Autor: Stefan Niggemeier

Callactive ./. Niggemeier II, Urteilsbegründung

Im Rechtsstreit zwischen dem Call-TV-Produzenten Callactive und mir wegen eines unzulässigen Kommentars, der nachts hier unter diesem Eintrag abgegeben wurde und den ich am nächsten Morgen gelöscht habe, liegt jetzt die schriftliche Urteilsbegründung vor. Das Landgericht Hamburg hatte, wie berichtet, die einstweilige Verfügung gegen mich bestätigt, weil ich die Kommentare im konkreten Fall vorab hätte prüfen müssen.

Die entscheidenden Passagen aus der Urteilsbegründung (zum besseren Verständnis: „Antragsgegner“ bin im Folgenden ich):

(…) Je mehr konkreter Anlass zu der Befürchtung besteht, dass es durch Kommentare auf einer Internetseite zu Persönlichkeitsrechtsverletzungen Dritter kommen wird, und je schwerwiegender die zu befürchtenden Verletzungen sind, umso mehr Aufwand muss der Betreiber auf sich nehmen, um die auf seiner Seite eingestellten Kommentare einer persönlichkeitsrechtlichen Überprüfung zu unterziehen (…) Es besteht somit ein „gleitender Sorgfaltsmaßstab“ mit einem Spektrum abgestufter Prüfungspflichten: Ist mit großer Sicherheit vorhersehbar, dass es zu schweren Persönlichkeitsrechtsverletzungen kommen wird, so kann die Prüfpflicht des Betreibers demnach an dem einen Ende des Spektrums bis hin zu einer Dauer- und Vorabkontrollpflicht anwachsen. Die Kammer verkennt nicht, dass die sich daraus ggf. ergebenden Überwachungspflichten für die Betreiber von Internetseiten mit erheblichen Belastungen verbunden sein können. Das Erfordernis des soeben beschriebenen gleitenden Sorgfaltsmaßstabes folgt nach Auffassung der Kammer jedoch zwingend aus dem Umstand, dass in der verfassungsrechtlich gebotenen Abwägung zwischen Meinungs- und Medienfreiheit einerseits und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht andererseits keines dieser Rechtsgüter einen generellen Vorrang beanspruchen kann.

Nach diesen Grundsätzen hat der Antragsgegner die ihm obliegenden Prüfpflichten im vorliegenden Fall verletzt. Das gilt auch dann, wenn man den Vortrag des Antragsgegners als wahr unterstellt, wonach er den angegriffenen Beitrag ca. 7 ½ Stunden nach dessen Einstellung unaufgefordert löschte. Hierdurch hätte der Antragsgegner zwar durchaus zu erkennen gegeben, dass ihm zumindest an der Vermeidung schwerwiegender Persönlichkeitsrechtsverletzungen durch Kommentare auf seiner Seite gelegen war. Die Kammer verkennt auch nicht, dass er damit mehr getan hätte, als viele andere Seitenbetreiber nach den derzeitigen Gepflogenheiten im Internet für nötig halten. Die Kammer ist aber gleichwohl der Auffassung, dass aufgrund der konkreten Umstände des vorliegenden Falles so gravierender Anlass zu der Befürchtung bestand, dass es durch Kommentare zum Artikel „Call-TV-Mimeusen“ zu schwerwiegenden Persönlichkeitsrechtsverletzungen Dritter kommen würde, dass selbst die vom Antragsgegner vorgetragene Überprüfung nicht ausreichte.

