Autor: Stefan Niggemeier

FTD-Online: Intel inside

Was für eine schöne Idee: Die „Financial Times Deutschland“ (FTD) schickt einen Journalisten und einen Kameramann durch die Bundesrepublik und lässt sie innovative Unternehmen besuchen. In einer liebevoll produzierten Videoreihe auf „FTD-Online“ porträtieren sie die „Innovationsführer aus Deutschland“, die zum Beispiel wegweisende Medizintechnik entwickeln.

Hm?

Ja, richtig: Die „FTD“ hatte dieselbe Idee, die die „Welt“ schon hatte, nämlich die von und für Intel produzierten PR-Filme des Projektes „Deutschlandreise“ als redaktionellen Content zu verwenden.

Allerdings war „FTD-Online“ (anders als „Welt Online“) nicht so dreist, ihren eigenen FTD-TV-Vorspann vor oder das eigene Logo auf das Intel-Video zu bappen. Und, wichtiger Unterschied: Der Auftraggeber wird im Artikel selbst genannt, wenn auch etwas versteckt im vierten Absatz und mit einer Formulierung, die die Beziehung zwischen Intel und den Videos auf „FTD-Online“ eher verschleiert als erklärt:

Der Versuch, sich diese Konstruktion von der „FTD“ erklären zu lassen, gestaltete sich erstaunlich schwierig. Die Pressestelle beantwortete meine am Dienstagmittag gestellten Fragen am Mittwochabend zunächst wie folgt:

Was bedeutet die Formulierung, FTD-Online „präsentiert“ diese Filme?

„Präsentiert“ heißt, dass wir die Unternehmen auf ftd.de zeigen.

Ist FTD-Online in irgendeiner Weise redaktionell an der Produktion dieser Filme beteiligt?

Die Online-Kollegen waren im Vorfeld an der Auswahl der Unternehmen beteiligt, die auf der Deutschlandreise besucht werden sollen. Sie entscheiden auch, welche Filme und welche Unternehmen auf FTD.de vorgestellt werden und welche nicht.

Ist es üblich, dass die FTD PR-Filme von Unternehmen in dieser Form in ihren Online-Auftritt einbaut?

Wir betrachten die Videos des „Projekt Deutschlandreise“ nicht als PR-Filme. Wir behalten uns grundsätzlich vor, ggf. Sequenzen von Unternehmensvideos zu verwenden, wie dies auch bei TV-Sendern üblich ist. Wenn wir dies tun, kennzeichnen wir sie entsprechend, so wie wir die Quellen generell kennzeichnen.

Hat Intel für die Platzierung ihrer Filme im Online-Angebot der FTD Geld gezahlt?

Nein. Es gibt auch keine Intel-Werbung in den Videos. Aktueller Werbepartner des FTD-Videoplayers ist der Softwareanbieter Sage.

Ich bezweifle sehr, dass das stimmt: dass Redakteure von „FTD-Online“ „im Vorfeld an der Auswahl der Unternehmen beteiligt“ waren. Wie plausibel ist es, dass die „FTD“ ein Projekt mit Intel plant, das dann aber monatelang nur auf der Intel-Seite und dann zunächst auf „Welt Online“ erscheint?

Ein bisschen konterkariert wurde die Antwort der „FTD“ an mich auch dadurch, dass ungefähr gleichzeitig die Seite mit dem Video aus dem Angebot von FTD-Online verschwand und mir aus der Chefredaktion der „FTD“ bedeutet wurde, man sei alles andere als glücklich über das Projekt und die Art der Kooperation.

Deshalb habe ich gestern abend noch einmal offiziell nachgefragt, warum man das Angebot gleichzeitig verteidigt und beseitigt. Heute mittag bekam ich folgende Antwort:

Die Online-Kollegen waren im Vorfeld an der Auswahl der Unternehmen beteiligt, die auf der Deutschlandreise besucht werden sollen. Wir haben aber letztlich nur ein Video auf FTD.de gezeigt, da wir mit der Umsetzung nicht glücklich waren. Mittlerweile haben wir das Video von der Site genommen. Geld ist dabei nicht geflossen. Die Kooperation war rein redaktionell.

Ich halte den Anfang dieses Statements für eine Lüge, den Mittelteil für eine Ausrede und das Ende für rätselhaft.

Auch bei Intel widerspricht man der Darstellung der „FTD“. Die Liste der zu besuchenden Unternehmen habe allein der Chip-Hersteller bestimmt; die „FTD“ habe allein bestimmt, wann und in welcher Reihenfolge sie selbst die (gegenüber dem Original anders geschnittenen) Filme zeigt.

