Autor: Stefan Niggemeier

9Live: Noch transparenter geht gar nicht

Ich schreibe für die morgige „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ mal wieder einen größeren Artikel über 9Live. Und habe der Pressetelle des Senders per E-Mail auch brav meine Fragen geschickt.

Liebe Frau …,

hier, wie besprochen, meine Fragen zu 9live.

Viele Grüße
Stefan Niggemeier

  • Was bedeutet es, wenn auf 9live ein „Countdown“ gezählt wird?
  • Haben die unterschiedlichen Geräusche oder ihr Fehlen eine Bedeutung?
  • Was ist eine „Schwellenzeit“ oder eine „Grenzzeit“, die die Moderatoren gelegentlich erwähnen?
  • Was bedeutet es, wenn der „Hot-Button“ in Flammen steht?
  • Inwiefern erhöhen mehrere „geöffnete Leitungen“ die Chance, in die Sendung durchgestellt zu werden? Ich verstehe das Prinzip des Hot Buttons so, dass ein Redakteur zu einem bestimmten Zeitpunkt jemanden, der gerade in der Leitung ist, zufällig auswählt. Die Zahl der durchgestellten Anrufer erhöht sich also nicht durch mehr Leitungen. Sehe ich das falsch?
  • Wieviele Leitungen gibt es insgesamt zu 9live? Stimmt die verschiedentlich zu lesende Zahl 30?
  • Warum werden bei 9live oft über Stunden keine Anrufer durchgestellt?
  • Warum überzieht 9live oft sehr lange die angegebene Zeit einzelner Sendungen?
  • In einer Sendung, in der es u.a. ein Auto zu gewinnen gab, öffnete der Moderator den vom Zuschauer gewählte Karton erst, nachdem der Kameramann für eine kurze Zeit von diesem Karton wegschwenkte. Die Aktion war sehr auffällig und ermöglichte es dem Moderator, den Gewinn in dem Karton noch auszutauschen (zu sehen u.a. hier). Ist es das, was 9live unter „Transparenz“ versteht?
  • Wie verhindert es 9live, dass von den Spielen insbesondere Spielsüchtige angesprochen werden?
  • Welche Funktion hat es, dass bei 9live immer wieder minutenlang extreme Blitz-, Blink-, Schnitt- und Zoomeffekte zu sehen sind?
  • Warum führt 9live die Zuschauer immer wieder über den Schwierigkeitsgrad von Spielen, bei denen verdeckte Begriffe an einer
    Tafel erraten werden müssen, in die Irre?

  • Fühlt sich 9live an die „Anwendungs- und Auslegungsregeln der Landesmedienanstalten für die Aufsicht über Fernseh-Gewinnspiele“ gebunden?
  • Konkret: Informiert 9live im Hot-Button-Modus den Zuschauer von Beginn des Spiels an darüber, in welchem Zeitrahmen eine Durchstellung vorgesehen ist?
  • Konkret: Stellt 9live sofort, wenn ein Zuschauer, der durchgestellt wurde, auflegt, einen weiterern Zuschauer durch?
  • Wird der korrekte Ablauf der Spiele in irgendeiner Form von einer unabhängigen Stelle kontrolliert?

Und weil es 9Live großen Wert darauf legt, dass die Spiele des Senders „transparent, fair und verständlich“ sind, bekam ich natürlich auch eine Antwort. Sie lautet vollständig so:

Lieber Herr Niggemeier,

vielen Dank für die Zusendung Ihrer Fragen, auf die ich Ihnen gerne wie folgt antworte.

9Live war bei der Formulierung und Ausgestaltung der Gewinnspiel-Regeln der Landesmedienanstalten maßgeblich beteiligt. Wir sind nach wie vor in einem Dialog mit den Landesmedienanstalten über die Weiterentwicklung des Regelwerks. Darüber hinaus unterliegt unser Programm der ständigen Programmaufsicht der Medienanstalten. Jeden Monat zahlen wir über eine Million Euro aus und machen über 6.000 Zuschauer zu Gewinnern. Wir produzieren täglich 14 Stunden Live-TV und wie in jeder anderen Unterhaltungsshow auch, sind Lichteffekte, Geräusche o. ä. ein Handwerkszeug des Regisseurs.