Anzuführen ist insoweit zunächst der Inhalt des vom Antragsgegner verfassten Artikels „Call-TV-Mimeusen“. Damit begab sich der Antragsgegner selbst zumindest in den Grenzbereich des persönlichkeitsrechtlich Zulässigen. Zwar sind sowohl die kritische Auseinandersetzung mit „Call-TV-Sendungen“ als auch die Diskussion um die rechtliche Zulässigkeit der Bezeichnung von Moderatorinnen derartiger Sendungen als „Animösen“ Gegenstand eines gewichtigen öffentlichen Interesses. Eine Auseinandersetzung mit diesen Themen wäre aber durchaus auch unter Anonymisierung der betroffenen Moderatorinnen möglich gewesen. Stattdessen zog es der Antragsgegner vor, die persönlichen Schmähungen, die Gegenstand seiner Betrachtungen waren, dadurch aktiv weiterzuverbreiten, dass er unter voller Namensnennung der betroffenen Moderatorinnen darauf hinwies, dass diese als „Animösen“ bzw. „Rätselanimösen“ bezeichnet worden seien, und zwar ohne sich hiervon auch nur im Ansatz zu distanzieren. Im Gegenteil: Durch die Überschrift seines Artikels gab er zu verstehen, dass er es für „mimosenhaft“ halte, sich gegen die in Rede stehenden Bezeichnungen zur Wehr zu setzen. Ferner enthielt bereits der erste Absatz seines Artikels zumindest die Verdachtsäußerun, dass sich eine der genannten Moderatorinnen durch ihre Moderationstätigkeit des Betrugs im juristischen Sinne strafbar mache, was allerdings möglicherweise nicht beweisbar sei. Es bedarf vorliegend keiner abschließenden Prüfung, ob der Antragsteller [sic! Gemeint ist Anstragsgegner] damit schon selbst Persönlichkeitsrechtsverletzungen begangen hat. Entscheidend ist vorliegend allein, dass er durch seinen zumindest außerordentlich scharfen und polemisierenden Beitrag für die sich daran anschließende Diskussion einen Ton angeschlagen hat, der ersichtlich geeignet war, bei einzelnen Diskussionsteilnehmern persönlichkeitsrechtliche Grenzüberschreitungen zu provozieren, zumal die Diskussion ein ohnehin in erheblichem Maße emotional aufgeladenes Thema betraf.

Dies gilt umso mehr, als es den Nutzern der Seite des Antragsgegners offen stand, Kommentare auch unter Verwendung von Pseudonymen einzustellen, wovon dann auch zahlreiche Nutzer gebrauch machten (…). Es steht außer Frage, dass die Möglichkeit, sich unter einem Pseudonym zu äußern, für den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung von Nutzen sein kann. Das gilt besonders dann, wenn der Äußernde ohne diese Möglichkeit aus Angst vor ungerechtfertigten Repressalien von einem an sich schützenswürdigen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung abgehalten werden könnte. Es steht nach Einschätzung der Kammer aber ebenso außer Frage, dass die Möglichkeit der Verwendung von Pseudonymen die Gefahr maßgeblich erhöht, dass es in einer Diskussion zu Persönlichkeitsrechtsverletzungen Dritter kommt. Wer sich bei seinen Äußerungen hinter einem Pseudonym verstecken kann, wird sich weit eher dazu verleiten lassen, Persönlichkeitsrecht Dritter zu verletzen, als jemand, der befürchten muss, für seine Äußerungen persönlich zur Rechenschaft gezogen zu werden. Wer als Betreiber eines Forums oder Blogs die Verwendung von Pseudonymen zulässt, muss daher eine erhöhte Sorgfalt bei der Überprüfung der Inhalte seines Angebotes walten lassen.

Vor diesem Hintergrund konnte es nicht überraschen, dass die vom Antragsgegner angestoßene Diskussion dann auch tatsächlich von Beginn an eine Reihe von ebenfalls sehr scharfen, z.T. auch persönlichkeitsrechtlich zumindest bedenklichen Einträgen aufwies, wie z.B. die folgenden:

2. Persönlich bezeichne ich die Herren und Damen in diesen Sendungen als „Nervendes Pack die offensichtlich nichts anständiges gelernt haben“.

6. So weit scheint es mit [… (folgt der Nachname einer der betroffenen Moderatorinnen)] nicht her zu sein, wenn Sie diese geniale Bezeichnung Anim*** nicht aushält.

15. Das deutsche Justizsystem gemahnend, rate ich Marc schon mal ordentlich Geld beiseite zu sparen, […].
Einziger Ausweg: Beleidige sie richtig, dann hast Du wenigstens etwas für Dein Geld. (z.B.: Animatrice, Wortspielgespielin,Quotenkonkubine, Bildschirmtelefonadaptöse, Vernunftsedativum…) – obwohl ich Animeuse in der alten Schreibweise viel chiquer finde.