Dass die Zusammenarbeit nun abrupt beendet ist, bedauert Intel-Sprecher Hans-Jürgen Werner. Mit dem „Projekt Deutschlandreise“, in dem viel Herzblut stecke, habe das Unternehmen Neuland betreten. Die Wirren um die Zusammenarbeit mit „Welt Online“ und „FTD-Online“ verbucht er als Lernerfahrungen im Umgang mit einem neuen Medium. Es sei nicht darum gegangen, verdeckt Inhalte zu platzieren.

Falls die „Financial Times Deutschland“ noch weitere Versionen des Ablaufes auftreibt, werde ich sie natürlich hier nachtragen.

neue-oz.de/katholikentag

In Osnabrück ist seit heute Katholikentag. Das ist eine große Sache. Der Bundespräsident kommt, die Bundeskanzlerin kommt, und der noch amtierende SPD-Chef kommt auch.

Ich habe mich gerade gefragt, was da aktuell so passiert, und dachte, ich sehe einfach im Online-Angebot der „Neuen Osnabrücker Zeitung“ nach, für die ich vor ziemlich genau 20 Jahren meine ersten Artikel schrieb.

Was für eine abwegige Idee.

Die Startseite von neue-oz.de sieht gerade so aus:

Klickt man auf das große Aufmacherbild, kommt man zu einem Text, der so beginnt:

Katholikentag in Osnabrück startet mit Eröffnungsfeier
Osnabrück.
Osnabrück steht bis zum Sonntag ganz im Zeichen des 97. Deutschen Katholikentages. Mit einer großen Eröffnungsfeier und einem anschließenden bunten Abend sollte das von den katholischen Laien organisierte Treffen am Mittwochabend starten.

„Sollte starten“? Richtig: Der Text ist nicht nur ein dröger Agenturtext (AFP), sondern auch die Fassung von 15:37 Uhr. Immerhin findet sich unter ihm ein Link zu einer Bildergalerie (mit lustigem Schreibfehler) …

… und ein Hinweis auf ein „Online-Spezial“. Dahin führte, zugegeben, auch ein großes Banner weiter unten auf der Startseite, das ich übersehen oder für Werbung gehalten hatte. Dort also wird die „Neue Osnabrücker Zeitung“, eine der großen deutschen Monopolzeitungen, sicher ein Feuerwerk von aktuellen Berichten, eigenen Reportagen, bunten Splittern und —

Nein, wird sie nicht.

Aufmacher im Katholikentags-Special von neue-oz.de ist ein vier Wochen altes Text-Narkotikum, das wie folgt die Aufmerksamkeit der Leser zu verlieren versucht:

Gespräche über Jugend, Umwelt und Frieden
Osnabrück.
Mehrere Zehntausend Teilnehmer werden zum 97. Deutschen Katholikentag vom 21. bis 25. Mai in Osnabrück erwartet. Nach 1901 ist es das zweite Katholikentreffen in Osnabrück. (…)

Immerhin ist der Artikel darunter sowohl aktuell, als auch eine Eigenleistung der „Neue OZ“-Redaktion. Er lautet so:

Nein, da ist kein Link. Ja, das ist der vollständige Artikel.

Meilensteine des Online-Journalismus (1)

Heute will Christoph Daum entscheiden, ob er Trainer beim 1. FC Köln bleibt. Für den Online-Auftritt des Kölner „Express“ ist Markus Krücken live vor Ort und gewährt den Lesern in einem Live-Ticker ungekannte Einblicke in den Alltag eines Sportreporters.


(Chronologisch sortierte und um Anzeigefehler berichtigte Auswahl.)

