Folgendes trug sich am 2. Weihnachtstag im Programm von 9Live zu:
Link: sevenload.com
Das wirft doch Fragen auf, und ein paar davon habe ich Sylke Zeidler, der Unternehmenssprecherin von 9Live gestellt:
- Ist es richtig, dass 9Live am Nachmittag und Abend dieses Tages über 13 Stunden lang keinen einzigen Anrufer ins Programm durchgestellt hat?
- Wenn ja: Warum war das so?
- Plant 9Live weitere Sendungen dieser Art?
- Gibt es Überlegungen, nur noch alle paar Tage einen Anrufer ins Programm durchzustellen? Oder einfach gar keine Anrufer durchzustellen? Wäre das nicht konsequent?
- Warum haben die verschiedenen Moderatoren immer wieder falsche Angaben über das Ende der Sendung und des Rätsels gemacht?
- Inwiefern sind diese falschen Angaben in Verbindung mit diversen Countdowns, darunter auch einem „Finalen Countdown“, vereinbar mit den Gewinnspielregeln der Landesmedienanstalten? [pdf]
- Zu den „9Live-Qualitäten“ gehört nach Angaben von 9Live, „dass die Zuschauer über die maximale Spieldauer informiert werden“. Gelten diese „Qualitäten“ nur an bestimmten Wochentagen? Oder warum hat 9Live die Zuschauer nicht über die tatsächliche maximale Spieldauer informiert?
- Inwiefern hat die Sendung dem Wunsch des Zuschauers in Hinblick auf Orientierung sowie Transparenz in besonderer Weise Rechnung getragen?
Frau Zeidler war so nett zu antworten, und der Fairness halber möchte ich die Stellungnahme von 9Live ungekürzt veröffentlichen:
9Live stellt durch einen technischen Mechanismus sicher, dass zu jedem Zeitpunkt in jeder Sendung für die anrufenden Zuschauer eine Gewinnchance besteht. Dieses technische System ist einzigartig im deutschen Call-TV Markt. Darüber hinaus garantieren wir fortlaufend Zusatzgewinne außerhalb des Liveprogramms, die direkt über unser Service-Center abgewickelt werden. So hat 9Live an dem von Ihnen angefragten 26. Dezember 2007 insgesamt 788 Anrufer zu Geldgewinnern gemacht, davon 41 on Air und 747 off Air. Im Übrigen zählte 9Live allein im Dezember vorigen Jahres insgesamt 48.894 Gewinner, davon 2.673 on Air-Gewinner.
Weil ich ahnte, dass die Antwort von 9Live in manchem Wortsinne erschöpfend sein könnte, hatte ich auch der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM) geschrieben, die theoretisch für die Aufsicht über das Programm von 9Live zuständig wäre, und sie unter Hinweis auf das Video oben gefragt:
- Ist der BLM dieser Fall bekannt?
- Ist die BLM in diesem Fall bereits tätig geworden?
- Ist dieses Vorgehen vereinbar mit den Gewinnspielregeln der Landesmedienanstalten?
- Angenommen, 9Live würde ab sofort überhaupt keinen Anrufer mehr ins Studio durchstellen: Wann, schätzen Sie, würde die BLM das bemerken?
- Und was würde sie dann tun?
- Täuscht mein Eindruck, dass die zweifelhaften Praktiken von 9Live für die BLM eine extrem niedrige Priorität haben?
- Warum ist das so?
- Würden Sie sagen, dass es eine Medienaufsicht in Deutschland gibt, die das Programm von 9Live kontrolliert?
Eine Antwort habe ich noch nicht bekommen, was daran liegen kann, dass der zuständige Pressereferent gerade im Urlaub ist — oder natürlich, zugegeben, am Tonfall meiner Anfrage.
[Das war ein bisschen voreilig, was hier stand, weil ich nicht genau genug zugehört/hingesehen habe. Die Sache ist komplexer, als ich dachte, deshalb hab ich den Eintrag der Einfachheit halber gelöscht. Entschuldigung!]
