Autor: Stefan Niggemeier

Ein Scherz für Kinder

Der kleine Jeetham muß zurück in seinen Slum: Bei Benefizshows ist die gute Tat wichtiger als der gute Geschmack

Wenn es November wird, vergeht keine Stunde, ohne daß irgendwo auf der Welt ein Prominenter in ein deutsches Mikrofon Sätze wie diese spricht: „Alles, was man für Kinder tun kann, ist wichtig. Ich setze mich sehr dafür ein. Denn Kinder sind doch unsere Zukunft.“ In diesem Fall stammen die Worte von Halle Berry und das Mikrofon von RTL, Variationen in der Formulierung sind erlaubt. Schon im Sommer wird damit begonnen, deutsche Schauspieler mit dürren fremden Kindern zu versehen und zu filmen. Der Sender macht daraus Beiträge von dreißig Sekunden und fügt Sätze hinzu wie: „Jeetham ist traurig. Seine Mutter und Maria Furtwängler bringen ihn zurück in seine Hütte in den Slums. Es fällt ihnen schwer, doch sie hoffen auf Unterstützung.“

Geschenkt: Jeder Euro, der für einen guten Zweck gespendet wird, weil jemand sich von solchen Bildern und Worten beeindrucken läßt, ist ein Gewinn. Die übergroße Mehrheit der Kinder kommt zu kurz, fast überall – außer im weihnachtlichen Wohltätigkeitsrausch. Die Designer von RTL haben es geschafft, den Vorspann ihres „Spendenmarathons“ diese Woche so randvoll mit großen, traurigen, fremden Kinderaugen zu packen, daß nicht einmal ihre Körper, kaum ein Haar, ein Hals zu sehen sind, nur Augen, die dem Moderator über die Schulter gucken, überlebensgroß, fast größer als die Logos der Sponsoren.

Ohne Kinderaugen geht wenig, wenn das Fernsehen sich ans Spendensammeln macht. Kinder sind selbst im Elend deutlich ansehnlicher als Kranke, Behinderte, Greise. Und sie sind unschuldig – da ist man sich ja nicht bei jedem Notleidenden so sicher. So sammelt das Fernsehen, wenn nicht gerade eine Jahrtausendflut ist, für Kinder. Kai Pflaume letztens in „Charity“ (Sat.1) für „Hand in Hand for Children“, Wolfram Kons in dieser Woche für die RTL-Stiftung „Wir helfen Kindern“, Dirk Bach gestern für die Unicef (ZDF), Thomas Gottschalk bald für „Ein Herz für Kinder“ (ZDF). Lobt man den Sat.1-Unterhaltungschef Matthias Alberti dafür, daß er sich traut, statt dessen für das sperrige Thema Aids zu sammeln, sagt der erst: „Öhm“, und dann: „Es gibt ja auch wichtige HIV-Projekte für Kinder, eines aus Südafrika werden wir ganz am Anfang der Sendung vorstellen.“ Vermutlich müßte man ihm sonst auch vorwerfen, die Erlösmöglichkeiten für die Deutsche-Aids-Stiftung fahrlässig zu gefährden.

Jobst Benthues, Unterhaltungschef von Pro Sieben, sagt, er sei überhaupt nicht daran interessiert, den Bildschirm mit traurigen Kinderaugen zu füllen – fast glaubt man es ihm, beim Sender, der gerne so flippig unelternhaft daherkommt. Und für wen wird Pro Sieben sammeln, mit einer großen neuen Aktion 2003? Für drei Organisationen: Eine für Kinder, eine für Kinder und eine für Kinder.

Das ist insofern tragisch, als es an anderen unterstützenswerten Hilfsorganisationen nicht mangelt. Für die Aids-Stiftung soll die Sat.1-Gala immer fast eine Hälfte der Gesamtspenden einbringen – da werden die Begehrlichkeiten groß und die Versuche, eine eigene Show zu bekommen, entsprechend verzweifelt. Alle Sender erzählen, daß Organisationen auf sie zugekommen seien mit dem Angebot, für eine Benefizshow zu ihren Gunsten auch einen erheblichen Teil der Produktionskosten zu übernehmen. Da dadurch mehr Geld zusammenkomme, als für die Sendung ausgegeben werden müßte, gehe das schon in Ordnung. Offiziell sind dennoch alle ganz empört über den damit verbundenen Mißbrauch von Spendengeldern und sagen, für sie käme so etwas nicht in Frage. Bei den Charity-Vereinen erzählt man die Geschichte übrigens umgekehrt: Es seien die Sender, die die Ausstrahlung von Galas gelegentlich davon abhängig machten, daß die Hilfsorganisation einen Teil der Showkosten übernimmt. Der MDR etwa hat den Fluthelfern die Kosten für das Callcenter in Rechnung gestellt – dabei waren sie verpflichtet, dafür die teuren Dienste einer MDR-Tochter in Anspruch zu nehmen. Einige in der Branche glauben, es gebe nicht zuletzt deshalb so viele Benefizshows, weil das der leichteste Weg sei, viele große Stars zu bekommen, preisgünstig, weil die „natürlich“ auf ihre Gage verzichten. Der Vorwurf trifft nicht alle. Regina Ziegler zum Beispiel, die die gestrige Unicef-Gala im ZDF produziert hat, legt Wert darauf, die Künstler, denen es freisteht, die Gage zu spenden, für ihre Arbeit normal zu bezahlen.

Manchen Künstlern ist dennoch nicht wohl bei der Mischung aus Imagewerbung, lustigen Auftritten und guter Tat. Der Komiker Bastian Pastewka spendet gerne, sagt er, geht aber zu den klassischen Formen mit Elendsbildern, Auftritt und Anrufmöglichkeit nicht hin. „Über den guten Zweck vergessen leider viele, eine gute Sendung zu machen“, sagt er. Karat singt auf der MDR-Flutgala: „Über sieben Brücken mußt du gehn.“ Dieter Thomas Heck steht in einer Dekoration aus den frühen achtziger Jahren und mahnt zum Thema Krebs: „Wir alle wissen nicht, wann diese Geißel der Menschheit direkt neben uns einschlagen kann.“ Verona Feldbusch, die gerade eine große goldene Version eines Schmuckstücks aus ihrer Kollektion versteigert hat, sagt: „Wer leer ausgegangen ist, muß sich das leider in kleinem Silber morgen nachkaufen.“ Und immer Katastrophenbilder, in denen der Originalton durch Geigen (ältere Zielgruppen) oder Peter Gabriel (jüngere Zielgruppen) ersetzt wurde.

Es darf – neuerdings – gelacht werden. Die Sat.1-Aids-Gala, im vergangenen Jahr noch eine Musikrevue, wird heute von Hape Kerkeling moderiert, der dafür mit einem achtjährigen Mädchen, das er als seine Nichte ausgab, durch die Bambi-Preisverleihung zog und Kollegen bat, sie aufzuklären. „Wenn die Menschen lachen“, sagt Sat.1-Mann Alberti, „kommt man viel näher an ihre Seele ran.“ Ab nächstem Jahr will Pro Sieben das britische Konzept des „Red Nose Day“ importieren. An diesem Tag kauft die halbe Insel eine rote Nase und macht schrille, witzige Aktionen, um Geld zu sammeln. Für die Lizenz bekommen die Briten von Pro Sieben zehn Prozent der deutschen Erlöse. „Der ,Red Nose Day‘ paßt gut zu uns“, sagt Jobst Benthues. „Er entspricht unserer internationalen Comedy-Tradition – und das Marketing freut sich, weil die Nasen unsere Senderfarbe haben. Es soll nicht verkrampft-staatstragend zugehen. Wir machen eine lustige Comedy-Show, bei der Künstler für einen guten Zweck aktiv werden.“ Dazu muß man sich das Pro-Sieben-Ensemble mit Stefan Raab, Elton, Erkan & Stefan vorstellen und wissen, daß die Aktion von Prime Productions produziert wird, die auch schon an Highlights wie der „Karl Dall Show“ und „Strip!“ (Ausziehen mit Jürgen und Ramona Drews) beteiligt war.

Benthues betont, daß die Aktionen rund um den 14. März keine reine Pro-Sieben-Veranstaltung bleiben, sondern allen offenstehen sollen. Nur die große Sendung wird auf Pro Sieben laufen, denn natürlich soll das Image, das mit der guten Tat verbunden wird, seinem Sender zugute kommen.

Ist das schlimm? Oder ist es schlimmer, daß manche ARD-Anstalt grundsätzlich keine Spendenshow macht, weil die Einschaltquoten dabei zurückgehen, bei Themen wie Aids sowieso? Beim ZDF, das mit gleich acht Sammelsendungen in diesem Jahr weit vorne liegt, räumt man ein, daß das auch damit zu tun hat, daß viele dieser Wohltätigkeitsorganisationen ja im ZDF-Fernsehrat säßen . . .

Die Hilfswerke der beiden großen Kirchen teilten sich eine ZDF-Benefizshow, die wegen Überfüllung nicht mehr in die Vorweihnachtszeit paßte und schon Mitte November laufen mußte. Da es sich aber zweifellos um eine vorweihnachtlich geprägte Musiksendung handelte, hatten die Kirchenleute ein Problem: Öffentlich kritisieren sie nämlich mit Kampagnen wie „Advent ist im Dezember!“ den Trend, schon ab dem Spätsommer Straßen zu schmücken und Lebkuchen zu verkaufen. Man fand dann einen Kompromiß: In den Liedern wurden nicht die „Weihnachtsglocken“ besungen, sondern „Winterglocken“. Oder waren es „Kinderglocken“? Hauptsache rührend.

Bauer-Verlag

Klatsch vom Fließband. Ein Verlag mit Gespür für den Massengeschmack: Bauer paßt zum Privatfernsehen.

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Sie hätten, statt des ganzen Bieterverfahrens um die Kirch Media, einfach einen Leo-Kirch-Ähnlichkeitswettbewerb veranstalten können – Heinz Heinrich Bauer hätte bestimmt gewonnen. Der Mann ist konservativ und öffentlichkeitsscheu, Christ und Patriarch, mythenumweht, und daß es von ihm nicht wie von Kirch nur eine Handvoll unscharfe Porträtfotos gibt, sondern zwei Handvoll, liegt allein daran, daß er sich einmal im Jahr öffentlich zeigt: bei der „Goldenen Feder“. Das ist eine merkwürdige Preisverleihung, die seit 1999 so organisiert ist, daß sehr viele, sehr prominente Menschen vorbeikommen, damit wenigstens an einem Tag im Jahr so etwas wie publizistischer Glanz auf das Unternehmen fällt. Aber selbst dann sitzt der heute 62 Jahre alte Verleger vorn an seinem Tisch und schweigt und läßt die Begrüßungsworte auf der Bühne von seiner Frau sprechen.

Warum der Hamburger Heinrich Bauer Verlag eine teure Image-Veranstaltung braucht, läßt sich nachvollziehen, wenn man einmal an den Kiosk geht, sich diverse Bauer-Zeitschriften greift, kurz grübelt, ob man einem Kassierer Rechenschaft über sein Kaufverhalten schuldet, und draußen das Zeitschriftenpaket verschämt zusammenrollt. Die Illustrierte „Neue Revue“, die eigentlich seit drei Jahren in einer Liga mit „Stern“ und „Bunte“ spielen soll, macht in dieser Woche mit der Information auf, daß Prinzessin Diana ihre Rivalin Camilla mit Gift im Champagnerglas töten wollte. Im Inneren enthüllt sie, daß man sich mit Homosexualiät keineswegs abfinden müsse, wie die Tochter von Berlusconi mit ihrem neuen, ehemals schwulen Freund bewiesen habe: „Sie hat ihn umgedreht.“ Die „Neue Revue“ markiert das obere Ende des Qualitätsspektrums des Bauer Verlages. Weiter unten befinden sich „Blitz Illu“ und „Coupé“, in denen es heute mehr denn je monoton um Genitalien und Stellungen geht. Das ist in diesem Fall ein Vorteil; vorher hatten dazwischen noch mehr Horror-Geschichten Platz, die auf unsägliche Weise Vorurteile pflegten und Panik schürten. Deutlich konsequenter, und gerne mal auf dem Index, sind die Titel „Sexy“, „Sexwoche“ und „Schlüsselloch“. Abgerundet wird dieses Segment durch Angebote wie schluck-alles.de.

Fast jede zweite verkaufte Klatschzeitschrift stammt aus dem Hause Bauer. Sie bedienen unterschiedliche Niveaus, am liebsten aber jenes, auf dem es genügt, wenn Günther Jauch in der „Achtziger Jahre Show“ darüber scherzt, wie gefährlich lange er damals in der Sonne gelegen habe, um daraus ein Titelthema zu stricken: Die Angst, in der Jauchs Familie wegen des Hautkrebses lebe.