9:37 Uhr Daums Anwalt Dr. Stefan Seitz fährt in der Villa im Hahnwald vor
10:15 Uhr Daums Ehefrau Angelica bringt den wartenden Journalisten Kaffee und Hanuta
11:00 Uhr Eine genervte Nachbarin entfernt das Plakat des FC-Fan-Klubs „Wilde Horde“ mit den Worten: „Meine Hecke geht kaputt.“ und stopft das Plakat in die Mülltonne
13:47 Uhr: Die Vorhänge an der Eingangs-Tür der Daum-Villa werden zugezogen
14:40 Uhr: Stille im Hahnwald
16:24 Uhr: Ein weißer Golf fährt vor. Es ist der Zusteller eines Kölner Anzeigenblattes.
Er legt die neueste Ausgabe vor den Bronzelöwen an der Haustür.
16:32 Uhr: Für alle, die gerade erst den EXPRESS.DE-Liveticker eingeschaltet haben: Eine DAUM-ENTSCHEIDUNG gibt es immer noch NICHT!
16:42 Uhr Die zweite Kaffee-Lieferung für die Journalisten…
16:56 Uhr Die Spannung wird immer größer! Eine Entscheidung steht scheinbar kurz bevor.
17:37 Uhr Unfassbar! Eine argwöhnische Anwohnerin beklagt sich, dass die Stellplätze entlang der Straße zugeparkt sind.
17:38 Uhr Ehefrau Angelica kommt erneut aus dem Haus…
17:38 Uhr …mit dabei: Sohn Jean-Paul…
17:39 Uhr Er trägt sogar ein Deutschland-Trikot…
17:39 Uhr Der Junge ist komplett in Deutschland-Fan-Artikeln gekleidet.
17:41 Uhr …Jean-Paul wird zum Fußball-Training gefahren.
17:51 Uhr Gerade ist ein Bote auf einem Fahrrad vorbeigeradelt…
17:54 Uhr …Der Mann wirft einen Pizza-Zettel in den Briefkasten.
17:59 Uhr Das Festnetz-Telefon im Büro von Wolfgang Overath ist besetzt, der FC-Präsident ist also noch in Siegburg.
18:03 Uhr Ehefrau Angelica sammelt die Kaffeetassen wieder ein
18:20 Uhr EXPRESS-Reporter Markus Krücken folgt Christoph Daum im Wagen…
18:23 Uhr …Sie nehmen die Autobahnausfahrt Klettenberg und fahren Richtung Geißbockheim.
18:28 Uhr Ankunft am Geißbockheim!
18:28 Uhr EXPRESS erwischt Daum auf dem Parkplatz…
18:29 Uhr EXPRESS fragt nach: „Bleiben Sie FC-Trainer?“
18:31 Uhr Daum: „Ich sehe keine Notwendigkeit, öffentlich Stellung zu nehmen. Wir treffen uns jetzt mit Michael Meier.“ Geschäftsführer Horstmann soll auch dort sein.
18:34 Uhr Kollege Lars Werner meldet: Wolfgang Overath ist auf mehreren Leitungen in Siegburg nicht erreichbar. Ist er auf dem Weg ins Geißbockheim?

Nachtrag, Finale:

23:06: Wie bei Genscher in Prag 89! Daum tritt vor das Geißbockheim und erklärt: ICH BLEIBE!

[entdeckt von Stefan S.]

Nachtrag: Die Kollegen von onlinejournalismus.de waren schneller.

Grand-Prix: Puterlos ins Finale

Vielleicht war es doch nicht die allerbeste Idee, einen Teddybär mit auf die Bühne zu bringen. Vielleicht hätten es mindestens zehn Teddybären sein müssen. Oder, noch besser: gar kein Teddybär. Europa ist noch nicht bereit für mittelalte Frauen, die mit Teddybär im Arm auf einer großen Bühne schöne jazzige Easy-Listening-Nummern singen. Das ist zwar schade, weil „Century Of Love“ von Geta Burlacu aus Moldau einer meiner persönlichen Favoriten war. Und weil sie, was bemerkenswert, aber vielleicht auch ein bisschen gewagt war, ganz alleine gesungen hat, ohne einen mehrstimmigen Background-Chor. Aber schon in der Sekunde, da ich den Teddybär sah, verließ mich mein bisschen Hoffnung.

Das erste Halbfinale ist gelaufen, und das erste prominente Opfer ist ein Truthahn. Dustin, die sehr angestrengt witzige Kinderfernsehpuppe aus Irland, hat es nicht ins Finale geschafft, was man durchaus als gutes schlechtes Zeichen für die anderen gewollt trashigen Kandidaten dieses Jahres sehen darf. Auch die Witztruppe aus Estland ist durchgefallen.

Geschafft hat es eine sehr, sehr bunte Mischung aus zehn Kandidaten: Das Spektrum reicht von den Hardrockern mit verstörenden Dschinghis-Khan-Anleihen aus Finnland über die Möchtegern-Mariah-Carey aus Norwegen bis hin zur „jemenitischen Nachtigall“ aus Israel, über die Kommentator Peter Urban sehr treffend sagte: „Ein großartiger Sänger, der ärmellos tragen darf — da zeigt sich, was Landarbeit bringen kann.“

Es war, bei allem, was man Schlechtes über den Eurovision Song Contest sagen kann (und das ist auch in diesem Jahr sehr viel) ein außerordentlich abwechslungsreicher Abend mit hohem Unterhaltungswert gewesen. Wen kümmert’s, dass es den meisten Liedern musikalisch entweder an Originalität oder Professionalität (oder beidem) mangelte, wenn sie mit soviel Willen zum Entertainment, so aberwitzigen Choreographien, so mutigen Kostümen und so hochtourigen Windmaschinen vorgetragen werden. (Übrigens müsste mal jemand nachschauen, ob an den Ventilatoren die Schalter abgebrochen sind: Sie durchwehten nicht nur fröhlich die dafür gemachten Frisuren der Frauen, sondern ließen auch schütteres estnisches Männerhaar zu Berge stehen und brachten die Mähnen der finnischen Rocker in eine interessante, aber nur halb gewollt aussehende Horizontale.)