19. […]
Darüberhinaus würde ich eh Animörser bevorzugen… im Sinne von Animateurin mit mörserähnlich wirkender Dummlabergeschosswirkung. […]

25. Wenn es nicht so ernst wäre, wäre es ganz wunderbar.
Animöse klingt doch ganz nett, geht auch Animoese oder Animeurin?
Den Abgemahnten viel Glück und so.

32. Mir gefällt die Wortschöpfung.
Schließlich ist es ja kene normalie ANIMation was die Damen da treiben, sondern regelrechtes getÖSE. ;-)
So denn, vel Glück.

33. anni Möse, deutsche Meisterin im elongieren!

39. Interessant auch, dass die [… (folgt ein Wortspiel auf Grundlage des Namens einer der betroffenen Moderatorinnen)] in Ihrer Vita mit keinem Wort von der tollen Anstellung bei Callactive berichtet. […]
animösitäre Beschäftigungen scheinen sich in der CV nicht so gut zu machen

45. verlinkt doch alle mal [… (folgt der Name einer der betroffenen Moderatorinnen)] auf diese seite, ein bisschen spass muss sein.

Spätestens diesen in äußerungsrechtlicher Hinsicht zumindest grenzwertigen Verlauf der Diskussion musste der Antragsgegner zum Anlass nehmen, zu einer fortdauernden Überprüfung der eingehenden Kommentare überzugehen – sei es z.B. durch die Einschaltung eines geeigneten Moderators oder durch eine „schubweise“ Freigabe von Beiträgen nach erfolgter Vorabkontrolle –, denn in der Gesamtschau der obigen Erwägungen war konkret vorhersehbar, dass es jederzeit zu schwerwiegenden Persönlichkeitsrechtsverletzungen Dritter kommen konnte.

Dem kann der Antragsgegner nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass ihm derartige Prüfungspflichten aufgrund des großen Umfangs seines Weblogs (500 eigene Einträge mit 13.000 hierauf bezogenen Kommentaren allein im vergangenen Jahr) unzumutbar gewesen seien. Wer ein öffentliches Diskussionsforum eröffnet, kann sich seiner Pflicht zur angemessenen Überwachung dieses Forums nicht dadurch entziehen, dass er es auf ein für ihn nicht mehr angemessen kontrollierbares Maß anwachsen lässt. (…)

(Geschäftsnummer: 324 O 794/07.)

Ich werde, wie angekündigt, gegen das Urteil Berufung einlegen.

Bei Witzen versteht der NDR keinen Spaß

In der „Süddeutschen Zeitung“ erschien gestern ein längeres Portrait über Lutz Marmor, den neuen Intendanten des NDR. Es analysierte sportliche Hobbys, Wandschmuck, Schreibtischmodell und Anzugwahl, um zum Ergebnis zu kommen: „Er ist freundlich, grundsätzlich gut gelaunt (…). Ein vergnügter, ehrgeiziger Rheinländer.“

Um die Frage zu klären, ob der neue Intendant des NDR Humor hat, hätte allerdings ein Blick auf einen Text genügt, der nur einen Bruchteil so lang war und am Tag zuvor in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ erschien. Er lautete:

Gegendarstellung

Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung hat am 20. Januar 2008 auf Seite 50 den Artikel „Bitte nicht weitersagen“ veröffentlicht. Darin heißt es: „Als am Freitag vor einer Woche der NDR-Intendant Jobst Plog mit einer Gala im ‚Studio Hamburg‘ verabschiedet wurde, war sie (Anmerkung: gemeint ist Anne Will) trotzdem nur eine Notlösung. Denn eigentlich hätte Günther Jauch die Verabschiedung des Senderchefs moderieren sollen — sagte aber ab . . .“ Hierzu stellen wir fest: Günther Jauch ist nie um die Moderation gebeten worden. Er hat deswegen auch nie abgesagt. Anne Will sollte die Moderation von Anfang an übernehmen.

Hamburg, den 23. Januar 2008
Lutz Marmor, Intendant des Norddeutschen Rundfunks
Dr. Werner Hahn, Justitiar des Norddeutschen Rundfunks

Ich hoffe, irgendwer hat den beiden inzwischen den Witz erklärt.