Ab Dienstag sucht ProSieben acht Wochen lang den „Nachfolger von Uri Geller“, und das ist schon im Ansatz ein Mysterium: Gesucht wird also jemand, der nicht nur ungeschickt genug ist, versehentlich einen seiner Tricks zu verraten, sondern sogar so ungeschickt, hinterher mit allen Mitteln zu versuchen, das Video davon aus dem Internet zu entfernen? Jemand, der aufmerksamkeitsgeil und gefährlich genug ist, sich nicht damit abzugeben, ein großer Illusionist zu sein, sondern zu behaupten, seine angeblichen Fähigkeiten von Außerirdischen bekommen zu haben? Jemand, der traurig genug ist, schon vor über dreißig Jahren in der „Tonight Show“ als Witzfigur überführt worden zu sein, als er nicht in der Lage war, seine berühmten Tricks vorzuführen, nachdem die Fernsehleute die zu manipulierenden Gegenstände selbst besorgt hatten? Jemand, der verzweifelt genug ist, sich bei der britischen Fernsehaufsicht über eine Sendung zu beschweren, die das esoterische Brimborium Gellers und anderer von Wissenschaftlern entzaubern ließ, und einen Kritiker zu verklagen, der behauptete, einen der von Geller verwendeten Zaubertricks vor Jahren auf der Rückseite einer Cornflakes-Packung gelesen zu haben? Jemand, der dreist genug ist, sich im Fall einer verschwundenen Frau als Helfer engagieren zu lassen und vorherzusagen, dass sie noch lebt und bald wieder auftauchen wird (sie ist nie wieder aufgetaucht und war zu diesem Zeitpunkt wohl längst tot)? Jemand, der größenwahnsinnig genug ist, zu behaupten, das Ende des Kalten Krieges dadurch mit herbeigeführt zu haben, dass er Michail Gorbatschow mit „friedvollen Gedanken“ bombadierte? Jemand, der soviel Pech bei seinen sportlichen Vorhersagen und behaupteten Einflussnahmen auf Ergebnisse hat, dass man, wenn man schon an übersinnliche Kräfte glauben wollte, von einem „Fluch des Uri Geller“ ausgehen muss, weil Sportler, denen er Siege vorhersagt, regelmäßig verlieren? Jemand, der dumm genug ist, bei der britischen Dschungelshow mitzumachen, langweilig genug, als erster herausgewählt zu werden, und weltfremd genug, hinterher zu sagen, er sei der einzige „international Prominente“ unter all den B- und C-Promis gewesen: „Ich war nie unten“?
Im israelischen Original zeigte eine Kamera versehentlich, wie sich Geller offenbar einen Magneten an den Finger klebt, um einen Kompass wie von Zauberhand zu bewegen. Dass ProSieben das Format trotzdem gekauft hat, von „übersinnlichen, übernatürlichen, unerklärlichen“ Phänomenen faselt, die zehn Kandidaten als „Auserwählte“ bezeichnet [avi] und wie so viele andere diesen ekligen Hochstapler hofiert: Das ist das einzige unerklärliche Phänomen des Uri Geller.
(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Weiterführende Links:
Die Umweltverbände Greenpeace und World Wide Fund For Nature (WWF) haben durch ihre Zusammenarbeit mit der „Bild“-Zeitung einen prominenten Unterstützer verloren: Der Grafiker und Verleger Klaus Staeck hat seine Mitgliedschaft im WWF gekündigt. Für Greenpeace will er in absehbarer Zeit keine Plakate mehr entwerfen.
Staeck, seit 2006 Präsident der Akademie der Künste, hat sich mit seinen Plakaten und Postkarten immer wieder gegen „Bild“ gewehrt und war Anfang der Achtziger Jahre einer der Initiatoren des Boykotts „Wir schreiben nicht für Springer-Zeitungen“ mit Heinrich Böll, Günter Grass und anderen. Für Greenpeace entwarf er einige Plakate, die Aufsehen erregten. Im Sommer 1990 klebte die Organisation deutschlandweit Plakate Staecks, die Porträtfotos des Hoechst-Chefs Wolfgang Hilger und seines Kollegen von Kali-Chemie, Cyril von Lierde zeigten. Darüber stand: „Alle reden vom Klima, wir ruinieren es.“ Die beiden Unternehmen waren die einzigen in Deutschland, die noch FCKW produzierten. Hilger klagte gegen das Motiv, in dem er ein „modernes An-den-Pranger-Stellen“ und eine „Diffamierung“ sah. Der Bundesgerichtshof gab Staeck schließlich Recht, das Bundesverfassungsgericht nahm eine Verfassungsbeschwerde Hilgers nicht an.
Greenpeace, WWF und BUND sind seit April 2007 Partner von „Bild“ bei der umstrittenen Aktion „Rettet unsere Erde“. Sie sollte 3,5 Millionen Tonnen Kohlendioxid einsparen. Nach Angaben von Greenpeace haben sich mehr als 30.000 Menschen im Sommer am ersten Energiesparwettbewerb beteiligt und „insgesamt rund 121.000 Tonnen CO2 eingespart“. Anfang Dezember veranstalteten die organisierten Umweltschützer mit „Bild“, Google und ProSieben eine symbolische Aktion, bei der die Deutschen aufgerufen wurden, für fünf Minuten das Licht auszuschalten, die ebenfalls auf Kritik stieß.
