum Sonnenbaden gekommen und nicht wieder gegangen ist.

Das Foto war in Medien auf der ganzen Welt zu sehen. Man weiß nicht, ob es Italiener sind, die da im Hintergrund sitzen, und man sieht nicht, ob sie gaffen oder die Stirn runzeln, unbeeindruckt oder schockiert sind. Und trotzdem symbolisiert das Foto perfekt die Verachtung der Italiener für die Roma. Es wirkt, schrieb die „taz“, wie eine Metapher, die das Verhältnis zweier Völker zueinander auf plakative Weise illustriert.

Der Kardinal von Neapel sagte, die Bilder seien für seine Stadt beschämender als jene von den Müllbergen in den Straßen. Das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge protestierte. „Herzlos!“, titelte der Kölner „Express“. Der britische „Independent“ überschrieb seinen Artikel mit „The picture that shames Italy“. Und die gleichnamige irische Zeitung fand für ihre Schlagzeile ein gruseliges Wortspiel: „Italian beach culture is usually so body conscious. But not this time…“ („body“ bedeutet im Englischen nicht nur „Körper“, sondern auch „Leiche“).

Die Empörung der Welt ist nicht unberechtigt. Aber sie ist wohlfeil. Eine einzelne Situation am Strand hat plötzlich das Urteil über den Umgang der Italiener mit den Roma ganz einfach gemacht. Selbst die „Daily Mail“, eine britische Tageszeitung, die sonst mit großer Leidenschaft und Ausdauer Vorurteile gegen Zigeuner in Großbritannien schürt und bedient, konnte sich in einem langen Artikel schockiert geben über den Rassismus der Italiener.

Torregaveta ist nicht Sebnitz. Die Menschen, die sich unweit der toten Roma-Mädchen gesonnt haben, hat es tatsächlich gegeben. Aber es lastet plötzlich extrem viel Gewicht an diesem Foto, es wird plötzlich extrem viel Grundsätzliches in diesen Einzelfall projiziert. Manchen Berichten liest man an, wie sie die dürren Fakten, die bekannt sind, zu maximalen Skandalen aufblasen — die Nähe der Urlauber zu den Leichen verkleinern und die Zeit, bis sie abgeholt wurden, vergrößern.

Und der Fotograf, der die Aufnahmen gemacht hat, scheint selbst erschrocken zu sein über ihre Wirkung und die Absolutheit ihrer Interpretation. Und er widerspricht ihr. Die Agentur AFP meldete am Freitag:

Die veröffentlichten Aufnahmen von gleichgültigen Badegästen neben den Leichen zweier ertrunkener Roma-Mädchen am Strand von Neapel geben nach Angaben des Fotografen die Situation nicht angemessen wieder. Er habe mehrere Bilder von dem Vorfall gemacht, nicht auf allen seien nur ungerührte Menschen zu sehen, sagte der Fotograf Alessandro Garofolo der Nachrichtenagentur AFP. Er habe auch Menschen abgelichtet, die offensichtlich bestürzt gewesen seien oder beim Tragen der Särge geholfen hätten. (…)

„Auf dem Foto, das von ausländischen Zeitung[en] ausgewählt wurde, scheinen alle gleichgültig zu sein“, sagte der 30-Jährige, der für die Mailänder Tageszeitung „Il Mattino“ arbeitet. „In der Tat verhielt sich nur etwa die Hälfte der anwesenden Menschen so, als sei nichts passiert, viele halfen oder verließen den Strand nach dem Unfall.“ Auch hätten mehrere Strandgäste versucht, die beiden Mädchen aus dem Wasser zu retten. Zudem wirkten die gleichgültig sonnenbadenden Urlauber durch das verwendete Kameraobjektiv näher an den Leichen, als sie es in Wirklichkeit gewesen seien, sagte Garofolo weiter. (…)

Garofolos Einwände haben natürlich keine große Verbreitung mehr gefunden. Der Medienzirkus ist längst weiter gezogen. Dabei sind sie eine gute Warnung, solchen scheinbar perfekten Meldungen und Bildern nicht zu sehr zu trauen. Gerade weil es so leicht ist, in sie eine allgemeine Wahrheit hineinzulesen, die weit über ihre tatsächliche Aussage hinausreicht, wo schon deren Wahrheit zweifelhaft ist.

Warnende Stimmen, die Bilder nicht überzuinterpretieren, gab es von Anfang an. Aber die kamen natürlich nicht an gegen die Macht der Fotos und ihrer scheinbar schlichten Botschaft. Natürlich kann man darin auch etwas Positives sehen: Dass auf diese Weise die unbestreitbare und erschreckende Eskalation im Umgang mit der Roma-Minderheit in Italien die mediale Aufmerksamkeit bekommen hat, die sie verdient. Aber der Gedanke, dass das womöglich nur mit solchen medialen Kurzschlüssen gelingt, ist auch kein beruhigender.

PS: Die Leute vom Online-Auftrittes der „Rheinischen Post“ waren übrigens die vermutlich einzigen weltweit, denen das Bild nicht dramatisch genug war. RP-Online zeigt stattdessen einfach einen anderen Strand:

Nachtrag, 29. Juli. RP-Online hat das Foto entfernt und erklärt: „Wir sind nicht wahnsinnig. Wir sind einfach nur unfähig.“ (Okay, nicht wörtlich.)

Indikativ Futur I

Die Botschaft, die die Casting-Shows im Fernsehen vermitteln, lautet: Du kannst alles erreichen, wenn Du nur fest genug dran glaubst. Selbst auf Anwälte scheint das schon auszustrahlen, wie der erfrischende Optimismus zeigt, den dieser Brief ausstrahlt, den ich gestern in meinem Briefkasten fand:

Sehr geehrter Herr Niggemeier,

(…) werden wir Anfang nächster Woche gegen Sie Privatklage erheben.

Sie werden dann wegen Beleidigung und übler Nachrede verurteilt werden und damit vorbestraft sein. Die Geldstrafe wird Sie empfindlich treffen im Hinblick auf die wirtschaftliche Stellung unseres Mandanten und seinen Umsätzen.

(Nein, es gibt keine Punkte für das Erraten seines Mandanten. Callactive ist es nicht.)