Mehr noch dominiert Bauer den Markt der Fernsehzeitschriften und verdankt ihm sein größtes Format: „TV Movie“, die zu besten Zeiten mehr als drei Millionen verkaufte und heute noch zweieinhalb Millionen Exemplare abesetzt. Ihr Konzept einer vierzehntäglichen Fernsehzeitschrift mit umfangreichen Spielfilmtips war zwar eigentlich Dirk Mantheys Idee – sein Milchstraßenverlag hatte es mit „TV Spielfilm“ erfunden. Kreativität ist nicht die Stärke des Verlags oder seines Verlegers. Beide beherrschen aber eine Umsetzung im Detail, die bei den Massen ankommt. Notfalls zögert der Verlag nicht, seine Macht durch Preiskämpfe zu verteidigen: Als ein Konkurrent ein neues Segment im Fernsehzeitschriftenmarkt eröffnete – billiger und dünner als „TV Movie“ und „TV Spielfilm“ – setzte Bauer schnell ein eigenes Heft namens „TV 14“ zusammen und verkaufte es so lange zum Schleuderpreis, bis es alle Auflagenrekorde gebrochen hatte und die kleineren Mitbewerber abgehängt hatte. Mitbewerber, die nicht über die Fließbandproduktion und das finanzielle Polster des Bauer Verlages verfügten, dessen Verleger angeblich schon persönlich nachzählt, ob in einer Druckerei nicht zu viele Lampen hängen.

„TV Movie“ war lange ein strategisch besonders wichtiges Objekt für Bauer, weil es den Weg zu Anzeigen von Markenartiklern eröffnete. In die meisten anderen Blätter traute sich kaum ein Unternehmen, das einen Ruf zu verlieren hätte. „TV Movie“ war die erste Bauer-Zeitschrift, die sich nennenswert aus Werbeerlösen finanzierte. Bauer-Blätter sind Vertriebs-Zeitschriften, und damit war viele Jahre ein Makel und ein Minderwertigkeitskomplex verbunden. Als Heinz Bauer 1999 den PR-Profi und ehemaligen Kohl-Sprecher Andreas Fritzenkötter als Verlagssprecher engagierte, der auch die „Goldene Feder“ neu erfand, ging es nicht nur darum, etwas für die Außenwirkung zu tun. Fritzenkötter nahm sich auch vor, so etwas wie ein gutes Gefühl in der Mitarbeiterschaft aufzubauen. Anders als der Hamburger Rivale Gruner + Jahr, der schöne, edle Hefte herstellte und dessen Journalisten stolz waren, dazu beitragen zu dürfen, war an den Bauer-Zeitschriften nichts schön und edel – außer der Auflage. Die Gruner + Jahr-Zeitschriften hatten Preise, Image, große Namen; die Bauer-Titel waren seelenlose Produkte, von namenlosen Menschen in industrialisierten, rationalisierten Prozessen gefüllt und von Chefredakteuren kontrolliert, die bis zu fünf Titel gleichzeitig führen mußten oder durften. Und doch hatten die Bauers ein entscheidendes Argument gegen den Hochmut der Gruner + Jahr-Leute: Sie machten die Zeitschriften, die Millionen Menschen lesen wollten.

Es ist ein Argument, das jetzt schlagend geworden ist. Mit dem Einbruch der Anzeigenmärkte stehen plötzlich jene gut da, die nie viele Anzeigen hatten. Nicht die Qualitäts-, sondern die Massenpresse. Es ist kein Zufall, daß Bauer bislang im Fernsehen an einem Sender wie RTL 2 beteiligt war. Nicht nur wegen der offensichtlichen Nähe des Verlags, der „Bravo“ herausgibt, zu einem jungen Vollprogramm und nicht etwa, weil der Verlag auf Sex und Provokation festgelegt sei, die das RTL-2-Profil jahrelang ausmachten. Sondern weil ihm die Inhalte egal sind. Während sich die Bertelsmann- und RTL-Leute wanden, wenn RTL 2 sein Heil wieder in neuen Untiefen suchte, war Bauer daran interessiert, daß am Ende das Geld stimmte. Wenn RTL-2-Geschäftsführer Josef Andorfer glaubte, mit Flachsinn am meisten Gewinn machen zu können, gut. Wenn er glaubte, durch den Verzicht darauf am meisten Gewinn machen zu können, auch gut.

Bauer hat im Print-Bereich umgesetzt, was für das Privatfernsehen längst gilt: daß so etwas wie ein verlegerischer inhaltlicher Anspruch an Medien Ballast ist und nur die Quote zählt. Er hat längst die Sparmentalität in seinem Unternehmen umgesetzt, die zumindest in den nächsten Jahren das Fernsehen prägen muß, das weitere schmerzhafte Schritte noch vor sich hat. Bauer steht dafür, dies durchzusetzen. Und schließlich gewinnt er so die Millionen Kunden zurück, die ihm in den vergangenen Jahren verlorengegangen sind, als das Fernsehen die Themen der Boulevardpresse entdeckte.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Barbara Schöneberger

„Wer kein Geld hat, soll sich bei mir melden“. Wie macht man eine Show, die fast nichts kostet, und wird trotzdem für den Fernsehpreis nominiert? Fragen wir Barbara Schöneberger

Frau Schöneberger, haben Sie sich schon informiert, ob der Deutsche Fernsehpreis dotiert ist?

Nein, aber das war die erste Frage von allen meinen Freunden, als sie erfahren haben, daß ich nominiert bin: Und? Dotiert? Geil!

Und? Ist er?

Ich glaube, nur, wenn Günther Jauch gewinnt. Wenn wir ihn bekommen, dann nicht. Denn wo viel ist, muß noch mehr hin.

Dabei könnten Sie es so gut gebrauchen für Ihre kleine Show.

Ja, denkt man immer. Aber wir wollen gar nicht mehr. Wir kommen mit unserem schmalen Budget ganz gut zurecht.

„Blondes Gift“ lebt ja auch davon, daß Sie sagen: Dies hat der Requisiteur wieder nicht besorgt; hier hinten bricht das Bühnenbild zusammen; meine Redaktion besteht aus drei unfähigen Menschen…

… einem! Die Spiele werden mir ja immer aufgeschrieben. Da heißt es: „Barbara zieht aus einer Lostrommel Bingo-Kärtchen“ oder so. Es stellt sich heraus: Eine „Lostrommel“ ist ein Blumentopf, wo einer zwei Henkel drangeklebt hat, mit einer Pappe drumherum, das sieht aus wie ein schwules Handtäschchen. Und du guckst rein und fällst echt vom Glauben ab, denn in diesem Blumentopf, den du in der Hand hältst mit den Bingo-Kärtchen, war gerade noch eine Zwerg-Azalee drin, die auf meinem Schreibtisch stand. Jeder, der mal beim Fernsehen war, fällt bei uns vom Glauben ab. Das Studio ist ein normales Wohnhaus. Das Set könnte man in meinem Wohnzimmer aufbauen, und es wäre noch dicke Platz. Das Tor, durch das der Gast kommt, wurde früher von Hand von unserem ostdeutschen Quotenmitarbeiter mit einem Seilzug hochgezogen. Inzwischen funktioniert das elektrisch.

Plötzlicher Geldsegen?

Weil das Ding so schwer war, konnte der das nicht so reibungslos nach oben ziehen, daß es immer die gleiche Geschwindigkeit hat, sondern das war so hööö-hööö. Da haben wir dann gesagt — also, ich nicht, mich hat das nie gestört –, daß zu der sphärischen Musik ein Hau-Ruck-Hochziehen nicht so gut kommt.

Stand vor dem Dauerwitz über die Billig-Ausstattung echtes Entsetzen?

Na klar. Als der Komiker Bernhard Hoecker zu Gast war, hatten wir ein Spiel mit Höckern, also Kamelen, auf Höckern. In diesem Fall wurden einfach Bürostühle verschiedener Größe ins Studio geschoben, und man hat Plüschkamele da draufgesetzt, die mit Sicherheit nur ausgeliehen und nicht gekauft waren. Und das muß auch so sein. Du kannst ja nicht einen Messebauer beauftragen: Du, wir brauchen das und das, und es muß sich organisch in die Deko einfügen.

Jauch kann das.

Ja, Jauch sitzt auch in einem Studio, das 150mal größer ist und eine Deckenhöhe hat, wo gewisse Bauten Sinn machen. Bei uns ist es so, wenn ich die Hand oben ausstrecke und noch einen Stift halte, stoße ich an den Scheinwerfern an.

Nervt das nicht?

Nein, jetzt ist es toll. Ich mag diese High-Tech-Scheiße nicht. Egal, in welche Sendung du reinplatzt, es steht immer irgendwo ein Drei-mal-drei-Meter-Flatscreen, wo Muster draufgebeamt werden, und du weißt genau: Das Ding zu leihen kostet am Tag schon 30.000 Euro. Bei uns schrabbert halt dieses Tor nach oben, und ich finde, das hat viel Charme. Manchmal guck‘ ich mich im Monitor an, und dann sage ich zu Richy, der hinten am Licht sitzt, „Richy, was ist denn hier los?“, und Richy sagt: „Naa, das ist nur der Fernseher do, der ist nicht gscheit eigstellt, mußt amol auf meinen Monitor schaun, da schaugst du supa aus“, und dann sag ich, „Entschuldige mal, mir stehen Drähte aus dem Kopf, weil meine Haare, meine blonden, vor dem schwarzen Hintergrund aussehen, als wären sie zentimeterdick, die mir da so vom Kopf wegstehen, und ich hab‘ Ringe unter den Augen“, und er: „Naa, überhaupt net, das ist nur der Monitor.“

Hm.

Wir haben eine Pilotsendung aufgezeichnet mit Bully, da haben wir wirklich fünf Stunden an dieser dreiviertelstündigen Sendung gearbeitet, die nie gesendet werden konnte. Wir saßen da wie zwei Wasserleichen. Bully lief nur die Soße runter, er hat immer mit dem Zeigefinger so die Schweißperlen weggeschnipst, es war so heiß. Permanent sind die Sicherungen rausgeflogen. Mir standen die Haare weg, und die sehr bemühte Visagistin hat versucht, mit sehr viel Pomade mein Haar zu bändigen, was dazu führte, daß ich aussah, als wär‘ ich gerade aus der Dusche gekommen, mit so einem angeklatschten Fettkopf, es war wirklich fürchterlich.

Ahnt man in so einem Moment, daß diese billige Show einmal Kult werden könnte?

In dem Moment denkst du nur: Okay, Barbara, du machst das jetzt einfach. Es wird eh nie jemand erfahren, weil dahin, wo das läuft, verirrt sich kein Fernsehzuschauer.

Weit gefehlt.

Binnen zwei Wochen kannten das viele. Wir haben ja nicht durch Qualität auf uns aufmerksam gemacht, sondern durch Quantität. Wir wurden zu jeder Tages- und Nachtzeit wiederholt, mehrfach täglich, was zu einer ganz subversiven Durchdringung der Gesellschaft führte. Das war geil, dann kannte uns jeder, und dann konnte der WDR sagen: Okay, jetzt senden wir sonntags um null Uhr.

Gibt es jetzt vom WDR mehr Geld, oder haben die sich gefreut, nichts ausgeben zu müssen?

Es gibt schon mehr Geld. Bei den Ballungsraumpleitensendern gab es ja eigentlich Minusgeld. Der WDR ist unglaublich reich, und wir dürfen davon profitieren. Das Budget ist bestimmt locker 3000 Euro höher, aber das ist immer noch nichts.

Jetzt konkurrieren Sie um den Fernsehpreis mit Oliver Geißen und Günther Jauch…

…den absoluten Riesen…

…da drängt sich der Gedanke auf: Braucht man gar kein Geld, um gutes Fernsehen zu machen?

Die Frage ist natürlich: Wie kommerziell bin ich? Und: Könnte ich zur gleichen Sendezeit ebensoviele Leute unterhalten — da bin ich mir nicht so sicher. Ich denke, daß viele Leute das gutfinden, wenn das Studio groß ist und das Licht Kreise machen kann und dazu eine Melodie kommt wie dödödödödööö (macht die Runden-Anfangs-Melodie von „Wer wird Millionär“ nach). Das kommt allgemein schon gut an, und das versteht man auch unter „Großer Abendunterhaltung“. Mit meiner Show könnte ich um 20.15 Uhr wahrscheinlich keinen hinter dem Ofen hervorlocken.

Aber umgekehrt kann fehlendes Geld anscheinend keine Ausrede für langweiliges Programm sein.

Definitiv nicht. Ich finde das Allerschlimmste, wenn ein Sender wieder mit einer Unterhaltungsshow um die Ecke kommt, „du, das wird ganz toll, da werden die auf Schlitten reingefahren, und da fallen Kandidaten aus der Decke, und dann machen die ’nen Hubschrauberrundflug und alles groß groß groß“ — nicht oft hat man damit Erfolg. Ich glaube, es gibt nicht die Korrelation: viel Geld = viele Zuschauer, viel Geld = gute Unterhaltung.