Grimme-Kandidaten gucken

Wer sehen will, was wir vergangene Woche in der Grimme-Jury in Marl gesehen haben: Das ZDF zeigt heute abend „Eine Stadt wird erpresst“, einen ungewöhnlichen Polizeithriller von Dominik Graf. Der Film war zwar nicht mein persönlicher Favorit auf einen Grimme-Preis (ob er einen bekommen wird, ist noch geheim), aber spanned, ungewöhnlich und vor allem mit dem gewagten Bruch in der Mitte, wenn Tempo und Genre wechseln, sehenswert. Und Uwe Kockisch ist wunderbar.

Eine Stadt wird erpresst, heute, 20.15 Uhr, ZDF.

Gehirnfasten mit Henryk M. Broder (2)

Henryk M. Broder weiß nicht, was ich mit diesem Eintrag sagen wollte, sieht keine Notwendigkeit, dass die Dinge, die er schreibt, auch stimmen, und antwortet unter dem Titel „Schweinchen Schlau ermittelt“:

(…) Niggemeiers Fanclub liegt (…) im Dunstkreis der „Böhsen Onkelz“ oder hinter der Spatenbräu-Festhalle („Ochsen aller Art“) auf der Wiesn. Jetzt hat er sich wieder einen abgequält. Um zu beweisen, dass eine „Islamisierung Westeuropas“ nicht stattfindet, hat er ein paar Sätze aus einem Text von mir in seine Einzelteile zerlegt und dabei herausgefunden, dass es sich um einen Text von mir handelt. Eine erstaunliche Erkenntnis, die er nicht nur mit Suggestionen, Unterstellungen und Erfindungen anreichert, sondern auch in entscheidenden Details korrigiert. (…)

Was also will der Schmock? Keine Ahnung. (…) vielleicht war es nur die Fingerübung eines bedeutenden Medienjournalisten, der für größere Aufgaben trainiert. Wie wir alle wissen, gibt es bis heute keinen Hinweis darauf, dass Hitler die Endlösung der Judenfrage persönlich befohlen hat. Zumindest gibt es kein Dokument darüber, das seine Unterschrift trägt.

Ebenso fehlt es an objektiven Quellen, die zweifelsfrei belegen, dass der Massenmord an den Armeniern wirklich stattgefunden hat und nicht von Franz Werfel imaginiert wurde.

Es könnte sein, dass es sich dabei nicht um Erfindungen handelt, aber das letzte Wort in solchen Mediengeschichten müssen wir Sesselpupsern und Korinthenkackern wie Niggemeier überlassen.

Je ferner, desto lauter

Einige deutsche Online-Medien behandeln es gerade als eine Sensation: Der Wahlkampf von Hillary Clinton wird ab sofort von einer anderen Frau geleitet. Bei Bild.de lief die Nachricht sogar in einem „Breaking News“-Laufband über die Seite. Sie scheinen sich einig zu sein: Clinton hat Patti Solis Doyle wegen Erfolglosigkeit entlassen. Bei den beiden führenden Lautsprechern unter den Online-Medien liest es sich natürlich besonders dramatisch:

Komisch nur, dass das auf amerikanischen Nachrichtenseiten anders klingt, unspektakulärer, nicht ganz so überraschend, sogar ohne den Konflikt, den das Wort „Rauswurf“ suggeriert. Bei vielen Medien ist es nicht einmal der Aufmacher, auch in den Fernsehnachrichten von CNN International gerade war es nur eine kurze Meldung.

Das Politik-Blog der „New York Times“ zitiert einen Clinton-Sprecher, dass Frau Solis Doyle weiterhin eine „Schlüsselrolle“ innerhalb des Teams einnehmen werde. Das Politik-Blog der „Washington Post“ berichtet, dass es schon seit Wochen Gerüchte gegeben habe, Maggie Williams werde Patti Solis Doyle ersetzen. „Politico“ schreibt, dass der verstärkte Einfluss von Maggie Williams, ohnehin wie Solis Doyle eine langjährige Beraterin Clintons, sich bereits seit Wochen bemerkbar gemacht habe und keine offensichtliche Verschiebung der Machtstrukturen innerhalb des Wahlkampfteams bedeute. Selbst Fox News, alles andere als ein Freund von Hillary Clinton, spricht nur von einem „Rücktritt“ und berichtet, dass Solis Doyle auch in Zukunft Clinton gelegentlich bei ihren Wahlkampfreisen begleiten werde.