Überhaupt ist das einer der absurdesten Vorwürfe gegen den Grand-Prix der letzten Jahre: dass es ja nur noch auf die abgefahrenste Show ankäme. Als sei der Versuch, das Publikum mit allen Mitteln zu unterhalten, irgendwie verwerflich.

Und im Zweifelsfall reicht es immer noch zu unfreiwilliger Komik, wie bei den Russen, deren Sänger barfuß auf der Bühne stand, während ein Eisläufer ihn umkreiste, was angesichts mancher schräger Töne nicht nur zu blutigen Fantasien meinerseits führte, sondern überhaupt merkwürdig aussah: Das Ersatzeis aus Plastik ließ den Sportler in unglücklicher Langsamkeit rumrumpeln.

Das große Drama, gerne musical- oder operettenhaft, kam beim abstimmenden Publikum an. Neben dem Duett von Popsängerin und Opernsänger aus Rumänien schaffte es auch Debütant Aserbaidschan auf Anhieb ins Finale. Die brachten tatsächlich ihre Engel- und Teufel-Nummer aus dem Video auf die Bühne, inklusive eines Komplettumzugs des Teufels von schwarz nach weiß (üblicherweise sind Garderobentricks beim Grand-Prix eher Sache der Frauen). Vorher übergoß der teuflische Sänger aber noch ein weibliches Wesen, das sich vor und unter ihm wand und räkelte, mit etwas, das sicher wie Blut aussehen sollte, aber vermutlich nicht einmal billiger Rotwein war:

Und auch das muss man sagen (und ist keineswegs typisch für diese Veranstaltung): Live singen konnten die meisten, die da heute um die Wette auftraten, manche Stimmen waren sogar richtig gut. Es half halt manchmal, die Augen zuzumachen. Im Radio zum Beispiel würde man Isis, die für Polen antrat, viel besser genießen, weil man nicht wüsste, dass sie während ihres Vortrags entweder Tai-Chi-Übungen macht oder versucht, mit den Fingerspitzen die entgegengesetzten Wände der Halle gleichzeitig zu berühren.

Die Bühne soll den Zusammenfluss von Donau und Save (und das Motto dieses Jahres „A confluence of sound“) darstellen — und macht, auch wenn man die Trilliarden LEDs und ihre Effekte aus dem „DSDS“-Studio kennt, richtig was her.

Das ist ja vielleicht das wirklich einzigartige an dieser Veranstaltung: Nicht so sehr die, äh, unterschiedliche Qualität der Musiktitel, sondern der Kontrast zur höchst aufwendigen und modernen technischen Präsentation.

Da sitzen dann auf der flimmernden, glitzernden, blinkenden Bühne vier strickende bosnische Bräute neben einer Wäscheleine, während zu einem merkwürdigen Stück Musik, das man wohlwollend „ambitioniert“ nennen könnte, eine Besessene vor ihnen Löcher in das Plexiglas zu tanzen versucht.

Der genauso, aber ganz anders merkwürdige belgische Beitrag hat es übrigens nicht geschafft. Ich würde die Schuld spontan bei den Kostümdesignern suchen…

…aber wahrscheinlicher ist, dass schon morgen wieder die absurde Diskussion um die Ostmafia oder Balkan-Connection beginnt. Denn obwohl die zwei Halbfinals kunstvoll so bestückt wurden, dass benachbarte Länder nach Möglichkeit getrennt wurden (Schweden und Norwegen ebenso wie zum Beispiel Kroatien und Bosnien-Herzegowina, Estland und Lettland, Weißrussland und Russland), schafften es aus Westeuropa nur Finnland und Norwegen ins Finale; Niederlande, Belgien, Irland, San Marino und Andorra blieben auf der Strecke.

Zu Recht, wie ich nicht nur mit Blick auf das Kleid von Gisela (Andorra) sagen möchte:

Sendetermine:
2. Halbfinale: Nacht auf Freitag, 0.45 Uhr, NDR-Fernsehen (Aufzeichnung)
Finale: Samstag, 21 Uhr, Das Erste

Alle Sendungen auch live und on demand auf eurovision.tv

Der große Grand-Prix-Führer 2008

Grundkurs Grand-Prix (1): Rückung

Herzlich willkommen, meine Damen und Herren, zu unserem kleinen Einführungskurs in die Grundlagen des Eurovision Song Contest. Im Publikum war die Frage aufgekommen, was eine Rückung ist. Nun, ohne Rückungen wäre der Grand-Prix nicht, was er ist, also machen wir das gleich zu unserem ersten Thema.