Jetzt bekommen Sie den Fernsehpreis, jetzt wird alles anders.

Gott, ich weiß nicht, ob das so heilsbringend ist. Ich find’s nur schon geil, nominiert zu sein, das kann einem keiner nehmen. „Nominiert für den Fernsehpreis“, Punkt.

Soll sich gar nicht viel ändern?

Nein, es muß sich überhaupt nichts ändern. Das Schlimmste ist, wenn du denkst: Jetzt muß alles ganz groß werden, ganz schick, und plötzlich unterscheidet man sich in nichts mehr von Nina Ruge, und das ist natürlich bitter.

Alle werden Sie fragen: Wann machen Sie eine Samstagabendshow?

Ja, genau, weil der Samstag, 20.15, auch der dankbarste Fernsehtermin ist, herzlichen Glückwunsch. Ich glaube, im Marginalfernsehen, wie das so schön heißt, kann man sich mehrere Jahre gewinnbringend durchmogeln. Es gibt Leute, die machen seit 20 Jahren eine Nachrichtensendung im Dritten, die sind nie jemandem aufgefallen, und die fahren auch Porsche und haben eine Eigentumswohnung. Es gibt andere, die sind für sieben Monate on top bei RTL und fliegen dann derartig raus aus dem Kader, daß es für immer zappenduster bleibt. Klar reitet einen oft die Eitelkeit, ich will vorne dabeisein, aber ich glaube, wenn man da steht, denkt man sich manchmal: Ach, war das geil früher bei TV München.

Halten wir fest: Wenn den Sendern das Geld ausgeht, ist das keine Ausrede, schlechtes Fernsehen zu machen.

Nein, wer kein Geld mehr hat, soll sich bei mir melden. Ich bin gerne zu anspruchsvoller Abendunterhaltung mit wenig Geld bereit.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Bild-Zeitung

Nichts zu danken. Die „Bild“-Zeitung wird fünfzig Jahre alt – und alle, alle gratulieren. Doch gibt es was zu feiern?

Vielleicht muß man das einfach mal erlebt haben, daß einem Familienmitglieder wegsterben in einem furchtbaren Unfall und man am nächsten Tag nicht die paar Schritte von der Haustür zum Auto gehen kann, weil Fotografen und Reporter von der „Bild“-Zeitung am Grundstück lauern und einen verfolgen und fotografieren und wenig später anrufen und fragen, ob man sich wirklich ganz sicher sei, daß man nicht in einem Interview über die eigene Trauer reden wolle, weil man die Fotos von einem selbst und seinen Angehörigen veröffentlichen werde, so oder so, aber so wäre es vielleicht besser.

Vielleicht muß man das einfach mal erlebt haben, daß man mit seinem Laster einen tragischen Unfall verursacht, der zwei Menschen das Leben kostet, um festzustellen, daß damit der Tiefpunkt noch nicht erreicht ist, sondern erst am nächsten Tag, als die „Bild“-Zeitung ein riesiges Foto von einem abdruckt und einen Pfeil und daneben die Schlagzeile: „Er hat gerade zwei Berliner totgefahren.“

Vielleicht muß man das einfach mal erlebt haben, daß man vor Gericht steht, weil man möglicherweise als Handwerker einen Fehler gemacht hat und durch eine unglückliche Verkettung von Umständen ein Kind einen Stromstoß erleidet, der bleibende Schäden bei ihm auslöst, und am nächsten Tag sein eigenes Gesicht in der „Bild“-Zeitung sehen und daneben die Frage: „Hat der Elektriker Timmi auf dem Gewissen?“

Vielleicht würde es schon reichen, wenn man einmal erlebt hätte, wie das ist, als halbwegs prominenter Mensch von der Klatsch-Kolumnistin der „Bild“-Zeitung angerufen zu werden und sinngemäß gesagt zu bekommen: „Sag mir, mit wem du vögelst. Wenn du es mir nicht sagst, schreiben wir morgen, du vögelst mit XY.“

Wahrscheinlich wüßte man dann, daß die „Bild“-Zeitung lügt, wenn sie, wie gestern, schreibt: „,Bild‘ feiert Geburtstag. Ganz Deutschland freut sich, ganz Deutschland feiert mit.“ Wahrscheinlich würde man dann versuchen, die Jubiläumsfeierlichkeiten in der „Bild“-Zeitung weiträumig zu umfahren. Und wahrscheinlich würde man dann verzweifeln, weil man feststellen müßte, daß „Bild“ in diesen Tagen nicht nur Geburtstag hat, sondern heiliggesprochen wird, nicht nur von den angeschlossenen Springer-Blättern, nicht nur von den Konservativen und Staatstragenden, sondern auch von der halben liberalen Presse. Vor ein paar Jahren war es noch so, daß „Bild“ bäh war; alle lasen sie, aber wer sich bekannte, es gerne und interessiert zu tun, war in aufgeklärten Kreisen schnell ein Außenseiter. Heute ist es so, daß „Bild“ cool ist; alle lesen sie, und wer sich bekennt, sie für ein entsetzliches menschenverachtendes Blatt zu halten, ist in aufgeklärten Kreisen schnell ein Außenseiter.

Sie hat sich diese schillernde Oberfläche aus Nebensächlichem, Harmlosigkeiten und Selbstironie zugelegt, die Medienprofis und Intellektuellen gefällt. Die freuen sich über den Einfall, zum Fußball-Spiel am frühen Morgen die „Bild“-Zeitung mit zwei Titelseiten erscheinen zu lassen – je nach Sieg oder Niederlage. Sie interpretieren öffentlich, wie man das zu werten habe, daß die „Bild“-Zeitung, im kalkulierten Schein-Tabubruch, vor dem USA-Spiel schreibt: „Ami go home“, höhö. Sie sind süchtig nach dem täglichen Brief von Franz-Josef Wagner und neidisch auf seine Fähigkeit, den Wirrwarr in seinem Kopf ohne Umweg über Filter im Gehirn auf die Seiten fließen zu lassen. Sie schauen mit ein bißchen Abscheu und viel Faszination auf die Abgründe, die sich jeden Tag auf Seite eins auftun, auf die x-te Wendung im Uschi-Glas-Drama, staunen, wie „Bild“ es an guten Tagen schafft, wenn man glaubt, nun könnte ihnen dazu unmöglich noch etwas einfallen, sogar mehrere Dauer-Handlungsstränge zusammenlaufen zu lassen und die Schicksale von Klaus-Jürgen Wussow, Uschi Glas und Ireen Sheer unendlich kunstvoll ineinander zu verweben.

Sie lesen die „Bild“-Zeitung, kurz gesagt, als Fiktion. Und die „Bild“-Zeitung fördert das, indem sie – selbstbewußt und selbstreflexiv, fest verankert im postmodernen und postideologischen Zeitalter – ihre eigene Rolle im Blatt zum Thema macht und zum Beispiel das endlos weitergedrehte Wussow-Scheidungsdrama selbst zur Soap erklärt und mit eigenem Logo „Die Wussows“ samt Angabe der „Folge“ versieht.

„Kampagnen“ hat man dem Chefredakteur Kai Diekmann kurz nach seinem Amtsantritt vorgeworfen, und er hat das empört von sich gewiesen. So ein Unfug: Seit Diekmann Chefredakteur ist, finden auf der Seite eins der „Bild“-Zeitung fast ausschließlich Kampagnen statt – nur daß man sie, angesichts der Themen, eher „Fortsetzungsromane“ nennen müßte. Jedes Thema wird über Tage, Wochen, Monate gar weitergedreht, bis auch die letzte dramaturgische Wendung und irre Pointe herausgepreßt ist. Im Februar standen an vierzehn von vierundzwanzig Erscheinungstagen die privaten Sorgen von Uschi Glas und ihrer Familie auf der Titelseite der „Bild“. Ein Thema so ernst zu nehmen verlangt einen gewissen Unernst, ein Augenzwinkern. Das ist hohe Kunst. Da staunt die Branche. Und lacht.

Ob es auch dem durchschnittlichen Leser gefällt, ist eine andere Frage. Ausgerechnet im ersten Quartal, jenem mit den Uschi-Glas-Trennungs-Festspielen, sackte die Auflage der „Bild“-Zeitung um 200 000 Stück gegenüber dem Vorjahr ab, ein Rückgang um heftige fünf Prozent. Diekmann erklärt das damit, daß die Leser nicht mehr abgezählte Groschen rüberschieben konnten, sondern nach Cent kramen mußten. Frage: Würde die „Bild“-Zeitung einem Wirtschaftsboß oder Minister diese Erklärung durchgehen lassen?

In einer Lobhudelei attestierte die „Welt“ ihrem Schwesterblatt in der vergangenen Woche, daß „das heutige Blatt erheblich jünger und sexier wirkt als die Protestierenden von damals“ (was natürlich kein Kunststück ist, da es Menschen ein bißchen schwerer fällt als Zeitungen, den Alterungsprozeß durch den Austausch von Chefredakteuren aufzuhalten). Die „Welt“ weiter: „Die Intellektuellen haben aufgehört, sich über ,Bild‘ aufzuregen.“ Das Furchtbare an diesem Satz ist, daß er in doppelter Hinsicht stimmt. Er beinhaltet nämlich auch die Analyse, daß es nicht die „Bild“-Zeitung ist, die sich verändert hat, zahmer geworden sei etwa, sondern die Intellektuellen diejenigen sind, die sich geändert haben. Die Orientierungspunkte haben sich verschoben, die Medienwelt insgesamt, nur deshalb ist „Bild“ plötzlich kein Schmuddelkind mehr. Heute erzählt der nette Herr Röbel, der bis vor eineinhalb Jahren „Bild“-Chefredakteur war, im „Tagesspiegel“ ganz offen, wie das geht, dieses Witwenschütteln, das ihm sein Chef beigebracht hat, über den er „nichts Schlechtes sagen“ kann: „Hatte man etwa bei einem Unglück die Adresse von Hinterbliebenen herausgefunden, ist man sofort hingefahren, klar. Beim Abschied aber hat man die Klingelschilder an der Tür heimlich ausgetauscht, um die Konkurrenz zu verwirren. Ich war damals oft mit demselben Fotografen unterwegs, wir hatten eine perfekte Rollenaufteilung. Er hatte eine Stimme wie ein Pastor und begrüßte die Leute mit einem doppelten Händedruck, herzliches Beileid, Herr . . . Ich mußte dann nur noch zuhören. So kamen wir an die besten Fotos aus den Familienalben. . . . Es war einfach geil.“

Schwer zu sagen, ob all die Intellektuellen, die sich nicht mehr aufregen, all die liberalen Journalisten mit ihren Eigentlich-ist-sie-doch-gut-Artikeln zum Geburtstag, ob sie diese Methoden auch geil finden oder ob sich ihre „Bild“-Lektüre auf die witzigen, schrägen, spannenden ersten beiden Seiten, den Sport und den Klatsch am Schluß beschränkt. Dazwischen nämlich, vor allem in den Lokalteilen, läuft das Blut wie eh und je. Es vergeht kein Tag, ohne daß zum Beispiel „Bild Berlin“ der Leserschaft die Beteiligten eines Unfalls, eines Prozesses, irgendeiner Tragödie mit großen Fotos zum Fraß vorwirft. Eine Viertelseite füllt das Foto von Christian S. neben der Schlagzeile: „Ich habe eine nette Oma totgefahren. Was ist mein Leben jetzt noch wert?“ Verdächtige werden nicht dann zu Mördern, wenn sie verurteilt sind, sondern wenn „Bild“ sie dazu erklärt: „Anna (7) in Schultoilette vergewaltigt. Er war’s“ steht dann da und ein Pfeil und ein Bild, und im Text ist schon vom „Beweis seiner Schuld“ die Rede.

Jeder Beteiligte wird abgebildet und trotz eines Alibi-Balkens über seinen Augen (den auch nicht alle bekommen) mit Vornamen, abgekürztem Nachnamen und Ortsangabe für sein Umfeld eindeutig identifizierbar. „Weil sie sich mit ihrem Freund amüsierte – diese Berliner Mutter ließ ihren Sohn verhungern“, „Dominik (15) erhängte sich auf dem Dachboden“ – sie alle dürfen wir sehen. Es reicht schon, eine blinde Hündin ausgesetzt haben zu sollen, um mit Foto an den „Bild“-Pranger gestellt zu werden.