In der „Frankfurter Rundschau“ kritisierte Staeck die Partnerschaft von Greenpeace, WWF und BUND mit „Bild“ schon im Juni:
(…) Wer wie Greenpeace glaubt, allein die Reichweite einer Aktion zähle, hat die Rechnung ohne seinen ökologischen Verstand gemacht. Wer bei BILD „1000-Liter Gratis-Benzin“ gewinnen möchte und es auf Spritztouren in die Atmosphäre bläst, bei dem werden wohl auch die umweltrelevanten Tipps zwischen Autotests und Benzinpreisschelte ganz schnell verpuffen. Zumal wenn es sich um Ratschläge handelt, die „dem Lebensstil nicht wehtun“ sollen, wie Greenpeace die Kuschelkommunikation verkauft. Naiver geht’s nimmer. (…)
In diesen taktischen Bündnissen kann nur eine Seite gewinnen. Und das ist jene, die Glaubwürdigkeit benötigt und nicht die, die sie für eine vermeintlich größere Publicity verschleudert. Drei renommierte Umweltschutzorganisationen pokern derzeit mit dem größten Kapital, das sie besitzen. In der Hoffnung, „potentielle Mitkämpfer“ für den Klimaschutz zu gewinnen. Doch dabei verspielen sie ihren Kredit bei denen, die es damit wirklich ernst meinen. (…)
Jetzt zog Staeck, wie er mir bestätigte, auch persönliche Konsequenzen.
Und der Pinocchio-Preis 2007 in der Kategorie „Präsidentschaftskandidaten“ geht an… Mitt Romney für seinen Satz: „Ich habe meinen Vater mit Martin Luther King marschieren sehen“. Die Auszeichnung berücksichtigt nicht nur, dass George Romney allem Anschein nach nie mit Martin Luther King marschiert ist, sondern auch: dass die Behauptung Romneys nicht in freier Rede fiel; dass er sie seit 1978 wiederholt; dass er nachträglich versuchte, die Behauptung dadurch zu wahr erscheinen zu lassen, dass er das Wort „sehen“ originell interpretierte, und dass sein Team, anstatt den Fehler zu korrigieren, vermeintliche Augenzeugen mit ihren trügerischen Erinnerungen an die Medien vermittelte.
Michael Dobbs hat diese Wahl der „Flunkerei des Jahres“ getroffen. Für die Webseite der „Washington Post“ schreibt er das Blog „The Fact Checker“, überprüft dort zweifelhafte Aussagen der Kandidaten im Vorwahlkampf der USA und vergibt bis zu vier Pinocchios, je nach Grad der Wahrheitskrümmung.
Die Fälle, die er sich vornimmt, sagen mehr aus über die Kandidaten als nur, wie genau sie es mit der Wahrheit nehmen. Da ist das Zitat Fred Thompsons, die Amerikaner hätten „mehr Blut für die Freiheit anderer Nationen gegeben als jede andere Staatengruppe in der Weltgeschichte“ (vier Pinocchios), da ist Mitt Romneys Beteuerung, er hätte nur beim Thema Abtreibung seine Meinung fundamental geändert (noch keine Wertung), da ist Barack Obamas wiederholte Behauptung, es seien mehr junge schwarze Amerikaner im Gefängnis als in Universitäten und Colleges, und nicht zuletzt die perfide Diskussion um Obamas Schulzeit in einer Madrasa.
Für besonders ehrliche Aussagen gibt es gelegentlich auch das Gepetto-Häkchen. (Eines bekam Barak Obama für sein erfrischend aufrichtiges Statement über seinen früheren Drogengebrauch: „The point was to inhale. That was the point.“)
„The Fact Checker“ ist ein wunderbares Beispiel für das Potential, das das Medium Watchblog hat. Es ist aktuell, außerordentlich relevant und leicht zugänglich, bemüht sich um Unabhängigkeit und ist dabei doch nicht unpersönlich. Der offenkundige Wille, möglichst genau zu sein, geht nicht auf Kosten der Unterhaltsamkeit und umgekehrt (eine Kombination, die im anglo-amerikanischen Journalismus ohnehin häufiger ist als im deutschen).
Und „The Fact Checker“ ist nicht einfach nur irgendeine Internetseite einer großen Tageszeitung, sondern ein Blog im besten Sinne: Redakteur Dobbs belegt seine Aussagen mit zahlreichen Links, sowohl zu Originalquellen, als auch zu anderen Medien — zur „New York Times“ ebenso wie zu „Fox News“. Er lädt seine Leser zu Diskussionen über die angemessene Bewertung einer Lüge oder Manipulation ein und greift auf ihre Vorschläge zurück, welche zweifelhaften Aussagen überprüft werden sollen. Er zögert nicht, eigene Fehler zuzugeben und Einschätzungen zu revidieren. Seine Einträge lassen sich nach Kandidaten, Themen oder Zahl der vergebenen Pinocchios sortieren.