Eine Rückung ist ein Wechsel der Grundtonart in einem Musikstück. Im Gegensatz zur Modulation, bei der der Wechsel von der Ausgangs- zur Zieltonart über eine Folge mehrerer Akkorde erreicht wird, erfolgt der Wechsel bei der Rückung relativ übergangslos und unvermittelt.

In der Popmusik ist eine Rückung um einen Halb- oder Ganzton nach oben extrem häufig. Auf diese Weise entsteht der Eindruck einer Steigerung zum Beispiel trotz einer bloßen Wiederholung des Refrains.

Keine Sorge, an einem praktischen Beispiel wird das gleich viel klarer, und ich bin froh, dass Nicole eingewilligt hat, zum besseren Verständnis der Rückung ihr Lied „Ein bisschen Frieden“ noch einmal zu singen, mit dem sie 1982 den Eurovision Song Contest gewann. Es enthält die klassische Form der Rückung: vor einer Wiederholung des Refrains, kurz vor Schluss des Liedes, ohne jeden harmonischen Übergang. Achten Sie darauf — gegen Minute 2:40:

Das, meine Damen und Herren, war eine Rückung.

Nun ist die keine Erfindung des Eurovision Song Contest. Die meisten Schlager kommen nicht ohne Rückung aus, und zum Beispiel auch John Lennons „Woman“ verzichtet nicht auf den schlichten Effekt, der den Zuhörern quasi unter die Arme greift und ihnen die Illusion neuer Frische oder Dramatik gibt. Aber es ist schon auffällig, wie allgegenwärtig dieser musikalische Trick beim Grand-Prix ist, wie wenige Titel sich trauen, in ihren drei Minuten auf ihn zu verzichten. Der Siegertitel von 1981, „Making Your Mind Up“ von Bucks Fizz, ging auf Nummer sicher und baute gleich zwei Rückungen schon außergewöhnlich früh im Titel ein:

Erkannt? Ungefähr nach zwei und zweieinhalb Minuten passiert’s.

Aber es geht noch besser. Milk & Honey schafften 1979 in Israel einen Heimsieg mit „Hallelujah“ und wechselten nicht weniger als dreimal die Grundtonart:

Keine Frage: Die Rückung hat ein Imageproblem. Sie ist ein Klischee, gilt als billig. Dabei muss sie gar nicht abgegriffen sein. Der diesjährige Beitrag aus Moldau zeigt, wie sich der Tonartwechsel mit einem hübschen Break und an überraschender Stelle im Titel unterbringen lässt (2:00):

So. Und wenn Sie heute Abend das erste Halbfinale gucken, können Sie aus diesem Fachwissen ein lustiges Trinkspiel machen.

Belgrad Calling

Herr Heinser, Sie haben sich alle 43 Teilnehmer des Grand-Prix 2008 vollständig angehört. Wie würden Sie diese Erfahrung beschreiben?

Es war ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber eine große Herausforderung für einen einzelnen Menschen mit nur zwei Ohren.

In Belgrad wird schon seit Tagen geprobt, in Deutschland ist die Jagdsaison für Käseigel eröffnet und zwischen Baltikum und Kaukasus macht man sich bereit, sich die Punkte schneller zuzuschanzen, als man „Ostblockmafia“ sagen kann: Es ist Grand-Prix-Zeit!

Nach dem neuen Modus müssen sich alle Länder außer den vier großen Geldgebern (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Spanien) und dem Vorjahressieger (Serbien) erst in einem von zwei Halbfinals für das Finale am Samstag qualifzieren. Im ersten Halbfinale am Dienstag dürfen auch die deutschen Fernsehzuschauer mitstimmen.

Wenn es einen neuen Trend gibt in diesem Jahr (neben dem weiteren Vormasch von dramatischen Balladen mit osteuropäischem Gefühl), dann ist es der zu gewolltem Trash (im Gegensatz zu dem unfreiwilligen, unvermeidlichen Trash, der seit Jahrzehnten elementarer Bestandteil des Grand-Prix ist). Die Masse des Feldes aber teilt sich ungefähr gleichmäßig auf in weniger oder weniger geglückte Versuche, internationale Poptrends zu kopieren, und eigenartige Kompositionen, die man nur beim Eurovision Song Contest zu hören bekommt, was ebenso für wie gegen die Veranstaltung spricht. Vom singenden Truthahn (Irland) über Dschinghis-Khan-Wiedergeburten (Lettland), einen Opernsänger (Rumänien), harte Rocker in Leder (Finnland) bis hin zur Hiphop-Reggae-Pop-Fusion (Bulgarien) ist gegen jeden Geschmack etwas dabei.