Die von Ihnen angesprochene Auto-Szene wurde bereits unmittelbar danach intern kritisiert. Wir finden die Kameraeinstellung ebenso unglücklich. Wir können Ihnen versichern, dass der vom Zuschauer ausgewählte Karton nicht ausgetauscht wurde. Im Übrigen könnte ein von Ihnen unterstellter Tausch gar nicht unbemerkt stattfinden, da viele Produktions-Mitarbeiter während der Live-Show im Studio arbeiten. Übrigens: Neben diesem Auto wurde an dem Sendetag ein weiteres Auto sowie rund 40.000 Euro ausgespielt.

Viele Grüße

Huch!

Neulich vorm BILDblog-Büro…

(Die Überwachung durch ein großes Verlagshaus hatte ich mir unauffälliger vorgestellt.)

Finale Journalisten-Fantasien

Die Jugendlichen, die ein Ehepaar in Tessin auf brutale Art getötet haben sollen, haben sich also vor der Tat anscheinend den Film „Final Fantasy VII — Advent Children“ angesehen.

Einen Trailer kann man sich hier (.mov) ansehen. [Nachtrag: Die Filmfreunde haben eine ausführliche Kritik.] Es scheint alles andere als ein friedlich-harmonischer Film zu sein. Andererseits schreiben uns BILDblog-Leser, die ihn gesehen haben, dass kein Blut fließe, niemand mit einem Schwert niedergemetzelt werde und die Gesamtzahl der Toten etwa vier betrage. Der Film ist in Deutschland ab 12 Jahren freigegeben, in den USA (wegen „intensiver Science-Fiction-Action-Gewalt“) ab 13, in Großbritannien (wegen „milder Fantasy-Gewalt“) de facto ab 8.

Das ist doch interessant: Wenn ein Film, der harmlos genug ist, um von Zwölfjährigen gesehen zu werden, dazu taugt, zwei Jugendlichen irgendwie als Vorlage für eine grauenhafte Gewalttat zu dienen — deutet das nicht darauf hin, dass nicht die Filme Menschen gewalttätig machen, sondern gewalttätige Menschen sich irgendwo die Vorlagen für ihre Gewalt suchen? Und sie sogar dort finden, wo andere Menschen nur mehr oder weniger harmlose Inhalte sehen?

Ohne den naheliegenden Fehler zu begehen, von diesem Einzelfall auf alle zu schließen, scheint er doch ein interessantes Beispiel zu sein, um die Debatte um die Wirkung von Gewaltdarstellungen in Filmen und Computerspielen zu versachlichen. Und von den simplen, falschen Kausalitäten wegzukommen.

Aber was machen die Medien? Sie verhindern diese Versachlichung der Diskussion schon dadurch, dass sie diesen Film nun reflexartig einen „Gewaltfilm“ nennen, so wie sie vorher das Computer-Rollenspiel „Final Fantasy VII“ (ebenfalls frei ab 12) als „Killerspiel“ bezeichneten. Die Nachrichtenagentur dpa schreibt:

Den seit Tagen diskutierten Zusammenhang der Tat mit Gewaltfilmen und Computerspielen bekräftigte die 15-jährige Geisel, die in „Stern TV“ von den Geschehnissen am Tatabend berichtete: Die beiden Jungen hätten zunächst im Haus von Felix den Gewaltfilm „Final Fantasy“ angesehen. Sie seien auch von dem dazugehörenden Computerspiel begeistert gewesen.

Die Nachrichtenagentur AP berichtet unter der Überschrift:

Jugendliche sahen vor Tessiner Bluttat Gewaltvideo

Und am Mittwoch abend behauptet dpa:

Die Hinweise verdichten sich den Erkenntnissen nach, dass sich die beiden 17-Jährigen bei ihrer Tat von „Final Fantasy“ leiten ließen, von dem es auch eine Computerspiel-Variante gibt.

Bei n-tv.de scheint immerhin jemand noch soviel Verstand gehabt zu haben, die Überschrift „Gewaltvideo ‚Final Fantasy‘ wird Wirklichkeit“ nachträglich abzuschwächen.

Wenn schon keiner der Kollegen in die Videothek geht, um sich diesen verdammten Film einmal selbst anzusehen (ich ja auch nicht) — könnten sie nicht wenigstens stutzen, wenn sie die Überschrift „Schüler sahen vor Tötung Gewalt-Video an“ über einen Artikel setzen, in dem es heißt: „Das Video ist bereits für Zwölfjährige freigegeben“?

Manchmal denke ich wirklich, es ist hoffnungslos mit den Journalisten.