Wie wird auf dem Weg von Amerika zu uns aus einer interessanten Meldung eine Sensation? Wie aus einem Rücktritt, der mit den jüngsten Wahlniederlagen oder mit Fehlern im Zusammenhang mit der Vorwahl in Iowa vor fünf Wochen zu tun haben, aber auch die private Entscheidung einer Mutter von zwei kleinen Kindern sein könnte, die wie fast alle dachte, dass zu diesem Zeitpunkt das Rennen längst entschieden sei, wie wird daraus ein eindeutiger „Rauswurf“ oder gar das „Feuern“ einer Frau, die doch anscheinend weiter eine führende Beraterin bleibt?

Sind die deutschen Online-Medien selbst in der Spätschicht am Sonntagabend besser informiert, weniger naiv als die amerikanischen? Oder ist es eher so, dass sie den Mangel an Hintergrundwissen durch Sensationalismus und Einseitigkeit ausgleichen?

Teletext: Stefan Raab

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Man kann Stefan Raab schon dafür mögen, dass er der ungefähr letzte Prominente ist, der sich, wenn er zu „Wetten dass …?“ eingeladen wird, nicht denkt: Okay, flätz‘ ich mich halt drei Stunden auf dem Sofa, sondern: Hui, da denk‘ ich mir was aus! Neulich parodierte er, als Gottschalk seine Begrüßung abgeschlossen und die erste Frage gestellt hatte, den typischen internationalen Star, der sich den Knopf mit dem Übersetzer ins Ohr drückt, zeitverzögert antwortet, die üblichen Floskeln ablässt und ankündigt, leider gleich wieder zum Flieger zu müssen. Raab hatte sogar den Simultandolmetscher eingeweiht, der seine Worte brav übersetzte, und es war eine kleine, lustige, harmlos-bösartige Szene, mehr braucht es ja nicht.

Später spielte er mit und für Udo Jürgens am Klavier, dafür hatte er sich extra einen weißen Bademantel hinterm Sofa bereitgelegt und ein Glas Wasser ins Gesicht gekippt. Aber die Nummer hatte nichts Despektierliches, sondern war eine Hommage, wie man nicht nur an der Verbeugung sehen konnte, mit der Raab Jürgens begrüßte. Dann ließ er die Leute im Rhythmus klatschen, bevor er anfing zu spielen, um sie auf die einfachste Art dazu zu bringen, auf Zwei und Vier zu klatschen, was sonst in Deutschland keiner kann.

Wenn Raab etwas am Herzen liegt, seien es die Nachwuchssänger, die er fast mitten in der Nacht in seinem Talentwettbewerb bei „TV Total“ fördert, oder nur das eigene, von Siegeswillen getriebene Ego, wie in seiner gerade wieder preisgekrönten Show „Schlag den Raab“, ist er ein großer Entertainer. Dann entwickelt er eine Leidenschaft, mit der kaum ein anderer Fernsehmoderator mithalten kann, am wenigsten Raab selbst in seiner alltäglichen, gelangweilten, anspruchslosen, desinteressierten, vor sich hin stolpernden Form, in der er es sogar fertigbringt, den Namen einer Band, die am kommenden Donnerstag bei seinem „Bundesvision Song Contest“ antritt, mehrfach falsch zu sagen.

Aber dann sind da diese Möchtegern-Nächste-Uri-Gellers aus der Pro-Sieben-Show, und wenn Raab sich an ihnen abarbeitet, sind das Sternstunden. Es scheint, als seien diese peinlichen Figuren mit ihrem Anspruch, Menschen mit übersinnlichen Fähigkeiten zu sein, für Raab nicht nur willkommenes Witzmaterial, sondern ein echtes Ärgernis. Als störe ihn nicht nur, dass sie so schlechte Entertainer sind, sondern auch dieser unnötige Flirt mit dem Okkulten. Mit großer Lust und gerechter Häme, aber auch mit einem fast aufklärerischen Ansatz des Skeptikers entlarvt er ihren faulen Zauber, und das auf demselben Sender. Auch dafür kann man ihn schon mögen.