Lukas von Coffee & TV und ich haben uns auch dieses Jahr vorab durch die Videos der Teilnehmer gekämpft und versucht, die Spreu von der anderen Spreu zu trennen. Unseren großen Grand-Prix-Führer 2008 finden Sie hier (nicht erschrecken: mit Fotos!).

Beim britischen Buchmacher William Hill liegen aktuell übrigens Russland, Serbien, die Ukraine und Armenien vorne und Deutschland weit abgeschlagen im Mittelfeld, aber das muss nichts zu bedeuten haben.

Und hier ist ein erstes Votum der Jurys aus Bochum und Berlin:
 

Bochum Berlin
Titel, die man sich wirklich anhören kann Schweiz Serbien
Dänemark Moldau
Frankreich Kroatien
Favoriten Schweden Serbien
Polen Albanien
Kroatien Rumänien
So schlecht, dass es schon wieder gut ist Belgien Bulgarien
Andorra Schweden
Malta Malta
Nur schlecht Island Zypern
Lettland Lettland
Spanien Weißrussland

Sendetermine:
1. Halbfinale: Dienstag, 21 Uhr, NDR-Fernsehen
2. Halbfinale: Nacht auf Freitag, 0.45 Uhr, NDR-Fernsehen (Aufzeichnung)
Finale: Samstag, 21 Uhr, Das Erste

Die Videos aller Kandidaten kann man sich auf der offiziellen Seite eurovision.tv ansehen.

Panorama

Wenn sie schlau sind, die Lobbyisten der Verlage und Privatsender, stellen sie ihre eigene PR-Arbeit im Kampf für Beschränkungen öffentlich-rechtlicher Aktivitäten im Internet ein und überlassen sie vollständig den Fernsehmachern der ARD.

Nachdem Thomas Leif, der Chefreporter des Südwestrundfunks, vor zwei Wochen eine große, nein: lange Dokumentation zum Thema gemacht hat, die man wohlwollend als kontraproduktiv bezeichnen kann, übernahmen jetzt die Kollegen vom NDR-Magazin „Panorama“. Es ging eigentlich um die Frage, wie lange und unter welchen Bedingungen ARD und ZDF in Zukunft ihre Filme im Internet zeigen dürfen. Aber man kann es den Zuschauern nicht übel nehmen, die im Forum zur Sendung hinterher davon sprachen, das, was Verleger und Politik vorhätten, sei ja eine Art „Bücherverbrennung“. Tatsächlich taten die Autoren Britta von der Heide und Dietmar Schiffermüller immer wieder so, als gehe es nicht um Ausstrahlungsrechte, sondern die Vernichtung von Material: „Käme das neue Rundfunkgesetz, müssten diese Szenen im Extremfall gelöscht werden.“ Oder: „Dieser ‚Panorama‘-Klassiker müsste nach dem neuen Gesetz, wenn es in aller Schärfe umgesetzt würde, wohl gelöscht werden.“

Ungefähr jeder Satz war irreführend. Moderatorin Anja Reschke prahlte von den „echten Schätzen“, den „Zeitdokumenten“ und „Klassikern“, die sich im „Panorama“-Online-Archiv finden ließen: „wir senden seit 47 Jahren!“ – dabei ist das älteste Online-Dokument von 1996.

Ähnlich erschreckend wie die Bereitschaft zur Manipulation war die Wahl der Mittel: Grobschlächtig wie eine „Aktuelle Kamera“ pries „Panorama“ sich endlos selbst für seine wunderbare, unvergleichliche, unersetzliche Panoramahaftigkeit im selbstlosen Einsatz für das Lebensglück der Zuschauer. In einem von drei Ausschnitten aus älteren Sendungen war Helmut Kohl zu sehen, wie er zu einem Reporter sagt: „‚Panorama‘? Das hat doch mit Journalismus nichts zu tun.“ Es ist an dieser Stelle nicht ganz leicht, ihm zu widersprechen.

ARD und ZDF haben gute Argumente gegen viele Forderungen ihrer privaten Konkurrenz; Forderungen, die nur kommerziellen Interesse dienen und nicht der Allgemeinheit. Vielleicht ist die beschämendste Erkenntnis aus der ARD-Propaganda die: Dass die Verantwortlichen offenkundig nicht an die Kraft der Argumente und den Wert des seriösen Journalismus glauben, deren Garant sie sein sollen und als deren Aushängeschilder sich gerade Thomas Leif und die Leute von „Panorama“ gerne profilieren. Es ist – gerade für diejenigen, die sich starke Öffentlich-Rechtliche auch im Internet wünschen – zum Heulen.