Das Blatt Axel C. Springers kämpft immer noch jeden Tag die alten Kämpfe. Wenn die PDS mitregiert in Berlin, schreibt „Bild“: „PDS krallt sich drei Senatoren-Posten“. Wenn Gregor Gysi Wirtschaftssenator wird, steht da an einem Tag die Frage: „Was wird jetzt aus Berlin“ und an einem anderen Tag die Antwort: „Gute Nacht, Berlin“ und nur ganz klein darunter in Klammern: “ . . . sagt Edmund Stoiber“. „Neue Stasi-Akten über Gysi gefunden“, heißt die Überschrift neben einem Bild, auf dem man ihm den bösen Spitzel schon anzusehen glaubt, doch im Text sagt ein Sprecher der Gauck-Behörde nur: „Hier und da wurde noch ein Blatt über ihn gefunden“ und der Autor ergänzt: „Ob brisant, dazu wurden keine Angaben gemacht“. Wenn es sein muß, wie vor einigen Monaten in Bremen, wird täglich neu gegen „Schein-Asylanten“ gehetzt. Sexualstraftätern wird konsequent das Mensch-Sein abgesprochen; sie sind „Monster“, deren Leben „im Knast schöner“ wird, „beinahe wie im Hotel“. Die Leser verstehen, ohne daß „Bild“ es hinschreiben müßte: Ihre Zeitung kämpft täglich für die Todesstrafe für Kinderschänder und -mörder.

Nein, neu ist das alles nicht. Das ist es ja: Im Kern ist die „Bild“-Zeitung die alte. Ein entsetzliches, menschenverachtendes Blatt.

Bitter daran, daß dies von weiten Teilen der veröffentlichten Meinung nicht mehr so gesehen wird, ist auch, daß es Kai Diekmann ermuntert, ein Bild von seiner Arbeit und seiner Zeitung zu zeichnen, das höchstens in einem Springerschen Paralleluniversum Berührungspunkte zu dem hat, was täglich nachzulesen ist. Der Mann, dessen Zeitung vom Presserat immer wieder wegen der immer gleichen Verstöße gerügt wird, dieser Mann sagt gegenüber der Katholischen Nachrichtenagentur: Die Grenzen des Boulevards seien dort, „wo Menschen verletzt werden könnten“ – daher messe sich die Zeitung regelmäßig an den journalistischen Leitlinien des Deutschen Presserats. Messen schon, nur verfehlt sie sie regelmäßig.

Der „Frankfurter Rundschau“ erzählt Diekmann: „Ich bin ein Streiter für journalistische Sorgfalt, gegen die Verluderung der Sitten.“ Jeder Reporter müsse selbst entscheiden, wo die Grenzen sind, aber er sage ihnen: „,Lieber haben wir dreimal das Bild nicht, als daß wir den Angehörigen der Opfer zu nahe treten.‘ Schließlich sind das Menschen, die ohne eigenes Zutun ins Licht der Öffentlichkeit gerückt sind.“ Das ist ein Satz, der so atemberaubend ist, daß er in jedes Schulbuch gehört. Und daneben der „Bild“-Artikel samt Foto von dem Maurer, der in seinem Dachstuhl verbrannt ist. Oder der „Bild“-Artikel samt Foto von dem dreizehnjährigen Unfallopfer: „Tot, weil er eine Sekunde nicht aufgepaßt hat“. Oder der „Bild“-Artikel samt Foto von dem Vizebürgermeister, der sich „in Pfütze totgefahren“ hat. Oder der „Bild“-Artikel samt Foto von dem Achtzehnjährigen, der nach einem Unfall auf regennasser Straße im Auto seines besten Freundes starb.

Dann sagt Kai Diekmann der „Frankfurter Rundschau“ noch dies: „Ganz im Ernst: Wer wirklich privat sein will, kann das selbstverständlich sein. Es gibt Menschen, Politiker, die setzen bewußt ihre Familie ein. Und andere, wie Günther Jauch oder Harald Schmidt, tun’s nicht. Die haben unbedingten Anspruch auf Schutz ihrer Privatsphäre.“ Wirklich privat wollte, nach eigenen Angaben, Alfred Biolek mit seinem Partner sein. Kai Diekmanns „Bild“-Zeitung gewährte ihm diese Ehre nicht. Zwei Tage lang zelebrierte sie eine Home-Story, die auch noch den Eindruck erweckte, sie sei von Biolek selbst initiiert. Wirklich privat wollte auch Anke S. sein, die Geliebte des Ehemanns von Uschi Glas. Anders als die „Luder“-Fraktion wollte sie entschieden nicht in die Presse, ging gegen die Veröffentlichung ihrer Bilder vor, doch im Februar gab es Zeiten, in denen sie Tag für Tag auf der ersten Seite der „Bild“-Zeitung nackt abgebildet war, einen schwarzen Balken nicht über den Augen, sondern ihrem Busen, als wäre der das Merkmal, an dem sie zu erkennen wäre. Biolek und Anke S. gehen juristisch gegen die „Bild“-Zeitung vor, wie Hunderte Prominente vor ihnen. Einige bekommen vor Gericht recht, die meisten einigen sich irgendwie mit der Zeitung, weil Recht eine Sache ist, die Feindschaft der „Bild“-Zeitung eine andere.

Selbst einige von jenen, denen die „Bild“-Zeitung übel mitgespielt hat, haben ihre Einwilligung gegeben, daß der Verlag ihr Foto für die Jubiläums-Kampagne benutzen darf, die auf geschickte Weise offenläßt, ob „Bild“ ihnen dankt oder sie „Bild“ danken. Öffentlich nicht mitfeiern wollen nur die Wallraffs dieser Welt, die man leicht als Ewiggestrige, Miesepeter, Spielverderber darstellen kann. Ach, und vielleicht der ein oder andere Mensch, dessen privates Unglück so ungleich unerträglicher dadurch wurde, daß die „Bild“-Zeitung davon lebt, es der ganzen Nation zu zeigen.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Time to say goodbye

Lettland gewinnt den Grand Prix, und Deutschland muß sich nach dem 21. Platz etwas Neues überlegen.

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TALLINN, 26. Mai. Ein Radioreporter schaffte es, die ganze Verzweiflung in eine Frage zu stecken. „Was ist los in Europa, daß ihr kleinen Länder immer gewinnt“, fragte er die siegreiche Lettin. „Was machen wir Deutschen falsch?“ Und Marija Naumova hatte eine erstaunlich konkrete Antwort: „Ihr müßt Wärme ausstrahlen. Ihr müßt auf die Bühne gehen und vergessen, was ihr macht, vergessen, daß ihr Deutsche seid, den ersten Platz vergessen und einfach eine warmherzige Show abliefern.“

Wer sagt noch, der Song Contest sei eine bedeutungslose Veranstaltung? Im vergangenen Jahr bot der deutsche Vorentscheid die Bühne für die öffentliche Hinrichtung der Medienfigur „Zlatko“, in diesem Jahr war das Finale der Rahmen für die endgültige Demontage des Mythos Ralph Siegel. Wenn er es an diesem Samstag nicht gemerkt hat, wird er es nie merken. Diesmal hat ihm die gesamte europäische Fernsehgemeinde mitgeteilt, daß die Zeit seiner bis zur Unkenntlichkeit auf Sieg getrimmten Produkte vorbei ist. Aus keinem Land gab es mehr als vier Punkte, aus den meisten Ländern überhaupt keinen Punkt, Corinna May kam in Tallinn auf den viertletzten Platz. Nachdem selbst einige seiner Mitarbeiter schon begonnen hatten, sich von ihm abzuwenden, entzog ihm gestern auch noch die „Bild“-Zeitung die Unterstützung: „Noch eine gute Nachricht gibt es seit der Grand-Prix-Katastrophe gestern Abend“, formulierte sie mit böser Ironie. „Ralph Siegel wird nie mehr beim großen Schlager-Wettstreit für Deutschland antreten.“

Die ersten Verschwörungstheorien machten am Samstag abend im fassungslosen Fantroß die Runde, der bereits Sieges-T-Shirts gedruckt und getragen hatte: Der Sieg der Lettin, die mit fünf Tänzerinnen und Tänzern eine große lateinamerikanische Show auf der Bühne zeigte und dabei mehrfach ihr Kleid wechselte, zeige, daß nicht das beste Lied gewinne, sondern die auffälligste Show. Hätten sie recht, wären allerdings nicht die unprätentios, aber eindringlich vorgetragenen Balladen von Großbritannien und Frankreich so weit nach vorne gekommen. Marija Naumova, die im vergangenen Jahr mit modernen Versionen französischer Chansons auffiel und am Entstehen ihres Liedes „I Wanna“ selbst mitwirkte, hält dagegen ihre auffällige Show für einen wesentlichen Grund für den Sieg. „Dieser Wettbewerb heißt zwar Song Contest, aber wenn er wirklich einer wäre, würde er im Radio stattfinden. Dies hier ist Fernsehen. Es geht nicht darum, was man hat, sondern wie man es präsentiert.“

Sie hatte eine nette Ricky-Martin-Nummer, trat auf voller Leichtigkeit und Lebensfreude und bekam aus ganz Europa dafür Punkte, von Spanien bis Israel. Und weil Ähnliches schon in den vergangenen Jahren passiert war, ist das katastrophale Abschneiden Deutschlands für den ARD-Grand-Prix-Chef Jürgen Meier-Beer ein positives Signal: „Die Esten haben den Song Contest wie noch nie zuvor als eine moderne Popshow inszeniert“, sagte er. „Auf dieser Bühne sah der deutsche Beitrag besonders altbacken aus. Die eindeutige Niederlage gibt mir die Möglichkeit, jetzt auch in Deutschland endgültig vom alten Grand-Prix-Image wegzukommen.“ Deutschland habe in den vergangenen Jahren entweder traditionelle, konservative Schlager ins Rennen geschickt oder – mit Stefan Raab und Guildo Horn – die schräge Parodie darauf. Am meisten Erfolg, das zeigten die Siege der vergangenen Jahre, verspreche aber moderner Pop, der Leichtigkeit ausstrahle. Er hat sich zum Ziel gesetzt, im kommenden Jahr einen Vorentscheid zu organisieren, der einen Gewinner mit solch unverkrampfter Leichtigkeit produziert.

Die Letten dürfen sich unterdessen an die ungleich größere Aufgabe machen, den Song Contest auszurichten und sich einen Platz im öffentlichen europäischen Bewußtsein zu sichern. Der lettische Ministerpräsident sagte bereits zu, daß seine Regierung es halten werde wie die Esten im vergangenen Jahr: Die mehreren Millionen Euro Kosten, die dem ausrichtenden Sender trotz Erlösen aus Sponsoring und Kartenverkauf entstehen, sollen aus dem Staatshaushalt bezahlt werden. In Estland sind diese Ausgaben angeblich allein durch zusätzliche Steuereinnahmen und das Geld, das die angereisten Fans und Delegierten im Land ließen, wieder hereingekommen, hinzu kommt ein unschätzbarer Imagegewinn. Das Land, unter dem sich die meisten im Ausland bisher ein Brachland kurz vor Sibirien vorstellten, präsentierte sich Hunderten Millionen Zuschauern – allein fast zehn Millionen in Deutschland – als modernen, kreativen und ehrgeizigen Teil Europas. Erstmals in der Geschichte des Gesangswettbewerbs gab es ein Thema, „ein modernes Märchen“, aus dem Design, Bühnenbild, alle Elemente der Show entwickelt wurden. Und weil man so eine scheinbar harmlose Gelegenheit nicht ungenutzt lassen sollte, waren die kleinen Postkarten-Filme vor den einzelnen Beiträgen voll bedeutungsschwangerer Anspielungen. In einem verglich sich Estland mit Dornröschen, das jahrhundertelang erstarrt war – unschwer als Metapher auf die russische Besatzung zu verstehen. Und ausgerechnet vor dem Titel der verhaßten Russen stand ein Film, der mit dem Wort „Freiheit“ endete. Den Finnen wiederum machten die Esten die Erfindung der Sauna streitig. Daß jedoch ausgerechnet vor dem Auftritt der blinden Corinna May ein holzgeschnitzter Pinocchio zum Behinderten wurde, indem ihm die Nase abfiel, soll unglücklicher Zufall gewesen sein.

Fast alle Favoriten fielen bei der Abstimmung durch. Anders als Deutschland, das als einer der größten Geldgeber der Eurovision gesetzt ist, müssen viele Länder, die sich noch Stunden zuvor Hoffnung auf einen Triumph gemacht hatten, im nächsten Jahr aussetzen. Doch so überraschend das Ergebnis war, so übereinstimmend war das Votum aus den unterschiedlichsten Ländern. Auch das macht die Faszination dieses Wettbewerbs aus: Es gibt ganz offensichtlich ein gemeinsames europäisches Bewußtsein – nur kennt es niemand.

Die Esten feierten den Song Contest mit einer Party auf dem mittelalterlichen Marktplatz ihrer Hauptstadt Tallinn. Unter dem in dieser Jahreszeit nie ganz dunkel werdenden Himmel und im gelben Schein der Laternen standen Esten, Russen und internationale Fans zu Tausenden in gefährlicher Enge, um bei ihren Beiträgen in Ekstase zu geraten. Als sich abzeichnete, daß Estland nicht mehr als einen hervorragenden dritten Platz erringen könnte, verlagerten sich die Sympathien zu den sonst nur bedingt geschätzten Nachbarn aus Lettland, die sich bis zum Schluß ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit Malta lieferten. Daß deren glatter ultrakommerzieller Pop, der vor allem bei den Ländern ankam, die nicht die Zuschauer, sondern Jurys abstimmen ließen, dank des Votums der Nachbarn aus Litauen vom entspannten Latinosound aus Lettland überrundet wurde, rief auf den Straßen Freudenfeste hervor.