Und die Recherchen aus dem Blog finden ihren Weg immer wieder in die gedruckte Zeitung, teilweise sogar auf die erste Seite — und die Artikel verweisen wieder auf das Blog. Es ist, kurz gesagt, eine vorbildliche Zusammenarbeit von professionellen Journalisten und Rechercheuren mit dem Publikum, eine organische Kombination von klassischem Medium und Blog.
Ich weiß gar nicht, was mich mehr beeindruckt: die ausführliche, sorgfältige Art der Beweisführung, die gründliche, nachvollziehbare Recherche, das Bemühen, alle Seiten zu hören — oder das völlige Fehlen von Predigertum und Überheblichkeit, wie es schon die Selbstbeschreibung ausdrückt:
All judgments are subject to debate and criticism from our readers and interested parties, and can be revised if fresh evidence emerges. We invite you to join the discussion on these pages and contact the Fact Checker directly with tips, suggestions, and complaints. If you feel that we are being too harsh on one candidate and too soft on another, there is a simple remedy: let us know about misstatements and factual errors we may have overlooked.
Silvester ist nicht mein Tag. Ich werde im besten Fall sentimental, im schlimmsten Fall depressiv und in jedem Fall genervt von den ganzen Ritualen, die mit diesem, äh, Fest verbunden sind. (Besonders schön war vor vielen, vielen Jahren, als wir in einer Jugendherberge irgendwo in Irland waren und gegen Mitternacht die Deutschen kollektiv vor die Tür liefen, was ein bisschen abwegig war, weil es in Irland kein Feuerwerk gibt, und also etwas bedröppelt und mit dem merkwürdigen Gefühl unverrichteter Dinge wieder ins Haus gingen.)
Aber vielleicht taugt Silvester dann doch ganz gut dazu, mich zu bedanken. Für die Aufmerksamkeit vor allem. Ich bin mir sehr bewusst, dass das ein Geschenk ist: dass Leute sich dafür interessieren, was ich schreibe, und Anteil nehmen an dem, was ich mache. Danke für die Mithilfe, die Kommentare, die Kritik (und die Preise!).
Was BILDblog angeht, war 2007 ein erstaunliches Jahr. Anke Engelke, Christoph Maria Herbst, Chris Geletneky, Tobi Baumann und Ralf Günther haben uns einen Fernsehspot geschenkt. Charlotte Roche hat uns eine Lesung geschenkt, und Fettes Brot die Party danach. Max Goldt und Friedrich Küppersbusch, Jürgen Trittin und Knut, Miriam Meckel, Bastian Pastewka und viele andere haben uns Gastbeiträge geschenkt. Und unsere Leser hören nicht auf, uns sachdienliche Hinweise, Treue und Sympathie zu schenken. Wenn mir das jemand vor ein paar Jahren vorausgesagt hätte, ich hätte es nicht geglaubt. Danke!
Das wird kein vollständiger Jahresrückblick hier. Und wenn ich jetzt noch anfange, mich bei denen zu entschuldigen, denen ich unrecht getan und die ich vernachlässigt habe, wird’s vollends peinlich. Ich sag ja: Silvester ist nicht mein Tag.
(PS: Ein paar poetischere, klügere, kryptischere und in ihrer Möchtegernabgeklärtheit traurigere Gedanken zum Thema Jahreswechsel hat Herr Argh! aufgeschrieben.)
Vergangenen Sonntag hab ich in meiner Kolumne in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ über Thomas Kausch und seinen Auftritt als ARD-Guido-Knopp in der neuen Reihe „Geheimnis Geschichte“ geschrieben. Ich fürchte nur, dass man sich keine echte Vorstellung macht von dem Grauen, wenn man es nicht selbst gesehen hat. Sehen und staunen Sie also:
Link: sevenload.com
(Und mein Artikel dazu steht hier.)
Jeder Idiot darf Journalist werden, das garantiert das Grundgesetz, und viele werden es auch tatsächlich, das kann man Tag für Tag in den „etablierten“ Medien nachlesen, angucken, anhören.
Ich habe für die „taz“ zu der ganzen merkwürdigen Debatte, ob das Abendland untergeht, wenn jeder Depp einfach seine Meinung ins Internet schreibt, eine mittelgroße Tube eigenen Senfs ausgedrückt.