Wenn sie schlau sind, die Lobbyisten der Verlage und Privatsender, sorgen sie dafür, dass zumindest dieser „Panorama“-Beitrag für alle Zeiten im Internet zu finden sein wird.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Medienanstalt entdeckt Call-TV-Sendung

Die Landesmedienanstalt Nordrhein-Westfalen hat festgestellt, dass die von der Firma Callactive für MTV produzierte Anrufshow „Money Express“ am 29. November 2007 unzulässigerweise einen nicht vorhandenen Zeitdruck aufgebaut und Anrufer so in die Irre geführt habe. Sie hat die Sendung „formell beanstandet“.

Die einzige konkrete Konsequenz für den Sender und seinen Produzenten ist diese:

Callactive-Geschäftsführer Stephan Mayerbacher hat gegenüber dem Medienmagazin DWDL angekündigt, rechtliche Schritte gegen die Entscheidung prüfen zu lassen — „auch, um von der Medienaufsicht eine klare Definition zu erhalten, was denn genau ein ’nicht vorhandener Zeitdruck‘ ist“.

Recht hat er.

In der beanstandeten Sendung, die bis 3.04 Uhr ging, wurde laut (gewöhnlich zuverlässigem) Protokoll von call-in-tv.de erstmals für 1.05 Uhr angekündigt, die Telefonleitungen zu schließen. Dasselbe geschah bis zum Ende der Sendung noch ungefähr ein halbes Dutzend Mal. Bereits um kurz vor 2 Uhr wurde ein erster sogenannter „FINAL COUNTDOWN“ heruntergezählt. Je ein weiterer „FINAL COUNTDOWN“ folgte um 2.26 Uhr und 2.57 Uhr. Hinzu kamen mutmaßlich Dutzende folgenlose Countdowns, die nicht ausdrücklich als „final“ angekündigt wurden. Um 2.40 Uhr wurde „LETZTE CHANCE“ eingeblendet, um 2.50 Uhr ein weiteres Mal.

Mayerbacher fragt zu Recht: Was ist „nicht vorhandener Zeitdruck“? Die Täuschung durch „final Countdowns“, die weder final sind noch zu irgendeinem Ereignis herunterzählen, die falschen Ankündigungen von „letzten Chancen“ oder die fast ununterbrochenen falschen Aussagen der Moderatoren über den Spielablauf können es nicht sein. Denn damit führt „Money Express“ seine Zuschauer fast jeden Abend in die Irre.

Ich hoffe, Mayerbacher klagt wirklich. Entweder er verliert. Oder die Gewinnspielregeln und ihre Auslegung durch die Landesmedienanstalten werden als die Farce entlarvt, die sie sind. Für die Allgemeinheit wäre es in jedem Fall ein Gewinn.

(Tafelgag nach einer Idee von „Twipsy“.)

[Disclosure: Ich befinde mich in mehreren Rechtsstreiten mit der Firma Callactive.]

Der Golf-Krieg

Man darf George W. Bush nicht Unrecht tun. Auch für den amerikanischen Präsidenten hatte der Irak-Krieg schlimme Konsequenzen. Auch für ihn ist das Leben ein anderes, seit im Irak täglich amerikanische Soldaten sterben. Auch er musste Opfer bringen. In einem Interview mit Politico spricht er es offen aus:

Mr. President, you haven’t been golfing in recentyears. Is that related to Iraq?

THE PRESIDENT: Yes, it really is. I don’t want some mom whose son may have recently died to see the Commander-in-Chief playing golf. I feel I owe it to the families to be as — to be in solidarity as best as I can with them. And I think playing golf during a war just sends the wrong signal.

Mr. President, was there a particular moment or incident that brought you to that decision, or how did you come to that?

THE PRESIDENT: No, I remember when de Mello, who was at the U.N., got killed in Baghdad as a result of these murderers taking this good man’s life. And I was playing golf — I think I was in central Texas — and they pulled me off the golf course and I said, it’s just not worth it anymore to do.

Der MSNBC-Moderator Keith Olbermann gab darauf in seiner Sendung „Countdown“ eine deutliche Antwort:

You, Mr. Bush, let their sons and daughters be killed. Sir, to show your solidarity with them you gave up golf? Sir, to show your solidarity with them you didn’t give up your pursuit of this insurance-scam, profiteering, morally and financially bankrupting war.

Sir, to show your solidarity with them you didn’t even give up talking about Iraq a subject about which you have incessantly proved without pause or backwards glance, that you may literally be the least informed person in the world?