Ralph Siegel aber hielt es, wie Corinna May, tapfer und pflichtbewußt eine gute Weile auf der Aftershow-Party aus. Er wünschte seinen Nachfolgern ein glücklicheres Händchen und sagte, es gebe Wichtigeres als den Grand Prix. Er wird nur noch herausfinden müssen, was es ist.

(c) Frankfurter Allgemeine Zeitung

Ralph Siegel

He can’t live without music. Ralph Siegel braucht den Sieg beim Grand Prix d’Eurovision in Tallinn

TALLINN, 24. Mai. Nichts braucht er mehr als diesen Sieg, und niemand braucht diesen Sieg mehr als er. Er muß gewinnen, er glaubt, er kann gewinnen, und beides zusammen macht ihn halb wahnsinnig. Die Mitarbeiter seiner Plattenfirma, die mitgereist sind nach Tallinn, haben es sich in diesen letzten Tagen zur Hauptaufgabe gemacht, Ralph Siegel von Corinna May und ihren fünf Begleiterinnen fernzuhalten. Damit sich sein Wahnsinn nicht auf die Sängerinnen überträgt. Damit der Druck, den er mit seiner Aufregung hervorruft, nicht noch größer wird, als er schon ist. Damit sie eine Chance haben, das hier einigermaßen zu überstehen.

Deshalb lenken sie ihn weg von den sechs Frauen und lassen ihn lieber noch einmal über die Details seines privaten Abendessens gehen, das er am Donnerstag abend für sein Team und einige Journalisten und Ehrengäste gibt, etwa 50 Personen insgesamt. Das Restaurant Gloria ist das Beste der Stadt, der Papst hat hier gegessen, aber Siegel ist unsicher, zweifelt am Menü, sucht akribisch die richtigen Weine aus und grübelt immer wieder über der Tischordnung. Auch das hier muß perfekt sein, wie alles, was mit dem Grand Prix zu tun hat. Zum Glück ist seine Freundin Kriemhild an seiner Seite, die ihn in seiner Manie gelegentlich bremst und beruhigt. Mit seiner außerordentlichen Aufmerksamkeit, die seine Mitarbeiter an ihm rühmen, der positiven Kehrseite des oft schwer erträglichen Perfektionismus, hat er beim Essen noch gesehen, daß einige Kollegen etwas unglücklich fernab saßen, und eigenhändig geholfen, Tische und Stühle herüberzutragen. Dann, nach dem zweiten Gang, steht er auf und hält eine Rede. Und in dieser Rede, in dieser knappen halben Stunde, steckt das ganze Drama um Ralph Siegel und seinen Grand Prix. Sein Pathos erfüllt den Raum schon nach dem ersten Satz, in dem er sich nur bei dem Pianisten des Restaurants bedankt. Er sagt: „Thank you for the music!“

Musik, sagt Ralph Siegel, haben die Menschen schon vor Jahrtausenden gebraucht, nicht nur Essen und Liebe. Was er selbst braucht, ist viel konkreter: „Der Grand Prix“, sagt er, „ist mein Lebenselixier.“ Dann fällt sein Blick auf den Texter Bernd Meinunger, für den der Grand Prix kein Lebenselixier ist, sondern eine Verrücktheit, die er aus Loyalität und Freundschaft zu Siegel mitmacht. Er sagt: „Bernd, wir schaffen’s doch immer wieder“ und erinnert sich an die vielen gemeinsamen Jahre und Abendessen wie diese, und er muß das Mikrofon für ein paar Sekunden zur Seite nehmen, weil Tränen in ihm aufsteigen, seine Kehle zuschnüren und seine Augen füllen. Seine engsten Freunde und Mitarbeiter befinden sich in diesem Raum, aber vermutlich niemand, der wirklich verstehen kann, was ihn immer wieder zu diesem Wettbewerb treibt. „Ralph, nicht noch einmal Grand Prix“, haben sie ihn angefleht. Und er hat gesagt: „Laßt es uns noch einmal probieren, Kinder.“

Für ihn ist der Grand Prix wie die Teilnahme an den Olympischen Spielen, und er meint damit nicht die Floskel, daß dabeisein alles ist. Er meint damit, daß es um nationale Ehre geht, weshalb er auch nicht versteht, wie Journalisten und Komiker so abfällig über ihn oder Corinna May schreiben können, wo beide doch auch für sie kämpften, für die Deutschen, für Deutschland. Und er meint damit, daß dieser Wettbewerb nicht einfach ein Witz ist, wo man mal hinfährt und sieht, wo man landet, sondern wo man alles, alles dafür tut, daß man gewinnt. Den Sängerinnen hat er Mitte der Woche erzählt, sie müßten nicht unbedingt gewinnen, Platz zwei und drei seien auch in Ordnung. Aber erstens glaubt ihm das hier kaum einer. Und zweitens bedeutet das ja auch, daß Platz vier schon nicht mehr in Ordnung ist.

Kein anderes Land setzt sich in diesem Jahr einem solchen Druck aus. Aber niemand anders als Siegel hat auch mit einer solchen Akribie fast ein Jahr lang auf den Sieg hingearbeitet. Im vergangenen Juli schon setzte er sich mit Meinunger zusammen und suchte nach einem passenden Titel zum Thema Musik, bis sie schließlich auf „I can’t live without music“ kamen. Auf den Text komponierte Siegel zehn verschiedene Melodien und überlegte drei Monate, bis er wußte: „Die ist es.“ Doch auch dann hörte er nicht auf zu basteln und zu schrauben. Die komplizierte Struktur des Liedes zeugt davon, daß er letztlich so viele Elemente aus den anderen Fassungen wie möglich in dieses eine Stück retten wollte. „Ich schreibe Titel gerne mal an einem Wochenende, aber hieran habe ich viele Monate gefeilt“, sagt er. Ralph Siegel hat sich nicht hingesetzt, einen Beitrag für die deutsche Vorentscheidung oder für Tallinn zu schreiben. Er hat sich hingesetzt, den Siegertitel des diesjährigen Grand Prix zu schreiben.

Und jetzt, bei diesem halböffentlichen Abendessen, beschwört er alles, was dafür sprechen könnte, daß dieses Projekt den einzigen angemessenen Abschluß findet. Johnny Logan, der zweimalige Grand-Prix-Sieger aus Irland, hat ein handgeschriebenes Fax mit „besten Wünschen“ geschickt: „Wenn das kein gutes Zeichen ist!“ Fast überall in Europa setzen die Buchmacher Deutschland auf Platz eins, was ja bedeute, erklärt Siegel, daß Menschen so sehr an sein Stück glaubten, daß sie sogar Geld dafür ausgäben. „Da habe ich doch das Gefühl, daß wir nicht so falsch liegen.“ In Internetforen findet er Zustimmung, Anrufer wünschen ihm Glück. „Das Feedback ist so schön, daß man’s gar nicht glauben kann“, sagt er. Und: „Ganz Deutschland drückt dir, Corinna, die Daumen aus ganzem Herzen.“

Er sagt, er wolle gewinnen, um die alte Entertainer- und Sportler-Regel „They never come back“ zu widerlegen, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Siegel braucht diesen Sieg, um all die Demütigungen der vergangenen Jahre zu überwinden. Die Niederlagen in den Vorentscheiden, das schlechte Abschneiden vor fünf Jahren im Finale, die traurigen Verkaufszahlen vieler seiner Künstler, die Behauptung, er sei einer von gestern. In dieser Rede in Tallinn tauchen sie alle wieder auf. Er erzählt von der Gruppe Sürpriz, mit der er 1999 den dritten Platz belegte – „aber das hat man in Deutschland nie so richtig bemerkt“. Er erzählt von Stefan Raab, „der mit allen Wassern gewaschene und mit allen Talenten gesegnete Stefan Raab“, der verhindert habe, daß er und Corinna May im Jahr darauf den Vorentscheid gewannen. Er erzählt von den Leuten in den Medien, „die nicht gecheckt haben, was für eine wunderbare Persönlichkeit du bist, Corinna, und was für eine großartige Stimme du hast“.

Dann verliert er noch einmal die Fassung, kämpft wieder gegen die Tränen und läßt sich vom Pathos vollends überwältigen. Dankt den Background-Sängerinnen, die, das sagt er wirklich, „devot und trotzdem sehr engagiert ihre Unterstützung geben“. Dankt dem deutschen Kommentator Peter Urban, der ja das Glück habe, jedes Jahr die Reise zum Song Contest antreten zu dürfen – „ich darf sie ja nur manchmal machen“. Dankt Mark Pittelkau von der „Bild“-Zeitung, daß er täglich Geschichten schreibt, „die wir mal mit Freude, mal mit Verbitterung lesen, aber auch das ist ja eine Leistung“. Und er dankt Corinna May – „so wie du singst, kenne ich selten jemanden, obwohl ich viele Künstler gehört habe“ – und schwärmt von dem Album, das er gerade mit ihr aufgenommen habe, in wochen- und monatelanger harter Arbeit, das so etwas Besonderes sei. Später läuft die Platte im Hintergrund, aber es fällt schwer, mehr darin zu hören als sehr konventionelle Cover-Versionen sehr naheliegender Evergreens wie „Come on baby light my fire“ oder „Blowing in the wind“.

Schließlich greift noch der Präsident des deutschen Grand-Prix-Fanclubs OGAE nach dem Mikrofon und hält eine atemberaubend devote Hymne auf Siegel. Er bedankt sich, daß der Meister nur die Ehrennadel seines Clubs trage (und nicht die des verfeindeten anderen deutschen Fanclubs) und fleht Siegel an, nicht wie – wieder einmal – angekündigt, zum letzten Mal für Deutschland beim Grand-Prix teilgenommen zu haben. Ohne seine Beteiligung seit inzwischen genau 30 Jahren hätte Deutschland all die großen, wunderbaren, zauberhaften Erfolge nicht feiern können, sagt er und setzt den Höhepunkt dieses höchst nationalen und höchst persönlichen Abends mit einer Handbewegung auf die jungen Background-Sängerinnen und dem Satz: „Ihr seid eine Zierde für unser Land.“

Ralph Siegel aber beendet seine Ansprache mit den Worten: „Wenn ich bei all den Anstrengungen der letzten Monate das Lachen manchmal verloren habe – ich hoffe, daß ich es am Samstag wiederfinde.“ Nicht auszudenken, wenn es anders käme.

(c) Frankfurter Allgemeine Zeitung

Bernd Meinunger

Höchstens ein bißchen Frieden. Warum Bernd Meinunger, der Songschreiber von Corinna May, den Grand-Prix pervers findet und eigentlich nicht gewinnen möchte.

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TALLINN, 23. Mai. Es ist nicht so, daß alle hier verrückt wären nach dieser Veranstaltung. Bernd Meinunger hat sich auf die Suche nach einem Golfplatz in der Nähe gemacht und einen gefunden, keine dreißig Kilometer von Tallinn entfernt, den einzigen in Estland. Dort hat er mit seiner Frau Golf gespielt, wie er das jedes Jahr tut, wenn ein Lied seines Freundes und Kollegen Ralph Siegel Deutschland beim Song Contest vertritt und er wieder den Text geschrieben hat. Beim Empfang des Bürgermeisters ist Meinunger schnell verschwunden, da waren ihm zu viele Leute; das Gedränge in der Residenz des deutschen Botschafters am Tag darauf hielt er kaum eine Minute aus. Und während Siegel durch die Hallen tigert, aufgekratzter noch als früher, und in jedes Mikrofon diktiert, mit dem Herzen glaube er zu gewinnen, nur sein Verstand mahne ihn, sich nicht sicher zu sein, ist Meinunger eher genervt, sich überhaupt eine Stunde mit einem Journalisten hinsetzen zu sollen. „Der Grand-Prix ist pervers“, sagt er und krault sich den grauen Bart, „ich verstehe nicht, warum sich der Ralph da so reinsteigert und wo er diesen unglaublichen Enthusiasmus hernimmt. Sicher würde ich mich freuen, wenn wir gewinnen. Aber soviel Energie da reinstecken? Dafür ist mir das nicht wichtig genug.“

Dann sagt er noch, daß es irgendwie auch schade wäre, wenn Deutschland gewänne, schade für Nicole, die dann nicht mehr unsere Einzige wäre, wenn ausgerechnet Siegel zwanzig Jahre später den Erfolg wiederhole. Das ist ein Satz, der an Blasphemie grenzt, aber Meinunger darf so was sagen. Er und Siegel arbeiten seit einem Vierteljahrhundert zusammen, und ihre Beziehung lebt von dem Kontrast zweier Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Siegel, der Getriebene, der die totale Öffentlichkeit genießt und alles zu einem Kampf um Ehre, nationale und persönliche, verklärt. Meinunger, der Abgeklärte, der am liebsten im Hintergrund bleibt und schreibt, was andere bei ihm bestellen.