Farbtipps von Blinden

Ich glaube, von allen schlechten Definitionen, was ein Blog ist, ist Turis die abwegigste:

Genau. Das Blog ist eine Gratis-Software. Entsprechend müsste gelten:

Zeitung, die; (von frühniederhochdeutsch: zidunge) ein kompliziert zu bedienendes teures Redaktions- oder Content-Management-System, das langsames und kostenpflichtiges Publizieren auf Papier ermöglicht.

Hilfe.

Und würde Turis Definition stimmen, was ein Blogger ist („ohne Honorar“), wären gerade die erfolgreichsten Blogger keine Blogger.

(Ich hab mir die Plätze 4 bis 20 seiner „20 wichtigsten Begriffe für Blogger“ daraufhin geschenkt.)

Killer-AGs

Das Journalisten-Rennen darum, wer größten Unsinn über die medialen Ursachen für die Gewaltat von Tessin schreibt, ist noch im vollen Gange. Aber der Kollege vom „Tagesspiegel“ liegt seit gestern uneinholbar in Führung, als er im Rahmen seiner Motivsuche über die Täter schrieb:

„Aus der Tatsache, dass die beiden die Computer-AG der Schule leiteten, will [Schulleiter] Stern keinen Grund ableiten.“

[via blargh]

Logorrhoe

Freitag, 12. Januar 2007. Die ARD-Intendanten beschließen in einer Schaltkonferenz, dass sich nun keiner mehr öffentlich zum Fall Jauch äußert, nur noch der amtierende ARD-Vorsitzende Fritz Raff.

Montag, 15. Januar 2007. SWR-Intendant Peter Voß publiziert einen „Offenen Brief“ an Jauch.

Braunschweig

Schreibt der Malcolm:

hier in braunschweig wird langsam alles ruhiger. inzwischen regen sich gerüchte, dass die stadt im herbst geschlossen wird und platz für einen großen parkplatz machen muss!

Schreib ich:

„hier in braunschweig wird langsam alles ruhiger“ klingt nach einem satz, den es rein logisch schon nicht geben kann. so etwa wie: „vorher bekam er als gehalt nichts. das wurde dann reduziert.“

Schreibt der Malcolm:

hey, dass du dich nicht täuscht! eine zeitlang war hier in braunschweig die hölle los! ich erinnere mich noch, als wäre es gestern: 20. august 2005 gegen frühen abend ließ jemand auf der jasperallee das autofenster auf, als er sich mal kurz bei der volksbank geld holen wollte. die laufende musik lockte prompt bestimmt sieben oder acht menschen an, die schier durchgedreht sind und spontan einen rave veranstalteten!

Die ARD, konkret

Günther Jauch, im „Spiegel“:

Ich musste zum Beispiel eine lächerliche Diskussion um die Archivöffnungszeiten der ARD führen. Da sollte ich für eine aktuelle Sonntagabendsendung akzeptieren, dass ab Freitagnachmittag wegen fehlender Planstellen kein Filmmaterial mehr abrufbar sei. So absurde Probleme werden zwar mit einem Anruf von ganz oben gelöst, erklären aber zugleich die innere Verfasstheit des Systems.

Nach allem, was ich über die ARD weiß, trifft es das sehr genau.

„Come on reader, make my day“

Es war der Vormittag des 28. Dezember 2006, und Toby Harnden, USA-Chef der britischen Zeitung „Daily Telegraph“, saß in seinem Büro in Washington und hatte ein Problem. Die Hinrichtung Saddam Husseins schien unmittelbar bevorzustehen, aber was auch unmittelbar bevorstand, war der Redaktionsschluss der Zeitung. Das Interesse der Menschen, etwas über das Geschehen in Bagdad zu erfahren, würde am nächsten Morgen vermutlich riesengroß sein, und der „Daily Telegraph“ fand, dass dieses Geschehen deshalb in der Zeitung nicht fehlen durfte. Aber da es zuvor bereits Dutzende Hinrichtungen gegeben hatte und Iraker und Amerikaner die Journalisten über den Ablauf informiert hatten, dachte Harnden, er könnte vorab ein fundiertes Stück schreiben, was wohl geschehen werde. Bzw., aus Sicht der Leser, was wohl geschehen ist.

Es war keine gute Entscheidung.