Gehirnfasten mit Henryk M. Broder

Er muss sich kein Freisemester nehmen, der Henryk M. Broder, wenn er für „Spiegel Online“ wieder einmal einen langen Text über die angeblich fortschreitende Islamisierung Westeuropas verfasst. Ungefähr alles, was er zu dem Thema zu sagen hat, hat er schon viele Male gesagt, auch auf „Spiegel Online“. Es ist ein fröhliches Copy & Paste, und dagegen wäre nicht einmal etwas zu sagen, wenn nicht einige dieser recycelten Textbausteine entweder falsch oder zumindest unbelegt wären. Oft sind die einzigen Quellen, die sich für die Informationen finden lassen, fanatische und notorisch unwahre Seiten wie „Politically Incorrect“. Oder Broder selbst. Oder „Politically Incorrect“, das Broder zitiert. An manchen Stellen wird der vielfache Zirkelschluss so überzeugend, dass ich wetten würde, dass Broder selbst am Ende die Dinge glauben würde, die er selbst erfunden hätte.

Heute schreibt Broder also:

Derweil gab die BBC in ihrer Internet-„Section on Islam“ eine Neuerung bekannt: Wann immer der Name des Propheten erwähnt werde, solle sogleich der Zusatz folgen: „Peace be upon him“, der Friede sei mit ihm. Das, erklärte ein Sprecher der BBC, sei man einer „fairen und ausgewogenen“ Darstellung des Islam schuldig.

Vor nicht einmal acht Wochen formulierte er an gleicher Stelle:

Wesentlich weiter geht die BBC in ihrer Internet-„Section on Islam“. Wird der Name des Propheten erwähnt, folgt sofort der Zusatz: „Peace be upon him“, der Friede sei mit ihm. Das sei man einer fairen und ausgewogenen Darstellung des Islam schuldig.

Damals fügte er noch hinzu:

Einen aufregenden Praxistest dürfte die Sprachregelung bestehen, wenn die BBC über einen Selbstmordanschlag gläubiger Muslime berichtet, deren letzte Worte ihrem barmherzigen Gott Allah und seinem Propheten, Peace be upon him, galten.

Anders als Broders Text behauptet, stammt diese Praxis nicht aus dem Jahr 2007, sondern gilt mindestens seit März 2006. Vor allem aber wird es zu Broders „Praxistest“ nicht kommen, denn die Sprachregelung bezieht sich ausschließlich auf die BBC-Seiten, auf denen die islamische Religion sich, ihre Praktiken und ihren Glauben erklärt und vorstellt. Auf Nachrichten bezieht sie sich nicht. Die BBC schreibt unmissverständlich:

We decided that a less biased and more consistently fair approach would be to write about each faith from the point of view of that faith — so that our explanatory pages were in essence, a particular religion explaining itself to the reader. From that position it made sense to use pbuh [peace be upon him] on pages explaining Islam.

Ein weiterer Fall aus Broders Zwischenablage:

Etwas weiter südlich, in Zürich, wurden die Polizisten aufgefordert, sich mit der islamischen Kultur vertraut zu machen, indem sie im Ramadan freiwillig einen Tag lang auf Essen und Trinken verzichten.

Oder wie er vor zwei Monaten schrieb:

Auch die Polizisten der Stadt Zürich sind aufgefordert worden, sich mit der islamischen Kultur vertraut zu machen, indem sie im Monat Ramadan freiwillig einen Tag lang fasten. Das Interesse an diesem Vorschlag soll aber angesichts des kulinarischen Angebots in Zürich gering gewesen sein.

Wurden die Polizisten wirklich „aufgefordert“, einen Tag zu fasten? Richtig ist: Die Polizeichefin hatte ihre Leute zu einem gemeinsamen Fastenbrechen mit Muslimen eingeladen. Der „Tagesanzeiger“ berichtete:

Auf dem Programm stehen eine Ansprache der Polizeiseelsorgerin, die Erfahrungen eines muslimischen Polizisten, der Ruf des Muezzins sowie ein gemeinsames Abendgebet samt Abendessen mit Sufi-Musik.