Seit 1978 sind die Texte des gelernten Agrarwissenschaftlers die Alltagslyrik und das Grundrauschen der Deutschen. Als er das letzte Mal nachzählte in seinem Computer, kam er auf 3800 Titel, die Platten hat er archiviert, „aber ich höre sie mir eigentlich nie an“. Die großen Siegelschen Grand-Prix-Nummern wie „Ein bißchen Frieden“, „Dschingis Khan“, „Theater“ stammen von ihm, die späten Platten von Rex Gildo und die frühen von Peter Maffay, er textet heute für Nicole und für Gaby Altenburg, leistet sich begeistert Ausflüge in deutschen Rap und erfüllt pflichtgemäß Anfragen aus der volkstümlichen Musik. Er sagt, daß er kaum einen seiner Texte auswendig könne und viele nicht einmal wiedererkennen würde.

Meinungers Texte sind schlicht und handeln von der Liebe. Und wenn man ihn fragt, ob das nicht ein bißchen wenig ist, schaut er treuherzig und fragt, ob es überhaupt ein anderes wichtiges Thema gebe, aber er sieht dabei aus, als wüßte er, daß das weder die Frage noch die Antwort ist. Morgens um neun setzt er sich in seinem Büro in München an den Computer, meistens bekommt er per E-Mail die Melodie, einen halben Tag später ist die neue Herzschmerz-Kombination fertig. Er sieht sich als Handwerker und lehnt auch den Ausdruck „Fließband-Arbeit“ nicht ab, aber er legt Wert darauf, das Optimale für den Zweck abzuliefern, nicht diesen „peinlichen Schrott“, der seit zehn Jahren die deutsche Schlagerlandschaft verhunze. Es sind Auftragsproduktionen, bei denen sich Meinunger selber ausdenken muß, worüber der Sänger wohl gerne singen würde, weil der oft nicht einmal das selbst formulieren kann. „Ich arbeite extrem künstlerorientiert; ich schreibe nicht, was ich denke und fühle“, beteuert er. Und er fragt sich, warum nicht viel mehr Menschen den Beruf ausüben, gerade 300 sind es in Deutschland bei fünfmal so vielen Komponisten, wo er doch der einfachste der Welt sei.

„Schlager haben nur eine Botschaft: Fühlt euch wohl!“, sagt er. Allergisch sei er gegen den Wunsch, daß Lieder „Themen anpacken“ sollen. Doch zu seinem Leidwesen sehnen sich offenbar auch die Künstler nach Bedeutungsschwere. „Nach Jahren, in denen sie erfolgreich über Liebe und sonst nichts gesungen haben, kommen sie plötzlich an und wollen was über Seehunde. Aber da sage ich: Nicht mit mir!“ Ein Umwelt-Lied namens „Verlorenes Paradies“, das er für Vicky Leandros geschrieben hat, hört er heute nur noch „mit Schaudern“. Aber beim Grand gelten ja eben andere Regeln. „Ein Grand-Prix-Lied braucht natürlich eine Botschaft“, sagt Meinunger, weil Siegel das sage. „Da bin ich von Ralph inzwischen gedrillt, da muß alles kalkuliert sein: Das Stück muß in Deutschland ankommen, um die Vorentscheidung zu überstehen, es muß überall in Europa gefallen, sogar in Österreich, es muß perfekt zum Künstler passen, und früher, als es noch Jurys gab, mußte immer noch ein bißchen Kunst drin sein. Absurd, oder?“ Der Siegertitel 1982 entstand, weil Siegel in dem Jahr unbedingt ein Friedenslied machen wollte, Meinunger aber auf gar keinen Fall ein Friedenslied schreiben wollte, und er irgendwann sagte: „Höchstens ein bißchen Frieden“. Damit war der Titel, die sogenannte „Zeile“, gefunden. Und Meinunger schwört, daß die Geschichte nicht nur schön, sondern auch wahr sei.

Die „Zeile“ sei das allerwichtigste, wichtiger oft noch als die Musik. Zu Meinungers unangenehmsten Aufgaben gehört, wenn Siegel anruft und sagt, er brauche jetzt schnell eine Handvoll Zeilen für Nicole, oder, schlimmer, ein Produzent mal eben fünfzig Zeilen für die Kastelruther Spatzen bestellt. Die meisten davon landen im Papierkorb, zu den wenigen anderen darf Meinunger später den restlichen Text dazuerfinden. Dessen Stellenwert sei aber nicht mehr hoch. Bei „I can’t live without music“ für Corinna May komme es eigentlich nur auf die Person der Sängerin, die Musik und die Titelzeile an. Der Rest ist kaum mehr als Füllmaterial.

„Zudringliche Weltbeschwörungsphantasien“ findet der Grand-Prix-Experte Jan Feddersen Jahr für Jahr in Meinungers Texten. Dahinter steckt ein Handwerk, das aus wenig mehr zu bestehen scheint, als die Begriffe „Traum“ und „Freiheit“ immer neu zu kombinieren. 1987: „Gib dem Traum ein bißchen Freiheit“. 1999: „Wir haben einen Traum, der nie die Kraft verliert. Leben ist eine Reise, die nach morgen führt“ (wohin sonst?). 1992, ungewöhnlich konkret und dadurch besonders perfide: „Siehst du dort das junge Mädchen, auf dem Bahnsteig stehn/Sie glaubt einer von den Zügen/wird in die Freiheit gehn/Und der Mann, der seinen Job verlor/träumt, daß er’s allen zeigt/Wie Phönix aus der Asche steigt.“ Das Werk trug den Titel „Träume sind für alle da“, der Meinungers ganzes Ruhigstellungs-Pathos und leeres Glücksversprechen wie kein anderer auf den Punkt bringt.

Nicht, daß er ein Reaktionärer wäre. Er engagierte sich politisch auf der Uni, war im linken SDS, fand nichts entsetzlicher als Chris-Roberts-Schlager. Siegel lernte er kennen, weil er ein Stück für sich selbst geschrieben hatte: „Song of emancipation“. Am Ende sangen ihn andere und brachten ihm 25 Pfennig Tantiemen ein, und Meinunger verabschiedete sich von den Idealen und begann mit dem Geldverdienen. „Was für Ideale soll man beim Schlagertexten haben? Das interessiert kein Schwein.“ Und Michael Kunze, auch ein erfolgreicher Texter, der Schlager wie das „Ehrenwerte Haus“ für Udo Jürgens und „Aufrecht gehn“ für Mary Roos geschrieben hat, die genau das Maß an Sozialkritik und Lebenswahrheit enthalten, die so ein kleines Lied enthalten kann – hat der es nicht geschafft, sich ein paar Ideale zu bewahren? Das sei die Ausnahme, sagt Meinunger. „Neunzig Prozent von dem, was Kunze schreibt, ist auch ganz braver Schlager.“

„Braver Schlager“ ist einer der freundlicheren Ausdrücke für die Musik, die er hauptsächlich produzieren hilft. Das Adjektiv „beschissen“ benutzt er für einen Achtundfünfzigjährigen mit der Ausstrahlung eines ruhigen bayerischen Brummbärens erstaunlich oft, auch für den Disco-Trash der Gruppe „E-Rotic“, der er mit viel Spaß Texte wie „Max don’t have sex with your ex“ bescherte. Peter Maffay warf ihm einmal vor, daß er neben seiner Arbeit für ihn für so viele andere entsetzliche Leute arbeite. Meinunger erwiderte, er sei Architekt: „Ich kann nicht jeden Tag Villen zaubern, ich muß auch viele Garagen bauen.“ Vielleicht fünf Prozent dessen, was er so getextet habe, sei „ganz schön“, zu dem Rest sagt er: „Es wäre genauso gut gewesen, wenn ich es nicht gemacht hätte“ — auch in finanzieller Hinsicht, weil sich das meiste dann doch nicht verkauft. Andererseits kann er sich nicht vorstellen, daß ihm je die Lust vergeht, auch noch den fünftausendsten Schlager-Text aufzuschreiben.

Er hat Chris Roberts dann irgendwann kennengelernt und gemerkt, daß das ein ganz belesener, kluger Mann ist. Und er hat sich in einem ähnlichen Maß von der Branche korrumpieren lassen, wie er es bei ihm und anderen feststellte. Nur die Leidenschaft, die läßt er sich nicht absprechen. „Ich habe nicht weniger Leidenschaft als Ralph Siegel, aber ich bin realistischer. Ich lebe nicht mehr in der Zeit vor zwanzig Jahren, als der Grand Prix wichtig war und Platten verkaufte und Karrieren begann.“ Aber ins Schwärmen kommt er nur bei den alten Geschichten, wenn er über die anstrengende Zusammenarbeit mit Maffay redet und darüber, wieviel Spaß es machte, für Dschingis Khan zu schreiben, die nie eine Botschaft hatten. Und dann schwärmt er noch für Reinhard May, der Alltagsgeschichten so grandios erzähle, wie er es nicht könne. Und wie er schon in dessen allererste Platte „reingekrochen“ ist.

In welches Lied von Bernd Meinunger möchte man reinkriechen?

(c) Frankfurter Allgemeine Zeitung

Wie „Bild“ Corinna May vor Männern schützt

Sex, Macht, Politik – und Estland als Testland: Was uns der Grand Prix in der kommenden Woche bescheren wird.

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Sie hätte es längst getan haben können, zum ersten Mal seit drei Jahren. Sie hätte längst einen gefunden haben können, vielleicht einen estnischen Recken, wie ihre Sängerinnen sich wünschen, vielleicht einen sechzigjährigen türkischen Tänzer, wie ihn die „Bild“-Zeitung gefunden hat, jedenfalls jemanden, der sich „gut anfühlt“, wie sie selber sagt.

Und wir könnten längst weiter sein in dem Liebesdrama um Corinna May, vielleicht schon in der Phase, wo sie erzählt, wie zärtlich er im Bett war, oder in der, wo er erzählt, wie sie beim Sex leise singt, oder auch nur in der, wo „Bild“ beschreibt, wie liebevoll er ihr über die vielen Klippen hilft, die in dem wunderschönen alten, aber hoffnungslos verwinkelten Hotel Schlößle in Tallinn zwischen dem Eingang und ihrem Zimmer im Erdgeschoß liegen. Denn eigentlich wollte die „Bild“-Zeitung die große Corinna-May-sucht-einen-Mann-Serie schon im März bringen, aber dann kam Uschi Glas dazwischen.

Seit die schönsten Geschichten nicht mehr das Leben, sondern Mark Pittelkau in der „Bild“-Zeitung schreibt, muß man mit solchen Unbillen rechnen. Wenigstens besteht bei Corinna May nicht die Gefahr, daß sie, wie Michelle im vergangenen Jahr, im Beisein von Journalisten „ihr“ Grand-Prix-Tagebuch in „Bild“ liest und erschrickt und widerspricht.

Die anfänglichen Sorgen des NDR-Unterhaltungschefs und deutschen Grand-Prix-Beauftragten Jürgen Meier-Beer sind also verflogen, daß er nach den Jahren mit Stefan Raab und seiner eigenen PR-Maschine und Michelle und ihrem Riesenpack Kindheits- und Trennungsdramen sich diesmal gewaltig anstrengen müßte, um aus einer steifen, sperrigen, blinden Sängerin genug Medienstoff für eine Woche zu generieren. Und wenn Corinna May wieder solo bleiben sollte, kann sich die Rekordzahl von rund 120 anreisenden deutschen Journalisten (mehr als bei Raab!) immer noch auf schmutzige Details aus der Suite von Ralph Siegel verlassen.

Der Song-Contest ist nicht nur nicht totzukriegen, er lebt mehr denn je. Zum ersten Mal in seiner Geschichte wird sich in der kommenden Woche sogar das amerikanische Nachrichtenmagazin „Time“ mit ihm beschäftigen. Das freut vor allem das Gastgeberland, das sich so viel verspricht von diesem Ereignis.