Harndens Stück erschien am 29. Dezember und beschrieb höchst detailliert die Hinrichtung, die es hätte werden sollen. Der Artikel [zu lesen hier in den Kommentaren] machte an verschiedenen Stellen deutlich, dass er vor dem tatsächlichen Geschehen geschrieben wurde. Doch das minderte seine Peinlichkeit nur minimal, als sich herausstellte, wie sehr die tatsächliche Prozedur von der theoretischen abwich. Die Zeitung hatte für den Artikel zudem ausgerechnet die Überschrift „Humiliated and hooded…“ gewählt, so dass einer der vielen Fehler auch noch herausstach (Saddam trug keine Maske) .

Nun lässt der „Daily Telegraph“ in seinem Internetangebot eine Reihe von Kolumnisten und Korrespondenten bloggen, und Harnden nutzte sein Blog, um die Geschichte hinter dieser Geschichte zu erzählen. Er antwortete dort einem Kritiker, der ihm eine heftige Beschwerde-E-Mail geschrieben hatte:

You’re right that writing about Saddam’s hanging before it happened was not my finest hour. It was one of those tricky journalistic challenges when no matter how much you hedge and speculate, the reality will always mischievously diverge from the finely-turned piece one filed.

Er begründete die Idee, die Hinrichtung zu beschreiben, bevor sie überhaupt stattgefunden hatte, mit dem Leser-Interesse gerade an den makaberen Details der Prozedur. Er beschrieb die Überlegungen in der Redaktion und erklärte das Geschehen mit der Schwierigkeit der „alten Medien“ mit ihren feststehenden Deadlines und den Komplikationen, über verschiedene Zeitzonen zu schreiben.

Harndens Erklärungen waren nicht immer überzeugend und warfen kein gutes Licht auf die faulen Kompromisse, die die Print-Journalisten bereit waren einzugehen, um den Nachteil des frühen Redaktionsschlusses zu verschleiern. Aber sie waren beeindruckend offen und transparent – einem Blog angemessen.

Diese Offenheit zahlte sich nicht aus. In Dutzenden Kommentaren wurde Harnden teils heftig beschimpft. Am Donnerstag wurde es dem „Daily Telegraph“ wohl zuviel mit der Transparenz – er entfernte den Eintrag mitsamt den Kommentaren ohne Erklärung von der Seite. Ein Sprecher der Zeitung sagte später, dies sei aus „rechtlichen Gründen“ geschehen.

Und der „Telegraph“ beließ es nicht dabei. Seine Blogger sollen nach einem Bericht des „Guardian“ nun nicht mehr über die Zeitung selbst oder Kunstgriffe und Praktiken der Branche schreiben und ihre Einträge vor der Veröffentlichung von einem Redakteur gegenchecken lassen.

Der „Telegraph“-Online-Nachrichtenchef Shane Richmond teilte seinen bloggenden Kollegen mit, dass Beschimpfungen des Bloggers oder von Lesern nicht mehr geduldet würden, und riet ihnen, auf solche ausfälligen Leser auch nicht in den Kommentaren einzugehen. Vor allem aber warnte er sie:

Please avoid blogging about your relationship with your employer, whether the Telegraph Media Group as an entity, ‚the desk‘ or ‚my boss‘, even in jest. Such comments are frequently misconstrued and can easily backfire.

Think carefully before blogging about journalistic ‚tricks of the trade‘. We don’t want to discourage this because it is one of the things people enjoy reading on the blogs but please be aware of anything that could be misunderstood or turned against you.

In seinem ursprünglichen Eintrag [zu finden hier unter den Kommentaren] hatte Harnden noch unter der Überschrift „Come on reader, make my day“ geschrieben, er könne mit dem heftigen, direkten Feedback der Leser in der heutigen Zeit umgehen. Seine Zeitung kann es offenkundig nicht. Und sie lässt ihn nicht einmal mehr das Dilemma selbst thematisieren.

2+2-6=4

Joachim Huber, Medienredakteur des Berliner „Tagesspiegels“, versucht anlässlich der Jauch-Geschichte das Wesen der ARD mathematisch zu erklären:

Die ARD besteht aus neun Landesrundfunkanstalten. Das sind eine Intendantin und acht Intendanten, multipliziert mit rund 600 Gremienmitgliedern, potenziert durch Dutzende Kommissionen.

Das ist rechnerisch abwegig, aber wenigstens ahne ich, was er meint: Die ARD hat zuviele Entscheider. Aber es geht weiter:

Im Leben des gemeinen Zuschauers ist zwei und zwei gleich vier. Im ARD-Leben geht das anders: zwei und zwei ist zehn minus sechs macht vier.

Hä?