Sir, to show your solidarity with them, you didn’t give up your presidency? In your own words „solidarity as best as I can“ is to stop a game? That is the „best“ you can do?

Olbermanns Stil ist schon an normalen Tagen überengagiert, überpathetisch, überkandidelt. In seiner Antwort an Bush hat er das (was kaum möglich scheint) noch einmal ins Extreme gesteigert. Und doch wirkt sein bizarrer Auftritt auf merkwürdige Weise ebenso grotesk wie angemessen. Die letzten Worte nach zwölf Minuten (!) lauten: „Mr. Bush: Shut the hell up!“

(Ich übernehme keine Verantwortung für Schäden, die durch aus dem Video tropfenden Schaum entstehen.)

[via Huffington Post]

Nachtrag, 16. Mai.
Jon Stewart zum selben Thema.

„Welt Online“: Intel inside

Was für eine schöne Idee: Die „Welt“ schickt einen Journalisten und einen Kameramann durch die Bundesrepublik und lässt sie innovationsfreudige, kleine Unternehmen besuchen. In einem liebevoll produzierten Videoblog auf „Welt Online“ porträtieren sie die „heimlichen Champions“, die zum Beispiel wegweisende Medizintechnik entwickeln (Teil 1, Teil 2).

Nur ist es gar nicht so, wie „Welt Online“ ausdrücklich behauptet, dass die beiden Reporter „für WELT ONLINE“ unterwegs waren. Sie waren im Auftrag eines Unternehmens unterwegs. Und mit ein bisschen Geschick könnten Sie sogar dessen Namen erraten.

Genau.

Das „Projekt Deutschlandreise“ ist eine eigenständige, ganz unabhängig von „Welt Online“ gestartete PR-Aktion des Prozessorherstellers Intel. Die Firma macht daraus eigentlich auch kein Geheimnis: Auf jeder Seite von projekt-deutschlandreise.de steht unten rechts ihr Logo; im Impressum ist sie als Absender genannt, und zum Auftakt gab es eine Pressemitteilung.

Bei „Welt Online“ hingegen hat man die werblichen Inhalte von Intel zu eigenen journalistischen Leistungen umdeklariert, das „WELT ONLINE TV“-Logo auf die Filme gepappt, den eigenen „WELT ONLINE TV“-Vorspann davor geschnitten (und, warum auch immer, über dem Artikel als Autorennamen Melanie Müller angegeben, die nach eigenen Angaben „Nachrichtensprecherin bei WELT-ONLINE-TV“ ist).

Die Firma Intel wird nichts dagegen haben.

Zur Erinnerung: Zum Trennungskonzept von Redaktion und Werbung bei „Welt Online“ gehört es auch, eine Strecke mit Lidl-Eigen-PR unter der Adresse dialog.welt.de und dem Namen „Welt Dialog“ (und dem kleinen Wort „Anzeigen-Sonderveröffentlichung“) anzubieten. Die entsprechenden Werbetexte tauchten zunächst sogar über die normale Suchfunktion von „Welt Online“ auf und und waren dort von redaktionellen Texten nicht zu unterscheiden. Teil der „Welt Dialog“-Seiten ist die Möglichkeit, Fragen zu Lidl an [email protected] zu schicken. Die Antworten kommen allerdings nicht von der „Welt“, sondern von Lidl selbst. Dass Redaktion und Werbung „strikt getrennt“ seien, sagte Verlagssprecher Christian Garrels gegenüber der „FAS“, erkenne man schon daran, dass die Mails an die welt.de-Adresse automatisch an Lidl weitergeleitet würden.

Zum aktuellen Fall mit den Intel-Filmen bemüht man sich bei Axel Springer derzeit noch um eine Stellungnahme.

Nachtrag, 17.45 Uhr. Ein Sprecher der Axel-Springer-AG teilt mir soeben mit:

Wir sehen das von Ihnen beschriebene Video als Grenzfall. Um auch nur den Anschein zu vermeiden, dass bei uns Werbung und Redaktionelles vermischt werden könnten, haben wir das Video von der Website genommen. Denn wie Sie wissen: Die Einhaltung unserer journalistischen Leitlinien sind unser oberstes Gebot.

Die Videos sind unverändert online.

Nachtrag, 18:20 Uhr. Anstelle der Artikel und Videos steht auf „Welt Online“ jetzt auf den beiden Seiten:

In eigener Sache
Wir haben das hier ehemals veröffentlichte Video von der Website genommen, weil es einen Grenzfall zwischen Werbung und Redaktionellem darstellte und wir den Anschein vermeiden wollen, dass es gegen unsere journalistischen Leitlinien verstoßen könnte. Wir bitten um Verständnis.