„Eine Milliarden-Dollar-Chance für Estland“ hat der Generaldi-rektor des estnischen Fernsehens die Ausrichtung des Grand Prix genannt. Über die Zahl kann man streiten, über den Kern der Aussage nicht. „Jetzt sind wir auf der Landkarte präsent“, beschreibt Jörg-Dietrich Nackmayr, Direktor der Konrad-Adenauer-Stiftung in Tallinn die Stimmung im Land, „jetzt sehen die anderen Länder, wie toll wir sind.“ Zunächst einmal lernen sie: „Estland liegt nicht in der Tundra“, nennt der deutsche Botschafter in Tallinn, Gerhard Enver Schrömbgens, das Minimalziel. Er lädt am Dienstag zu einem Empfang in seine Residenz auf dem Domhügel in Tallinn. Dort wird Ralph Siegel sich an den Flügel setzen und mit Corinna May und estnischen Kindern singen und möglicherweise, so Schrömbgens‘ Hoffnung, einen kleinen Beitrag dazu leisten, daß die Deutschen sich an ein Land erinnern, das ihnen eigentlich nahe sein müßte. Im Grunde teilt er die Meinung der stolzen Esten, daß sich ihr Land sehen lassen kann: „Estland nutzt seine Kleinheit für Flexibilität und Agilität“, sagt er, und daß es in den üblichen Nationenvergleichen nicht ganz vorne auftauche, liege nur daran, daß es zu klein sei, um überhaupt aufzutauchen. Beispiel Olympia: Würden die Medaillenspiegel pro Kopf der Bevölkerung erstellt, läge Estland mit seinen drei Medaillen der letzten Winterspiele bei seinen 1,4 Millionen Einwohnern ganz vorne.

Auch nach innen ist die Bedeutung des Grand Prix erstaunlich – zumindest die Erwartungen, die an ihn geknüpft werden, sind es. Viel publiziert ist, daß die Zustimmung zu einem EU-Beitritt unter den Esten, die nach ihrer gerade erst erlangten Unabhängigkeit zögern, sich nun schon wieder einem Bündnis eingliedern zu sollen, nach dem Grand-Prix-Sieg im vergangenen Jahr um zehn Prozent anstieg. „Through EBU into EU“ soll die Regierung als Slogan ausgegeben haben – EBU ist die Eurovision, der Veranstalter des Wettbewerbs. Seitdem sind die Umfragewerte zwar wieder zurückgegangen, aber allgemein wird erwartet, daß sie in diesen Wochen, rund um die Veranstaltung, wieder ansteigen werden. „Die Esten freuen sich, daß Europa sie zur Kenntnis nimmt, sich um sie kümmert“, sagt Nackmayr. Er glaubt, daß der Grand Prix ein wichtiger emotionaler Bestandteil auf dem Weg nach Europa ist: „Dadurch werden auch Teile der Bevölkerung nach Europa mitgezogen, denen der schnelle Wandel eher angst macht und die vom Wirtschaftswunder nicht profitiert haben.“

Kein Wunder, daß sich die Regierung überreden ließ, die Ausrichtung zu finanzieren – jedenfalls, nachdem das kleine öffentlich-rechtliche ETV mit der Einstellung seines Sendebetriebes gedroht hatte. Alles, was nicht durch Sponsoren oder den Verkauf von Eintrittskarten hereinkommt, zahlt der Staat. Obwohl die Karten regulär 300 bis 450 Euro kosten (mehr als das durchschnittliche Monatseinkommen eines Esten), bleibt wohl ein Loch von mehreren Millionen Euro. Das weckt Begehrlichkeiten: So wollte die Regierung eine eigene Agentur beauftragen, die kleinen Filme zu drehen, die vor den einzelnen Beiträgen laufen, um Estland im richtigen PR-Licht zu präsentieren. Zum Glück war der estnische Grand-Prix-Chef Juhan Paadam vorher jahrelang so etwas wie der Außenminister seines Senders und entsprechend erfahren in Diplomatie. Mit sanftem Druck überzeugte er die Regierung, daß die beste Werbung für Estland nicht durch Agit-Prop erreicht werde, sondern durch eine gelungene Show ohne politische Einflußnahme.

Wer den Grand Prix nicht als Musik-, sondern als Fernsehereignis versteht, sah schon in den vergangenen beiden Jahren TV-Shows, die zweifelsohne state of the art waren. Nachdem die Schweden sich 2000 das Ziel setzten, eine moderne Show zu veranstalten und die Dänen im vergangenen Jahr aus dem Grand Prix ein Massenereignis im Fußballstadion machten, stellen die Esten den Grand Prix erstmals unter ein Motto: „Ein modernes Märchen“ wollen sie inszenieren und sich, ihre Unabhängigkeit und all die Kontraste aus Mittelalter und 21. Jahrhundert feiern, die das Land ausmachen. Es wird, nach allem was man hört, ein außergewöhnlicher Grand Prix, mit innovativem Bühnenkonzept, schrägem Design, modernster Umsetzung. Staunen soll die Welt, und zwar nicht zu knapp, über die Kreativität eines Landes, dem viele die erfolgreiche Ausrichtung eines solchen Großereignisses gar nicht zugetraut hätten.

Ach ja, bleibt noch die Musik. In diesem Jahr liegen die Griechen beim paneuropäischen Wettbewerb um den absurdesten Beitrag weit vorn. Sie schicken fünf Männer in Leder, die ein elektronisches Lied über Cyber-Sex singen: „Every time you need my love / Before you enter in my world / Give the password.“ Gleich eine Handvoll Länder hat sich entschieden, mit mehr oder (meistens) weniger gelungenen Revivals des Disco-Sounds der siebziger und achtziger Jahre ins Rennen zu gehen, es gibt langweilige Balladen, kalkulierten Pop, mißglückte Anleihen bei modernen Musikeinflüssen und viele Exoten, die sich alle Mühe geben, daß der Trash-Faktor des Ereignisses erhalten bleibt oder, positiv formuliert, die einen beruhigt staunen lassen über die Vielfalt Europas trotz Globalisierung und MTV und allem.

Zum Glück geht es ja nicht um Musik. Der Gewinnertitel des vergangenen Jahres, das Funk-Stück „Everybody“ von Tanel Padar und Dave Benton, war vermutlich der am wenigsten gehörte, gekaufte und gespielte Siegertitel in der Geschichte des Grand Prix, das Duo hat sich längst im Streit getrennt, einer startete seine Solo-Karriere mit einem Live-Konzert vor 41 Zuschauern, beide werden das Stück wohl nie wieder gemeinsam aufführen. Doch das Lied war so erfolglos wie folgenreich und beschert Estland nun die größte Aufmerksamkeit der europäischen Öffentlichkeit seit dem Mittelalter.

Was für Estland gilt, gilt auch für Corinna May. Natürlich würde ein Sieg ihres „I can’t live without music“ den Grand Prix auf seinem zögernden Kurs zu Modernität und musikalischer Relevanz um Jahre zurückwerfen. Aber was kümmert sie das, was kümmern sie die kaum nennenswerten Plattenverkäufe, wenn sie es dank des Grand Prix schafft, nach drei Jahren endlich wieder Sex zu haben?

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Die Esten werden die Ersten sein

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Vor dem Grand Prix: Besuch bei einem ehrgeizigen Volk.

Es ist, selbst wenn die örtliche Jugend gerade auf Knien und Skateboards die Rampen herunterrast, ein magischer Ort. Die Sonne taucht ihn in ihr besonderes, klares Licht, mit dem sie den Norden Europas dafür entschädigt, daß sie sich hier so selten blicken läßt. Ein steinernes Auge ragt vor der Küste aus dem Boden, starrt einen Rasenhang an, und die Dimensionen sind so gewaltig, daß man ins Grübeln kommen kann, auf welche Seite die Zuschauer gehören und auf welche die Akteure. Im Zweifelsfall läßt sich das eh nicht trennen. Ende der achtziger Jahre versammelte sich die halbe estnische Bevölkerung und lauschte nicht nur, wie es Tradition war, einem Wettstreit ihrer Chöre, sondern sang gemeinsam die verbotene Nationalhymne, um gegen die sowjetische Besatzung zu protestieren. Die „singende Revolution“.

Wer in der Hauptstadt Tallinn auf dem Sängerfeld steht, das englisch „Song Contest Grounds“ heißt, der ahnt, was es gerade für die Esten bedeutet haben muß, den „Song Contest“ der Eurovision gewonnen zu haben.

Schöne Idee, so aus der Ferne. Leider nur haben für die Esten der Schlager-Grand-Prix und die baltische Chorwettstreit-Tradition so viel gemein wie Ralph Siegel mit moderner Popmusik: nichts. Trotzdem hatte das Fernsehereignis selten für ein Land eine solche Bedeutung wie in diesem Jahr für Estland. Heute läßt sich kaum noch unterscheiden, was wirklich geschah, nach jenem Überraschungssieg im vergangenen Jahr, und was sich durch aufgeregtes Weitererzählen auf der Straße und in den Medien schon zum Mythos verklärt hat: Ist die Zustimmung der Esten zum Beitritt in die EU in der Woche nach dem Erfolg tatsächlich um zehn Prozent gestiegen? Hat ein Politiker den jubelnden Massen zugerufen: „Endlich haben wir Rußland besiegt?“ Glauben die Esten wirklich, daß sie drei schicksalhafte Aufgaben vor sich haben: den Beitritt in die EU und Nato und die Ausrichtung des Grand Prix?

Womöglich stimmt es sogar, daß der frühere Ministerpräsident Mart Laar in den Siebzigern die Show in Grand-Prix-Clubs im finnischen Fernsehen sah, als Fenster zur Welt und revolutionären Akt, weil das natürlich verboten war. Aber für die Masse der Menschen in Estland hatte der Song-Contest auch keine größere Bedeutung als bei uns. Die bekommt er erst jetzt. Die Regierung beteiligt sich mit mehreren Millionen Euro an den Kosten, weil sie weiß, daß so viel Aufmerksamkeit für ein kleines Land unbezahlbar ist, insbesondere für eines, das davon überzeugt ist, daß es ihm im Kern nur daran fehlt – an Aufmerksamkeit. Der Plan: Am 25. Mai werden mehr Menschen denn je auf Estland sehen, und sie werden sehen, daß es gut ist.

Man macht sich ja kein Bild. Hat allenfalls einen vagen Begriff von den „baltischen Staaten“, bei denen man weder die Reihenfolge kennt noch die Hauptstädte zuordnen kann. Das ist für die stolzen Esten besonders bitter, weil sie einerseits ein wenig gekränkt sind, daß die Eurovision Zweifel hatte, ob sie das Großereignis Grand Prix überhaupt ausrichten könnten, sich andererseits aber schütteln bei der Vorstellung, ein Land wie Litauen könnte einmal gewinnen, nicht auszudenken, das Chaos, man werde schon sehen. „Die Balten“ gibt es nicht, Esten sind introvertiert, diszipliniert, evangelisch, Litauer extrovertiert, chaotisch, katholisch, und wer das nicht schnell lernt, macht sich keine Freunde in Tallinn.

Es scheint, als hätte sich in den Jahren der russischen Unterdrückung ein riesiger Druck gebildet, der sich nach der Unabhängigkeit 1991 in Energie verwandelte. Als wollten sich die Esten mit Disziplin und Ehrgeiz in zehn Jahren nicht nur aus der Steinzeit in die Neuzeit katapultieren, sondern möglichst gleich in die erste Reihe der modernen Staaten. Sie haben eine Art papierlose Bürokratie entwickelt, bei der die Minister bei Kabinettssitzungen vor Laptops hocken und die Bevölkerung via Internet Zugang hat und sich freut, daß sich ihr Land auch „e-stonia“ schreiben läßt. Sie schicken sich an, Finnland den Ruf als Handy-besessenstes Land streitig zu machen, und bieten Autofahrern die Möglichkeit, Parktickets per Mobiltelefon zu bezahlen. Und sie haben überall blaue Schilder mit @-Zeichen aufgestellt, die den Weg zum nächsten Internet-Anschluß weisen – Verkehrszeichen, keine Reklameschilder. Sie stehen vor Cybercafés und Buchhandlungen. Auf dem Land warten sie am Straßenrand und weisen den Weg zu einem einsamen Haus, und wenn man klingelt, öffnet eine ältere Frau, führt einen in ein kleines Zimmer, schaltet den Computer ein, zeigt auf die Preisliste, die daneben liegt, und läßt einen surfen.

Das ist nicht ganz das, was man sich vorgestellt hatte. Wer nie dort war, schwankt auf der weiten Reise nach Norden und Osten, ob er sich Estland nun als einen Ableger des ultra-zivilisierten Skandinaviens vorstellen muß oder ein heruntergekommenes Stück Sowjetunion. Das Erstaunliche an Tallinn ist, daß es in mehreren Schichten all das verbirgt, was man sich vorstellt, und noch ein bißchen mehr. So kann man an einem kalten Winterabend (Frühling und Herbst fehlen zugunsten einer neunmonatigen Extended-Winter-Version) in Tallinn in wenigen Minuten eine Reise durch mindestens drei Welten antreten. Zwischen Flughafen und Innenstadt liegt gleich der Ostblock, beigegraue Häuser, breite Straßen in schlechtem Zustand, die von antik aussehenden Straßenbahnen gekreuzt werden. An den Haltestellen sitzen alte Mütterchen, Rußland ist nur ein paar Zugstunden entfernt.