«Der Anlass gibt die Möglichkeit, sich mit ansässigen Musliminnen und Muslimen zu unterhalten und über ihren Alltag mehr zu erfahren», schreibt Maurer.

Das klingt für mich sehr unskandalös, und wenn es so war, ist Broders Witz, dass „angesichts des kulinarischen Angebots in Zürich“ niemand gekommen sei, besonders dumm. Es ist ein Festmahl, das im Ramadan nach Sonnenuntergang aufgefahren wird!

Ich würde auch gerne eine vertrauenswürdige Quelle für diese Aussage Broders finden:

Zugleich [vor dem 11. September 2007] wurden die Brüsseler Polizisten angewiesen, während des Fastenmonats Ramadan nicht in der Öffentlichkeit zu rauchen oder zu essen, um die religiösen Gefühle der Muslime nicht zu verletzen.

Auch die stand schon vor zwei Monaten auf „Spiegel Online“:

(…) zugleich hat seine Verwaltung die Polizisten in der Hauptstadt Europas angewiesen, während des Fastenmonats Ramadan nicht in der Öffentlichkeit zu rauchen oder zu essen, um die religiösen Gefühle der Muslime nicht zu verletzen.

Und bei der Suche nach der Quelle findet man vor allem: Broder. Ein Interview im Deutschlandfunk, ein Gespräch mit blauenarzisse.de. Ich habe im Internet nur einen möglichen Urheber der Geschichte gefunden: Christian Ortner, einen Kolumnisten der „Wiener Zeitung“. Er schrieb am 31. August 2007:

Brüssel hat mittlerweile eine so umfangreiche muslimische Wohnbevölkerung, dass etwa biedere flämische Polizisten ohne jeden „Migrationshintergrund“ von ihren Vorgesetzten angehalten werden, während des Ramaddan nicht in der Öffentlichkeit zu essen oder zu rauchen.

Auf Ortners Artikel scheinen sich viele rechte und anti-islamische Seiten zu berufen, die die Geschichte weitererzählen. Aber auch Ortner nennt keine Quelle.

Um es deutlich zu sagen: Ich kann nicht ausschließen, dass sie stimmt. Womöglich tut sie es. Ich finde es aber erstaunlich, dass sich dafür in den Nachrichtenagenturen oder Zeitungsarchiven kein Hinweis finden sollte. Nur Broder erzählt sie so lange, bis sie Tatsache geworden ist. Wie das Märchen von den Banken, die keine Sparschweine mehr ausgeben, um die Gefühle von Moslems nicht zu verletzen.

Nachtrag, 22:00 Uhr. Spurensuche in Sachen Essverbot für Brüsseler Polizisten im Ramadan. Es könnte sein, dass es sich nicht um eine Erfindung handelt, aber dann gilt es offenbar nicht in ganz Brüssel, wie Broder schreibt, sondern nur im Vorort Molenbeek, und stammt nicht aus dem vergangenen Jahr, wie Broder schreibt, sondern von 2005.

Wenn „Bild“ das schreibt, wird’s stimmen

Kommen wir zu weiteren Antworten auf die beliebte Frage: „Wer glaubt schon, was in der ‚Bild‘-Zeitung steht?“

Die Nachrichtenagentur AP glaubt es. Sie übernahm bekanntlich aus „Bild“ die ebenso doofe wie falsche Behauptung, das „Gerangel um die Aust-Nachfolge … zieht offensichtlich auch die Auflage [des ‚Spiegel‘] nach unten“, die „Bild“ zufällig einfiel, nachdem der „Spiegel“ über den Auflagenrückgang von „Bild“ berichtete.

Die „taz“ glaubt es auch. Sie ließ die Quelle „Bild“ weg, machte sich die Interpretation aber zu eigen und vermeldete sie sogar unter der Überschrift „Nach Posse um Chefredaktion / „Spiegel“-Verkauf bricht ein“:

(…) Die Einzelverkäufe sind im vierten Quartal 2007 auf 337.500 Exemplare gesunken. (…) Ein Einbruch von fast 20 Prozent und das schlechteste Ergebnis seit 2003. Möglicherweise liegt das an der schlechten Presse, die im vierten Quartal ordnerweise über den Spiegel erschien und nicht gut fürs Image war.

Und im Zweifel glaubt es auch „turi2“, der „Aufsteiger unter den Branchendienst für Medien und Kommunikation“ und BILDblog-Kritiker, der gestern berichtete:

Übrigens hat die dilettanische [sic] Nachfolgersuche für Aust dem „Spiegel“ einen erheblichen Imageschaden verpasst: Im vierten Quartal 2007 ging der Einzelverkauf laut IVW um 20 Prozent zurück.

(Von einem Rückgang um 20 Prozent zu sprechen, wie „taz“ und „turi2“ es tun, ist ohnehin unzulässig, weil nur ein Vergleich mit dem Vorjahresquartal aussagekräftig ist; nicht der des Herbstes mit dem Sommer.)

taz.de und turi2.de demonstrieren auch schön die Attrappenhaftigkeit vieler Kommentarfunktionen. Unter beiden Artikeln stehen Kommentare von Lesern, die unter Verweis auf BILDblog schreiben, dass der behauptete Zusammenhang zwischen der Personalie Aust und dem Auflagenrückgang nicht stimmen könne. Und bei beiden Artikeln gibt es keine Reaktion auf diese Hinweise: Keine Korrektur, Ergänzung oder wenigstens Antwort eines Redakteurs oder Mitarbeiters in den Kommentaren. Das ist so interaktiv und Web-2.0-ig wie ein Anrufbeantworter.

Und wer glaubt noch, was in der „Bild“-Zeitung steht? Das Fernsehen natürlich. Die Mär, dass der Hai, der auf einem „Bild“-Leserreporter-Video zu sehen ist, 3,50 Meter lang sein soll, verbreiteten nach Informationen von BILDblog-Lesern gestern „Brisant“ (ARD) und „Hallo Deutschland“ (ZDF), ProSieben und der „Nachrichtensender“ N24 — und betonten dabei teilweise auch noch diese unglaubliche Länge, die schon bei einem Blick auf das Video selbst noch unglaublicher wird.

Marlzeit (5)

So. Feierabend. Jetzt aber wirklich.

Auf dem Rückweg von Marl habe ich im Zug die ganze Zeit geschlafen, und als ich in Berlin aufstand, hatte ich das Gefühl, dass mich alle Mitreisenden im näheren Umkreis mit dieser Mischung aus Mitleid und Belustigung, Neugier und Genervtheit ansehen, ganz so also, als hätte ich über Stunden sehr peinlich geschnarcht, was leider nicht unwahrscheinlich ist.

Jedenfalls findet diese dramatische Artikelserie heute ihren Abschluss und Höhepunkt, indem ich Ihnen mitteilen kann: Wir haben fünf Grimme-Preisträger gefunden, die am 4. April im Stadttheater Marl ausgezeichnet werden. Ihre Namen wird das Institut irgendwann in den nächsten Wochen bei einer Presse-Konferenz bekannt geben, genau wie die der Jurys für Information/Kultur und Unterhaltung, und bis dahin darf keiner was sagen.

Wir haben am Ende wirklich noch gebettelt, ob es nicht doch eine Möglichkeit gäbe, wenigstens sechs Preise zu vergeben, wenn schon nicht die neun oder zehn, die wir eigentlich gebraucht hätten. Zwischenzeitlich gab es bei einer der vielen Abstimmungen sogar einen Gleichstand, ausgerechnet zwischen dem fünften und sechsten Platz, und als sei das alles nicht nervenaufreibend genug gewesen, stellte sich heraus, dass ein Juror das ganze Abstimmungsprinzip nicht verstanden und sich, nun ja: verwählt hatte. Aber ich fürchte, der Versuch, darüber zu schreiben, ohne die konkreten Sendungen zu nennen und die Debatten, die sich an ihnen entzündeten, wäre noch uninteressanter als die Berichte der letzten Tage.

Es ist vorbei, das Ergebnis steht fest, es ist, glaube ich, eine ordentliche Mischung aus Favoriten und Überraschungen, großem und kleinem Fernsehen (und vor allem großem kleinen), und eine frühlingshafte Sonne tauchte die glückliche kleine Stadt Marl zum Abschied in ein warmes Licht.