Ein paar Schritte weiter rückt Rußland plötzlich ans andere Ende der Welt, dafür ist Lübeck ganz nah: Jenseits der Stadtmauer, von der heute noch mehr Wachtürme stehen, als man überhaupt je für nötig gehalten hätte, blättert sich die Altstadt als großes, pastellfarbenes Bilderbuch auf und erinnert an die Hansestadt Reval, die Tallinn einmal war: die meisten Häuser frisch herausgeputzt nach Jahren des Verfalls, Kopfsteinpflaster-Gassen und steile Stiegen, zum Glück in einem wilden Architektur-Mix aus den Jahrhunderten, was die Altstadt urig macht statt zuckersüß. Abends sind die Straßen bevölkert von finnischen Jugendlichen, die dem neuen Nachbarstaat ganz neue Freiheiten und preiswertes Bier verdanken, aber schon um zehn kaum noch stehen können.

Bis zum 1. Mai, der den Auftakt zum Sommer mit seinen „Weißen Nächten“ bildet, in denen die Sonne kaum untergeht und die Plätze voll sind mit Tischen und Bänken, sind die Straßen wenig später menschenleer. Gelbe Laternen tauchen die kalte Luft in ein unwirkliches Märchenlicht, das den Besucher völlig unvorbereitet läßt für die nächste Welt, nur eine Haustür entfernt: Im „Havanna Club“ tanzen sie Salsa, junge Paare drängen sich schwitzend auf einer Tanzfläche, ignorieren ausgelassen alle Klischees vom kühlen, verschlossenen Esten, und die gefrorene Märchenwelt für Touristen vor der Tür ist genauso unvorstellbar wie die Plattenbauten für die Russen ein paar Kilometer weiter.

In der „Nimega Bar“ erklärt einem der örtliche Vertreter der Adenauer-Stiftung, daß das Nachtleben sagenhaft wild sei, weil das Weggehen für die Esten, die ein paar Hundert Dollar im Monat verdienen, so teuer sei, daß es sich dann auch richtig lohnen müsse. Wie zum Beweis kommt gerade eine Bedienung vorbei, die nicht nur wie ihre Kolleginnen eine um beachtliche Mengen Stoff reduzierte braune Uniform trägt, sondern sich dazu klein „SS“ auf den nackten Rücken gemalt hat, was als Filzstiftzeichnung eher naiv denn politisch bedenklich wirkt und eine Menge aussagt über die merkwürdig ungespaltene Haltung der Esten gegenüber deutscher Geschichte. Selbst die SS ist hier, kurz gesagt, eher als Befreier von den Russen denn als Besatzer wahrgenommen worden.

Im halbprivaten Künstlerclub „Noku“ sitzen neben den Schauspielern junge Internet-Designer und Werbeleute, und wer Wert auf Geld und Stil legt, geht ins „Pegasus“, ein Restaurant in minimalistischem grauen Granit mit Philippe-Starck-Toilette, das genauso in Berlin-Mitte oder New York stehen könnte – und dort genauso cool wäre. Nur die Reiseführer haben dieses moderne Tallinn noch nicht entdeckt und staunen über den „Mut“, hier einen schwulen Club zu eröffnen, den „Nightman“, dabei empfiehlt den jeder aufgeklärte Hetero hier als angesagtesten Ort für den späteren Abend.

Anders gesagt: Tallinn ist bereit für den Grand Prix.

Ein bißchen Soufflé

Viel heiße Luft beim deutschen Grand-Prix-Vorentscheid.

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Der Grand Prix ist wie ein überfahrenes Tier auf der Landstraße. Man mag es nicht sehen und kann doch nicht aufhören hinzugucken. Und so sehen wir eine junge, blinde Frau, die es im dritten Versuch endlich geschafft hat, für Deutschland beim Song Contest singen zu dürfen, weshalb sie für die dreißig, vierzig Fotografen und Kameramänner, die sich vor ihr aufgebaut haben, immer und immer wieder die Arme zu einer Siegerpose hochreißen muß. Auf Zuruf der Fotografen reißt sie die Fäuste mit abgewinkeltem Ellenbogen hoch, und alle knipsen, und niemand sagt ihr, wie traurig das aussieht.

Und wir sehen neben ihr auf dem Podium Ralph Siegel, den sie „Mister Grand Prix“ nennen, weil bei ihm Lebenswerk und Schlagerwettstreit eine fast tragische Verbindung eingegangen sind. Und neben ihm Bernd Meinunger, über den man ähnliches nur deshalb nicht sagt, weil der Texter meist im Hintergrund steht, der aber Siegel fast immer die Texte zu seinen Melodien schreibt. Meinunger sagt, die Inspiration zu den Zeilen, die er für Corinna May geschrieben habe – „Ich kann nicht ohne Musik leben, nur du läßt mich weitermachen“ -, die Inspiration dazu stamme von der Künstlerin, für die Musik wirklich alles sei, einfach alles, und er sagt es, als habe er die Musikwelt damit revolutioniert, als hätten nicht Tausende Künstler die gleichen Zeilen, die gleiche Wahrheit millionenfach formuliert. Und Siegel sagt, seine Komposition sei „einfach ein so gelungenes Lied, auch von der Musik her“ und fügt tatsächlich hinzu, daß diese Musik, eine Mischung aus Boney M. und den immer gleichen Siegel’schen Versatzstücken, höchst modern sei, ja, Musik, wie Kylie Minogue sie gerade mache. So sitzen die beiden da und loben die „Super-Konkurrenz“ und erzählen, in wieviele Sprachen das Lied übersetzt werde, falls man im Mai in Estland gewinne, und plötzlich ist es 1982 und man wird den Gedanken nicht mehr los, wie Siegel jetzt nach Hause fährt, eine Gitarre weiß lackieren läßt und ein schwarzes Glitzerkleid kauft, denn Corinna May wird in Estland mit der Startnummer 18 auftreten, genau wie Nicole damals in Harrogate, wo sie gewann: „ein gutes Omen“.

Es ist diese Mischung aus unendlicher Banalität und unendlicher Wichtigkeit, die dazu führt, daß man den Grand Prix nicht ansehen kann und es trotzdem immer wieder tut. Dabei ist der Grand Prix auch eine Veranstaltung, in der Spaß und Geschäft und, ja, so etwas wie Talentförderung sich wunderbar verbinden. Um das zu erleben, hilft es hinzufahren, in diesem Jahr also in die Ostseehalle nach Kiel.

Ausverkauft ist sie nicht, kein Wunder – bis zu 50 Euro pro Karte, aber knapp 6000 Zuschauer sollen gekommen sein. Anders als in den Jahren, als Guildo Horn antrat oder Stefan Raab, ist es schwer, die Besucher nach Klischees zu sortieren und den Teilnehmern zuzuordnen. Erstaunlich viele Frauen mittleren Alters sind gekommen, unauffällig, ein bißchen herausgeputzt. Es ist nicht das Musikantenstadl-Publikum, auch kein reiner Tuntentreff, es sind viele junge Leute darunter, die nicht weiter auffallen. Man fragt sich, ob viele davon vielleicht nur wegen der Abwechslung hier sind, weil das Fernsehen eher selten nach Kiel kommt, doch dann treten, nachdem eine Aufwärmerin des Schlagerradios „NDR Welle Nord“ alles versucht hat, das Publikum einzuschläfern, die Weather Girls auf die Bühne, und der Laden explodiert. Innerhalb einer Sekunde ist das Publikum mitgerissen, applaudiert, trampelt, schwenkt Fähnchen und freut sich, dabeisein zu dürfen. Sie scheinen wirklich Spaß zu haben, nicht in seiner ironischen Brechung als „Kult“, einfach: Spaß. Wie die Weather Girls, die offensichtlich glücklich sind, den Laden (und mutmaßlich Millionen zu Hause) in Schwung zu bringen; wie vier Punks aus Cottbus namens SPN-X, die eine halbe Stunde vor der Sendung noch an der Bar im Pressezelt lehnen und Bier trinken, und dann auf die Bühne gehen, ihre Show machen, sich freuen, daß sie damit nicht nur ihren kleinen angereisten Fantrupp, sondern die halbe Halle mitreißen, und hinterher finden, daß die ganze Veranstaltung zwar „irgendwie peinlich“ gewesen sei, aber auch gut, weil die Kollegen nett waren und sie gar nicht so als Exoten behandelt haben. Diese Jungs sind beim Grand Prix, weil sie für ihre Musik leben und nicht für den Grand Prix.

Es geht trotzdem um viel. Nach Jahren völliger Belanglosigkeit ist die Veranstaltung zumindest für die Plattenindustrie höchst relevant. Außer bei „Wetten, daß. . .“ gibt es keine Möglichkeit, einen Künstler mit einem Schlag so vielen Millionen Menschen zu präsentieren, und bei „Wetten, daß. . .“ hat Nachwuchs eher keine Chance. Die Professionalisierung der Sendung und Titelauswahl führt leider auch dazu, daß sich spätestens nach der dritten wohlgeplanten Mainstream-Ballade Langeweile im Saal breit macht. Aber zum ersten Mal seit Jahren ist mehr als die Hälfte der Vorentscheidungsteilnehmer tatsächlich einigermaßen talentiert, stimmgewaltig und sogar in der Lage, live zu singen. Das ist doch was.

Bei solcher Bedeutung überläßt man lieber wenig dem Zufall, und so bestehen die Fanclubs, die man im Fernsehen jubeln sieht, überwiegend aus Mitarbeitern der Plattenfirma oder Freunden und Verwandten der Künstler. Der wahre Fan gibt sich mit so etwas nicht ab, und so sitzt auf der Tribüne eine sehr blonde junge Frau, die sich alle Mühe gibt, trotz kurzer Arme ihr selbstgestaltetes großes Plakat ins Bild zu bringen, dessen Text sie eher als Amateur im Plakatgestalten ausweist: „Go Linda Go“ hat sie darauf geschrieben, und darunter: „3 P steht für Musik mit Qualität, darum sind wir für die neue Soul-Königin“. Zwischen ein paar fröhlich pöbelnden Hools, die ein Ordner mit großer, aber letztlich nicht ausreichender Ausdauer immer wieder ermahnt, nicht auf die Stühle zu steigen, sitzt eine Rothaarige, um deren Oberkörper nur eine Art goldfarbene Serviette schlabbert, die gelegentlich ihren handgemalten Satz „SPN-X ich will ein Kindl von Euch“ hochhält, ein Kumpel in der Reihe vor ihr hat sich für die schlichte Aussage entschieden: „Bernhard Brinkts nicht“. (Dabei werden die Jungs von der Band später sagen, daß Bernhard Brink, der in der Halle gnadenlos ausgebuht wurde, ein dufter Typ sei und sie die einzigen waren, die morgens beim Frühstückstisch über seine Witze lachen konnten.) Außer bei der Kelly Family und der von „Bild“ und Dieter Bohlen ins Rennen geschickten jungen Isabel schien sich das Publikum mit allem anfreunden zu können, was ihnen geboten wurde: Die Anhänger des Mädchenduos Unity 2 zogen sich, nachdem ihre Favoritinnen fertig waren, die Einheits-Fan-T-Shirts aus, hielten sie an den Ärmeln hoch und schwenkten sie im Takt. Und ein einsames Mädchen im Parkett fand, daß es völlig reichte, ihre Werbe-Baseballkappe mit „Quam“-Aufdruck ein paar Zentimeter über dem Kopf zu schwenken. Und zu Hause saßen – trotz Olympia und Günther Jauch – nicht weniger als achteinhalb Millionen Zuschauer vor ihren Fernsehern und sahen sich an, wie Corinna May vor Joy Fleming, der Christen-Boygroup Normal Generation und den Kellys gewann.

Es war ein merkwürdiger Kontrast zwischen der genügsamen Menge im Publikum und dem unglaublichen Aufwand dieser Live-Sendung. Zwischen den unauffälligen Plätscherstücken und den Skandal-Geschichten, die die „Bild“-Zeitung täglich erfand. Noch nie, auch nicht zu Guildo-Horn-Zeiten, war das Medieninteresse an einem Grand-Prix-Vorentscheid so groß wie dieses Mal, 550 Journalisten waren akkreditiert. Und noch nie war die Diskrepanz so groß zwischen diesem offensichtlichen Interesse und dem, was sie an Substanz vorfanden, wobei Grand-Prix-Organisator Jürgen Meier-Beer gerne darauf hinweist, daß auch das beste Soufflé zur Hälfte aus Luft besteht. Aber vielleicht spiegelt sich in diesem scheinbaren Widerspruch ja nur eine Grand-Prix-Normalität, die in den Jahren der Verwahrlosung, aber auch den folgenden Jahren des Irrwitzes abhanden gekommen war: eine Mischung aus höchster Aufregung um eine schlichte Veranstaltung, die inzwischen höchst professionell auf musikalisch nicht ganz so hohem Niveau organisiert wird. So gesehen scheint der Grand Prix endlich zu Hause angekommen: in den frühen achtziger Jahren, bei Nicoles bißchen Frieden und mit Corinna Mays bißchen Musik.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung