Autor: Stefan Niggemeier

Nacktwanderers Nachmittagsgebet

Sexbesessene, Nekrophile und andere Schauspieler steigern die Quote — mit echten Perversen ist kaum ein Talk mehr zu machen.

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Die besten Geschichten schreibt nicht mehr das Leben. Die besten Geschichten schreibt die Redaktion von Richter Alexander Hold. Nächste Woche treffen sich vor seinem Gericht: ein arbeitsloser Schreiner, der seine minderjährige Freundin zum Sex mit seinem Vermieter zwang, eine Hausfrau, die das Glied ihres Ehemannes im Beisein ihrer Schwiegermutter nachhaltig mit einem Teppichmesser attackierte, ein Schüler, der während einer Theateraufführung einer Mitschülerin statt mit einer Attrappe mit einem echten Messer in den Unterleib stieß, ein Ehemann, der den Liebhaber seiner Frau im eigenen Ehebett mit einem Tennisschläger krankenhausreif schlug, sowie ein Bestattungshelfer, der den Kopf einer Leiche mit einem Schlachtermesser abtrennte.

Das Leben ist einfach zu beschäftigt, Geschichten über verlegte Schlüsselbunde oder verfärbte Oberhemden zu schreiben, um genügend Geschichten über Mütter zu produzieren, die ihre Kinder in Bahnhofsschließfächer einsperren, bevor sie auf den Strich gehen, wie sie Richter Hold für seine Sendung auf Sat.1 benötigt. Und wenn das Leben dann doch einmal dazu kommt, lassen oft Dramaturgie oder Inszenierung zu wünschen übrig — oder die Besetzung, und dann sitzt zwar die halbe Familie bei „Vera am Mittag“, aber keiner schafft es, die aufregenden Geschehnisse einigermaßen fesselnd und stringend nachzuerzählen.

Seit dem Start von „Hans Meiser“ im September 1992 haben uns die Fernsehmacher erzählt, daß die Menschen nichts lieber sehen wollen als einfache Leute, real people, „authentische“ Geschichten. Die Demokratisierung des Mediums wurde gefeiert, Menschen, die man vorher nie im Fernsehen gesehen hatte, füllten tagsüber die Bildschirme: Menschen, deren Armut man an den fehlenden Zähnen sehen und deren Sprachlosigkeit man hören konnte, bevor sie einen Ton gesagt hatten. Teile der deutschen Unterschicht schienen dank der täglichen Talks über Jahre von der Straße gekommen zu sein und ein Studiodach über den Kopf bekommen zu haben.

Vorbei. Die Inflation von Gerichtsshows am Nachmittag ist vor allem ein Sieg der freien Fiktion über die inszenierte Realität im Fernsehen. Zuletzt waren „Reality“ und „Authentizität“ die Standardrezepte der Fernsehleute gegen rückläufige Quoten – heute ist es das Gegenteil. Die Zuschauerzahlen der traditionellen Nachmittagstalkerin Nicole Noevers auf Pro Sieben stürzten ab, als RTL gegen sie die erfundenen Geschichten von Richterin Ruth Herz im „Jugendgericht“ in Stellung brachte, vor dem etwa Oscar (17) gegen Frederik klagt, weil der seinen Vollrausch zum Sex nutzte, obwohl er gar nicht schwul sei. Nicoles Redaktion lud daraufhin die echten Problemfälle aus und katapultierte sich mit Laiendarstellern weit zurück in die Steinzeit, die bei Talkshows „Karalus“, „Schmuddel“ und „Krawall“ heißt: Da diskutiert die Familie, wie der Vater die minderjährige Freundin seiner Tochter sexuell belästigte, was ihm Nicole per DNA-Test in der Sendung nachweist, und einmal schaltet sie „live“ vor den Kreißsaal, wo die Ankunft eines neues Kindes irgendein Familiendrama gerade dramatisch verschärft. Dies tat Nicoles Quoten gut – bis Richter Alexander Hold kam und den Perversen, Spinnern, Durchgeknallten und Mördern in seiner Sendung nicht mit dem Rat einer Psychologin kam, sondern sie gleich verknackte. Pro Sieben erlöst die nun der Quoten und Glaubwürdigkeit gleichermaßen beraubte Moderatorin durch Einstellung der Sendung.

Sat.1-Psychologin Angelika Kallwass, die mit der Richter-Schwemme auf den Bildschirm gespült wurde, setzte als einzige der Neuen auf „echte Menschen“ als Sendematerial — und wird dafür vom Publikum gnadenlos ignoriert. Von der übernächsten Woche an nehmen Autoren auch bei „Kallwass“ dem Leben das Schreiben der Geschichten aus der Hand. Mit Schauspielern lasse sich das Tempo der Sendung steigern, sagt Sat.1-Sprecherin Kristina Faßler — im echten Mutter-Sohn-Konflikt lassen die Tränen in der Show oft eine Viertelstunde auf sich warten!

Es ist ein erster und letzter verzweifelter Rettungsversuch, der der Sendung Action injiziert — und den Sinn nimmt. Warum sollte man Schauspielern zusehen, wie sie so tun, als würden die Vermittlungsversuche einer echten Psychologin funktionieren?

Andererseits: Warum sollte man echten Richtern zusehen, wie sie schlechte Schauspieler zu fiktiven Gefängnisstrafen verurteilen? Trotzdem tun es die Menschen in Scharen. So entstehen die traurigsten Karrieren der Welt, wie die von Hold, 39, der sechs Jahre Rechtswissenschaften, Politikwissenschaft und Philosophie studierte, ein dreijähriges Rechtsreferendariat machte, fünf Jahre als Staatsanwalt und drei als Richter arbeitete, um sich heute im Privatfernsehen vor als Sexmonstern verkleideten Laiendarstellern aufzuplustern, Autorität zu heucheln und ihnen streng ins Gewissen zu reden.

Ganz ohne Podium sind „echte Leute“, die im Fernsehen über ihre Potenzprobleme reden wollen, noch nicht. Im Moment sieht es so aus, als würden von den dreizehn klassischen Talks sieben übrigbleiben, und deren Moderatoren beteuern, daß sie niemals wie Nicole zur Fiktion greifen würden: „Warum soll man sich eine solche Show ansehen, wenn da nur Darsteller Emotionen spielen“, fragt Bärbel Schäfer. Sie glaubt, daß Authentizität nach wie vor der Hauptgrund ist, aus dem die Zuschauer ihre Sendung einschalten, und das tun sie im Moment ganz eifrig. Die Flucht der Kollegen in die Fiktion sei auch die Möglichkeit, „noch einmal Themen aufzugreifen, die wir mit echten Gästen aufgrund des freiwilligen Verhaltenskodex der Talkshows gar nicht machen dürften“.

Mit dem Abschied von der Authentizität sind die Fälle nicht nur skurriler geworden (nächste Woche bei Richterin Barbara Salesch: der Nacktwanderer, der von einem prüden Ehepaar über einem Ameisenhaufen gefesselt wird), sondern Themen und Tonfall dramatisch schärfer. „Ein großer Reiz in den erfundenen Geschichten liegt für die Sender darin, daß sie exakt das Niveau bestimmen können, auf dem ihre Shows spielen sollen“, sagt Joachim von Gottberg, Geschäftsführer der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen. Mit Schauspielern könnten die Macher bis hart an die Grenze des Erlaubten gehen – ohne die Gefahr, daß ein unkontrollierter Gast sie überschreitet. Und wenn ein Richter oder eine Psychologin am Ende der Sendung ein Urteil fällen, können auch die gefährlichsten Praktiken ausführlich diskutiert werden – mit dem dramaturgisch zwingenden Schluß wird in jedem Fall die elementare Forderung der Jugendschützer nach einer „Einordnung“ problematischer Verhaltensweisen „in der gebotenen Schärfe in den normativen Kontext“ erfüllt.

Fiktionale Talk- und Justiz-Shows haben, wenn der Zuschauer sie grundsätzlich akzeptiert, nur Vorteile für die Sender: Alles läßt sich steuern, von Varianten des „Maschendrahtzaun“-Wahns bedrohte Laienopfer stehen nicht mehr zu befürchten, die teure Gästesuche entfällt, ein Großteil der Auseinandersetzung mit Landesmedienanstalten ebenso und die lästige Frage, ob nicht die „echten Leute“ ohnehin vielleicht Hochstapler oder Schauspieler waren, sowieso. Daß zu den ab Dezember vier Fiktion-Talkshows weitere hinzukommen werden, gilt als sicher.

Und die echten Leute? Dürfen bei Günther Jauch auf dem unbequemen Hocker kauern oder sich die Füße wundtanzen, um ganz vielleicht Popstars zu werden. Aber ohne dramaturgischen Rahmen auf eine Talkbühne oder in einen Container kommen sie nicht mehr in neue Shows auf den Bildschirm. Bei der Nachfolgesendung für Pro-Sieben-Talker Andreas Türck mit Tobias Schlegl ist Gespräch nur noch ein Element, „auf das wir nicht verzichten wollen“, wie Produzentin Bärbel Schäfer sagt, aber drum herum wird es Musik, Außendrehs, Show geben.

Und von „Versuchung im Paradies“, der letzten „Big Brother“-Variante, die auf RTL am späten Samstagabend läuft, wird es wohl keine Fortsetzung geben: Weit weniger Zuschauer, als RTL erwartet, wollten zusehen, ob „echte“ Paare auf einer einsamen Insel bei entsprechendem Angebot fremdgehen. Bei der Firma Endemol, die ein ähnliches Format im Angebot hat, sagt man, der mangelnde Erfolg sei kein Wunder. Wenn man die Situation der Paare nicht mit ein paar erfundenen Geschichten über das, was der Partner angeblich gerade getrieben hat, anheizt, sei der Zuschauer für die Sendung nicht zu gewinnen.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Moderator schweigt, Quote steigt.

Das ZDF hat seinen Boulevard der Tränen gefunden, und so darf Johannes B. Kerner ab 2002 viermal pro Woche ins Leere schauen.

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Public Relations sind eine feine Sache, machen aber viel Arbeit. Gut, daß man sie sich jetzt sparen kann. Wenn ein Fernsehsternchen mit Massenanziehungskraft noch ein bißchen Werbung braucht für seine Show, räumt das ZDF gerne eine Stunde Sendezeit frei, läßt es plaudern, erfüllt redaktionelle Wünsche und verbreitet die Folgen seines Auftritts in Shows und Magazinen quer durchs Programm. Diese Möglichkeit gibt es ab nächstem Jahr täglich! Rufen Sie heute schon an, um einen Termin zu vereinbaren: Die freundlichen Menschen bei der „Johannes B. Kerner Show“ haben ein offenes Ohr für Sie.

Es war nämlich so, daß Frau Feldbusch der „JBK“-Redaktion am Freitag vergangener Woche sagte, sie wolle beim verabredeten Auftritt anläßlich ihrer neuen Show gerne „mehr erzählen“. Die Redaktion war dafür empfänglich, aber nicht so empfänglich, daß sie die anderen Gäste kurzerhand ausgeladen hätte. Man fühlte beim ZDF vor, ob man eine Sondersendung machen könnte, und das ZDF sagte: „Machen wir gerne.“

Der Rest ist Geschichte. Unbekümmert veranstaltete das ZDF eine Sendung mit einer Verona Feldbusch, die redete, als wäre sie auf Speed: schnell, sprunghaft, nicht zu bremsen, und dann, von einer Sekunde auf die nächste, im Tal der Tränen. Jede Redaktion, der es um Anstand oder Abstand gegangen wäre, hätte Feldbuschs Zusammenbruch aus der aufgezeichneten Sendung herausgeschnitten. Doch Feldbusch wollte, daß er gezeigt wird, und weil es der Redaktion und dem Sender mit dieser Show allein um die Quote geht, ließ man alles drin und informierte die „Bild“-Zeitung.

Das ist kein langer Weg. Markus Heidemanns, Redaktionsleiter bei „JBK“, arbeitete bis 1995 bei „Bild am Sonntag“; sein Bruder Martin ist heute bei „Bild“ zuständig für Fernsehen und Show. In der Öffentlichkeit hat man manchmal noch Skrupel, das Offensichtliche zuzugeben, und so dementierte das ZDF, daß die Fotos aus der Sendung, die die „Bild“-Zeitung vorab veröffentlichte, vom Sender stammten. Es ist also nur ein Zufall, daß die ZDF-Fotogalerie im Internet Aufnahmen enthält, die auch „Bild“ druckte.

Es spricht in der Regel nicht für die Qualität einer Sendung, wenn ihre intelligentesten Beiträge von Dieter Bohlen stammen. Am Donnerstag abend war es so. Als Bohlen am Ende eines viertelstündigen Verhörs, bei dem der ermittelnde Beamte Kerner nicht merkte, daß der Beschuldigte bereits längst und mehrmals ein Geständnis abgelegt hatte, entnervt rief: „Das klingt jetzt pathetisch, aber wir haben Krieg in Afghanistan, Milzbrand und wer weiß was, und auf der ,Bild‘-Zeitung les‘ ich jeden Tag einen Scheißdreck, der vor fünf Jahren war. Gibt es wirklich nichts Wichtigeres? Ist das wirklich wichtig, ob zum Beispiel irgendein Pipi-Mädchen über mich erzählt, daß ich sie angegraben hätte?“

Interessanterweise hat jemand anderes vor einem halben Jahr ähnliche Fragen gestellt: Dieter Stolte, Intendant des ZDF, bei den Mainzer Tagen der Fernsehkritik, ein bißchen professoraler formuliert natürlich.

Er kritisierte die „Verdrängung der Weltgeschehnisse mit Hilfe von Real-Life-Soaps und Fun-TV“, rief ins Publikum „Wo bleibt die Realität?“ und fragte: „Wie gewinnt man in einem öffentlichen Medium Aufmerksamkeit für die Politik, wenn die vergleichsweise privaten Nebensächlichkeiten des sogenannten ,Kleinen Mannes‘ im Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit stehen? Die sich selbst inszenierende Spaßgesellschaft ist im Begriff, ihren Realitätskern zu verspielen, wenn wir uns nicht ernsthaft bemühen, jene Dinge in den Mittelpunkt unseres Mediums zu rücken, die auch im Mittelpunkt der Gesellschaft stehen. Wo die Mittel und Wege egal sind, um als Ziel und Zweck lediglich Spaß zu erreichen, verlieren Fernsehprogramme Inhalt, Gehalt und Gestalt, aber auch Stil, Niveau und Würde.“

Fragt man den ZDF-Unterhaltungschef Manfred Teubner, wie ihm die Sendung mit Verona gefallen habe, antwortet er: „Ich habe mich dabei amüsiert. Das ist irgendwo auch ein Spaß.“

Teubner kann weiterlachen, denn anders, als nach Stoltes Sonntagsrede zu vermuten wäre, spricht vieles dafür, daß Kerner exakt die Art Unterhaltung macht, die Stolte schätzt. Andere Moderatoren berichten, daß Stolte sich früher gerne darüber beschwerte, wenn sie politisch geworden seien, und den dringenden Wunsch äußerte, keine Politiker mehr in Unterhaltungssendungen einzuladen. Politikergattinnen, soll Stolte vorgeschlagen haben, die wären doch mal schöne Gäste.

Bei Kerner wäre eine solche Ermahnung überflüssig. Der redet mit den Politikern so, als wären sie ihre eigenen Gattinnen. Einmal, im Wahlkampf 1998, hat er sich gewünscht, Kohl und Schröder in die Sendung zu bekommen – aber sie dürften nicht über Politik reden. Nur über Skat.

Das ist Unterhaltung nach dem Geschmack des ZDF, entsprechend dem System Stolte: Niemandem wehtun. Kerner ist perfekt dafür. Der Mann, der vom Januar an viermal pro Woche auf Sendung gehen und das öffentliche Profil des ZDF prägen wird wie Günter Jauch und Harald Schmidt das von RTL und Sat.1, würde nie mit einer eigenen Position, einer kontroversen gar, in Erscheinung zu treten wagen. Nur als Bohlen ihm unterstellte, er drohe bestimmt auch mal seiner Frau, sie umzubringen, da widersprach er, ohne abzuwiegeln. Es war das einzige Mal.

Kerner signalisiert in jeder Sendung, daß er am liebsten unsichtbar wäre, um bloß niemandem zu nahe zu kommen. Schon wenn er aus der Kulisse vors Publikum tritt, ist er merkwürdig verkrampft, demonstrativ locker, mit der Andeutung einer ironischen Distanz, als wollte er sagen: „Ich trete jetzt mal so auf. Aber falls es Ihnen nicht gefällt, dann meine ich’s gar nicht so.“ Diese Haltung, diese Unsicherheit, diesen Krampf behält er bei: Wenn ihm eine Frageformulierung doch nicht glatt genug gelungen ist und beim Gesprächspartner eine Gegenreaktion hervorruft, zieht er sich auf ein defensiv-naives „Ich frag ja nur“ zurück, gegenüber Bohlen auch in der Variante: „Ich halt mich da völlig raus.“ Er lehnt sich zurück, weit weg von seinen Gästen, liest seine gelben Fragekarten, und wenn er sich vorbeugt, ist er geschützt durch eine feste Schreibtischburg. Die Leere, die von ihm ausgeht, versucht er dadurch zu konterkarieren, daß er eine Hand im Gesicht hat, am Kinn, an der Schläfe, in Posen, die Nachdenklichkeit simulieren.

Ein Kollege erzählt, Kerner habe ihm anvertraut, er sei überrascht, wie leicht es sei, die „JBK“- Show zu machen: „Je weniger ich mache, desto besser sind die Quoten.“ Das ist treffend erkannt. Es erklärt die Form, zu der Kerner über die Jahre gefunden hat. Inzwischen wirft er seinen Gästen oft nur Stichworte hin und läßt sie einfach plaudern. Bei Verona kam er minutenlang nicht zu Wort.

Es ist aufschlußreich, welche Mißverständnisse sich ergeben, wenn man mit ZDF-Verantwortlichen über die Sendung redet. Fragt man Manfred Teubner, ob er nicht ein Problem damit habe, daß sein Sender Frau Feldbusch eine knappe Viertelstunde Zeit gab für nichts als Werbung für ihre neue Sat.1-Show, dann sieht er das Problem nicht im allgemeinen, sondern im konkreten: „Wir werden unterm Strich bestimmt ein ganz deutliches Übergewicht haben für eigene Protagonisten, die für ZDF-Sendungen Cross-Promotion machen.“

Der Fall Feldbusch zeigt, daß das ZDF inzwischen das Instrumentarium beherrscht, talentierten Protagonisten entsprechenden Raum zu geben, so daß sie nicht mehr zur privaten Konkurrenz von Explosivexklusivextrablitz wechseln müssen. In „Hallo Deutschland“ und „Leute heute“ werden die Themen professionell durchgenudelt, mit Cliffhanger, „Auch morgen wieder“-Versprechen und „exklusivem“ „JBK“-Interview.

Die Boulevardmagazine von RTL und Sat.1 könnte das neugefundene Profil des ZDF mit dem täglichen Kerner das Fürchten lehren – vor allem, da der bestens vernetzt ist. Bohlen, der ihn duzte, aber von Kerner trotzig zurückgesiezt wurde, schrieb für „JBK“ die Titelmusik; der „Spiegel“ liefert als Co-Produzent der Sendung zur Not mal ein freundliches Stück.

Teubner sagt zwar, eine Medienpräsenz wie bei Feldbusch werde man wohl nur in den seltensten Fällen erreichen. Und es werde Gäste geben, die „eine größere Relevanz haben“. Aber er sagt über die Heul-Show auch dies: „Das ist eine Lautstärke, die man beim ZDF so nicht kannte. Aber es ist eine, die man vielleicht auch mal anschlagen sollte. Das ist doch das, was die Leute sehen wollen.“

Man kann Teubner kaum einen Vorwurf machen, auch Kerner nicht. Der eine ist nun mal für Unterhaltung zuständig, der andere tut, was er kann, und beide machen das, was die Leute sehen wollen: im Schnitt gut zwanzig Prozent Marktanteil. Wem man einen Vorwurf machen kann, das sind die Leute, die es zulassen, daß diese Programmfarbe, der „boulevardeske Talk, in dem es ganz bestimmt nicht um die nächste Rentenreform geht“ (Teubner), im kommenden Jahr eine tragende Programmfläche im ZDF wird. Programmdirektor Markus Schächter sagte vor kurzem in einem Interview, er sei sicher, mit dem täglichen „JBK“ „mehr Lebendigkeit, Heutigkeit und Interessantheit ins Programm“ zu bringen.

Das stimmt in einer Hinsicht zweifellos: Der alte Kritikervorwurf, für Unterhaltung müßten anspruchsvolle Sendungen weichen, greift hier nicht. Nur dienstags laufen auf dem künftigen „JBK“-Platz Dokumentationen; sie wechseln auf den Sonntag. An drei von vier Werktagen aber wiederholt das ZDF nur alte Krimis. Mangels Geld gab es in der Zeit, die der Sender jetzt hochtrabend „zweite Prime Time“ nennt, ohnehin schon nichts Gehaltvolles mehr, das Kerner verdrängen könnte.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

„Es gibt nichts anderes als Scheitern, für niemanden“

Warum Roger Willemsen mit dem Fernsehen aufhört.

Was ist passiert, Herr Willemsen?

Eigentlich nichts. Ich habe schon seit zwei Jahren gesagt, daß ich langsam meiner Selbstauflösung entgegensende. Es gibt keine Notwendigkeit, nichts Zwingendes mehr in meiner Fernseharbeit. Fernsehen ist ja außerdem ein so kindliches Medium, daß man das erwachsene Arbeiten eher außerhalb von ihm versuchen muß.

Was ist aus Ihrem Versuch geworden, ein paar Punkte gegen den Trend zu setzen; Sendungen zu machen, die Sie selbst gerne sehen würden?

Ich habe zuletzt eine Sendung namens „Gipfeltreffen“ gemacht, in der immer zwei Personen zusammengeführt werden. Da ist schon die Frage, ob die vom damaligen ZDF-Unterhaltungschef Viktor Worms vorgeschlagene Kombination „Hansi Hinterseer trifft Eva Herman“ eine ist, die notwendigerweise durch mich vermittelt werden muß. So richtig lassen sich meine Vorstellungen von dem, was man da sinnvollerweise machen könnte, nicht vereinbaren mit dem, was ein sehr quotenorientiertes Fernsehen will.

Die böse Quote.

Nicht nur. Ich habe seit über zwei Jahren ein Musikmagazin im ZDF, das, wie ich mit einem gewissen Stolz sage, große Namen versammelt hat: Pierre Boulez, Herbie Hancock, Woody Allen, eines der letzten TV-Interviews von Isaac Stern… Ich glaube, es ist noch nie ein einziger Artikel über dieses Magazin erschienen.

…die Sendung steht auch nicht einmal auf der ZDF-Homepage.

Es gibt Leute, die mich in der Bahn ansprechen: Wann machen Sie mal wieder eine Fernsehsendung? Selbst Journalisten fragen: Wann kommen Sie mal wieder? Dann antwortet man: Na ja, ich mach‘ ja zwei Sendungen seit einiger Zeit…

Ihnen fehlt der Zuspruch.

Wirklich nicht. Aber die Lektüre eines Quotenprotokolls macht einem klar, daß das Publikum das, was man selber am beliebigsten, am notwendigsten fand. Dann erkennt man, daß man nicht mal ein Promille der deutschen Öffentlichkeit vertritt. Und zu versuchen, Minderheiteninteressen auf ein Massenpublikum zu übertragen, ist eine Anstrengung, bei der man sich irgendwann aufreibt.

Klingt ganz schön verbittert.

Ach was. Es ist überhaupt nichts Dramatisches daran, wenn man selbst entscheidet, daß das Fernsehen einfach nicht das richtige Medium ist für das, was man machen will. Oder haben Sie mich je dabei erwischt, Karl Moik sein zu wollen? Wenn sich das resignativ anhört, dann deshalb, weil ich dieses Ideal des gesellschaftlichen Wirkens nicht mehr habe. Man glaubt immer, man könnte die Einsamkeit dadurch reduzieren, daß man Komplizen findet. Das hört irgendwann auf, weil die Gesellschaft resistent ist gegen jede Wirkung, die aus dem Geistigen kommen könnte, so daß man sich daran nicht mehr abarbeiten muß.

Haben nur Sie sich verändert oder das Fernsehen auch?

Als ich vor elf Jahren anfing, habe ich — wie wir wohl alle — gehofft, daß das Fernsehen eine Entwicklung zum Besseren macht. Ich kannte ja kein Fernsehen, weil ich keins hatte. Die erste Hoffnung war, daß im Pay-TV vielleicht ein kompaktes, Minderheiteninteressen berücksichtigendes Programm entstehen würde. Es dauerte nicht lange, da war das Premiere-Programm schlechter als Kabel 1. Die nächste Hoffnung war, daß die Werbekunden die Zuschauer nicht nur quantifizieren, sondern auch qualifizieren würden: Eine Million in einer bestimmten Sendung verkauft mehr Carling Black Label als Hans Meiser, also würde die Reform des Fernsehens von den Werbekunden ausgehen. Das geschah auch nicht. Inzwischen lohnt es sich nicht, mit Fernsehleuten irgendeine Diskussion jenseits der Quote zu führen. Ich bin noch bei Mitternachtssendungen, die zur Hälfte Musik waren, mit Quotenerwägungen konfrontiert worden. Einmal bin ich für das Musikmagazin im Kriegsgebiet im Kongo gewesen, habe Papa Wemba auf seinem Rückweg aus dem Pariser Exil nach Kinshasa beobachtet; drei Mitarbeiter hatten einen schweren Autounfall. Als wir zurückkamen, haben wir als erstes gerümpfte Nasen gesehen: „Was ist das denn für Musik? Da ist ja wieder nichts zum Mitklatschen dabei.“

Aber ist Ihr Abschied nicht auch ein persönliches Scheitern?

Es gibt nichts anderes als Scheitern, für niemanden.

Wird Ihnen nicht fehlen, erkannt zu werden, auf der Bühne zu stehen?

Das ist mir wirklich fremd.

Sagen Sie jetzt nicht, daß Sie uneitel sind.

Von den 4000 Formen der Eitelkeit, die es gibt, besitze ich einige, aber die gehören nicht dazu: weder die physische noch die, erkannt werden zu wollen. Wenn man das elf Jahre macht und glaubt immer noch, es sei schön, erkannt zu werden, ist man im infantilen Stadium steckengeblieben. Spätestens im dritten Jahr muß man aufhören, aufs Cover der „Fernsehwoche“ zu wollen. Ich hab‘ das bei alten Männern immer pikant gefunden, wenn Erich Böhme Pixie-Malbücher in Wohnwagen ausfüllt, weil es das Frühstücksfernsehen möchte.

Es bleibt keine Enttäuschung?

Warum denn — es ist meine Entscheidung. Schwer ist es nur, mich von den Freunden zu trennen, mit denen ich gearbeitet habe. Die Firma wird in sehr kleinem Maßstab weiter produzieren, gelegentliche Dokumentationen. Wenn ich auf irgendwas stolz bin, dann darauf, einen Film gemacht zu haben, der in 13 Länder verkauft worden ist: der Film über Michel Petrucciani. Das ist eine der wenigen Sachen, wo ich denke: Darin steckt eine Spur von Eigenleistung.

Was machen Sie in Zukunft? Wer Ihre Bibliographie ausdruckt, verstopft minutenlang den Drucker. Sie wollen doch nicht etwa noch mehr schreiben?

Na ja: Das nächste ist ein Buch über eine „Deutschlandreise“, die ich für das „SZ-Magazin“ gemacht habe. Dann habe ich den Auftrag, ein Theaterstück zu schreiben. Ich habe einfach das Gefühl, daß ich nicht mehr als Hebamme auf jedem dritten Podium sitzen soll, um die Meinungen anderer Leute ins Licht zu bringen.

Verschwindet das Fernsehen auch aus ihrem Fokus als Beobachter?

Ich halte bestimmte Sendungen nicht mehr aus, die ich früher mit so Konträrfaszination angesehen habe, die mich gegruselt haben. Wenn es mich heute gruselt, schalte ich doch um. Ich kann nur ein paar Minuten Raab sehen — es langweilt mich zu Tode, ich kann dieses ganze Zähnefletschen und Sichbreitmachen und Dickhodigdaherkommen nicht mehr sehen. Dafür kann ich lange an Phoenix hängen und sehe mir jede Afghanistan-Reportage an, weil das meinem Wirklichkeitshunger dann doch entgegenkommt.

Eigentlich ist es doch ein furchtbarer Gedanke, daß das Fensehen seine Möglichkeiten nicht nutzt.

Die ersten Funktionsbestimmungen des Fernsehens waren: ein Medium, in dem sich Gesellschaft reflektiert, in dem Minderheiten miteinander in Kommunikation treten, in dem Entfremdungsschranken überwunden werden. Gegenüber dieser Matrize verhält sich unser Fernsehen wie eine Satire. Man wundert sich, daß noch kein Musterprozeß darüber geführt wurde, daß der Aufklärungsanspruch des Rundfunkstaatsvertrages jeden Tag falsifiziert wird. Der Kulturpessimismus hat aber für mich kein Pathos mehr. Ich bin einfach ein Material, das verschlissen wird, ein Markenartikel, der irgendwann sein Verfallsdatum überschritten hat. Eigentlich wie Anke Huber.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Mittendrin – und nur dabei

Einsatz für einen Satz: Wofür die Fernsehsender im Krieg Reporter brauchen.

Es ist immer gut, in unübersichtlichen Situationen jemanden vor Ort zu haben, den man persönlich kennt und im Zweifel noch mal fragen kann. Astrid Frohloff, Nachrichtenmoderatorin bei Sat.1, hat Tatjana Ohm vor Ort in Islamabad: „Die Informationen über Opfer und Zerstörungen direkt aus Afghanistan fließen ja nur spärlich, Tatjana, und sie sind zensiert von den Taliban. Was erfahren Sie im Nachbarland Pakistan über die Folgen der Angriffe?“ Tatjana antwortet: „Nun, wir werden hier in der Regel täglich um Punkt vierzehn Uhr vom Botschafter Afghanistans darüber informiert, was ihrer Meinung nach in Afghanistan passiert und geschehen ist. Es gibt für uns keine Möglichkeit, diese Angaben zu überprüfen. Jedes Bild, jede Wortmeldung, die aus dem von den Taliban beherrschten Afghanistan herauskommen, müssen wir einfach so hinnehmen. Und wir haben keine Möglichkeit, den Wahrheitsgehalt zu verifizieren.“ Astrid Frohloff sagt: „Vielen Dank, Tatjana Ohm, nach Pakistan“.

Gut, daß wir nachgefragt haben.

Zwischen 1500 und 2000 Mark kostet, je nach Standort in der Region, allein die Leitung für diese Durchsage, hinzu kommen Reisekosten, Schmiergeld, Technik, Versicherung. Und all das gibt Sat.1 aus, uns darüber zu informieren, daß man auch nicht mehr weiß als CNN und die Agenturen, nicht mehr, als die Kriegsparteien verlautbaren? Natürlich nicht. All das gibt Sat.1 aus, uns zu zeigen, daß man nicht irgendein kleiner deutscher Privatsender ist, sondern ein Global Player, bei dem man sich darauf verlassen kann, daß, wo immer einer eine Pressekonferenz gibt, auch das Senderlogo aus dem Strauß bunter Mikrofonhüllen ragt.

Man muß, um das grundsätzliche Mißverständnis aufzulösen, einen alten Reporter wie Dagobert Lindlau fragen, ob es nicht bessere Möglichkeiten für die Sender gäbe, als Reporter an die pakistanisch-afghanische Grenze zu schicken, um Informationen zu bekommen. „Was bringt Sie zu der Annahme“, fragt er dann, „daß die Sender daran interessiert sind, mehr Informationen zu wollen, und nicht mehr Quote?“

Das ist natürlich nicht das, was einem die Verantwortlichen der Fernsehsender in diesen Tagen sagen. Sie alle geben ein Vermögen aus für die Berichterstattung über den Krieg, wo ihnen schon die Einnahmen in nie dagewesener Weise wegbrechen. Und alle sagen, das müsse man jetzt tun, weil man es tun müsse. Informationspflicht verpflichtet. Das klingt gut.

Auf jeweils einen einstelligen Millionenbetrag schätzen RTL, ARD aktuell und Pro Sieben/Sat.1 die Mehrkosten, die ihnen seit dem 11. September entstanden sind: Die halbe Medienwelt bezieht heute Honorare für Bereitschaftsdienste. Die Mitarbeiter der Morgenmagazine von ARD und ZDF arbeiten am Wochenende, für alle Fälle. Das ZDF hat rund um die Uhr eine Standleitung nach Washington. Bei RTL sitzen die ganze Nacht ein Redakteur und ein Moderator im Studio.

Ein Glück nur, daß die hohen Kosten für die Extraprogramme immer noch unter denen für die meisten Unterhaltungsprogramme liegen, die sie verdrängen. So sparen die Sender letztlich doch ein wenig – was dem allgemeinen atemlosen „Wir müssen uns das jetzt leisten“ ein wenig die Brisanz nimmt und die Bedeutung von Information im Fernsehen zurechtrückt.

Aber alle schicken sie ihre Reporter in die Region: Pro Sieben/Sat.1 und RTL je einen nach Nordafghanistan und Pakistan; der MDR für die ARD drei; das ZDF gleich sechs — nach Nordafghanistan, Usbekistan, Islamabad, Peshawar und einen nach Amman, weil er kein Visum für den Iran bekam. Im Übereifer geht schon mal was schief: Eine Kollegin auf dem Land in Pakistan traute sich wegen der Unruhen gar nicht erst aus dem Hotel.

Die Mutigen stehen dann vor karger Bergkulisse, nur ein paar hundert Kilometer entfernt vom Krieg, und haben vieles, nur keinen „Überblick“, den die Kollegen im Studio in Deutschland so gern von ihnen bekämen. RTL-Korrespondentin Antonia Rados antwortet live aus einer Steinwüste bei Peshawar auf die Frage, ob sie wisse, ob US-Bodentruppen unterwegs seien: Ja — jedenfalls stünde das so in den pakistanischen Medien. In „Tagesthemen“ und „Heute Journal“ bitten die Moderatoren um eine Einschätzung der Lage, und wenn die Reporter gut sind, wie Dirk Sager, antworten sie, daß sie sie nicht geben können: „Wir sind gar nicht in der Lage, mehr zu übersehen als den kleinen Frontabschnitt, an dem wir uns befinden.“ Was die Moderatorin nicht davon abhält nachzufragen: „Die Nord-Allianz soll strategisch wichtige Gebiete erobert haben. Können Sie dazu irgend etwas sagen?“ Sager geduldig: „Aus eben genannten Gründen kann ich leider nichts dazu sagen.“

Die Minischaltung zu „unserem Mann vor Ort“, schon in Friedenszeiten eine Last, wird im Krieg zur Pest. Der Mangel an unabhängigen Informationen wird dadurch noch unerträglicher, daß die Fernsehsender mit diesem Ritual den Eindruck erwecken, es gäbe sie. Nach Angaben von Informationsdirektor Hans Mahr schaltet RTL täglich zehn- bis zwölfmal nach Nordafghanistan, zwanzigmal nach Washington, zwanzigmal nach Peshawar. „Das macht die hohen Kosten aus“, sagt er. „Die Personalkosten fallen dagegen nicht so sehr ins Gewicht.“

Natürlich würde Mahr nie sagen, daß sie es wegen der Quote tun, im Gegenteil: „Bei uns, anders als bei den Öffentlich-Rechtlichen, sind Schaltungen kein Selbstzweck.“ Seine Reporterin sei ein halbes dutzendmal in Afghanistan gewesen. Und sie habe die Redaktion bereits am Samstag informiert, daß der Krieg in der Nacht von Sonntag auf Montag beginne. „Deshalb hatten wir am Sonntag das volle Team im Studio.“ Im übrigen: „Wenn die Invasion beginnt, muß man jemanden dort haben, der mitgeht. Wir müssen mit vorne dabeisein, wenn es losgeht – man kann nicht dann erst jemanden einfliegen lassen.“

Dabeisein? Ist alles.

Wenn die bekannte Reporterin nach einem aus vielen unbekannten Quellen gebastelten Beitrag auftaucht, verleiht sie ihm als Kronzeugin eine Glaubwürdigkeit, die er oft nicht verdient hat. Würden die Sender ihre Reporter ernst nehmen, sie würden sie nicht als stündliche Anwesenheitsbelege einsetzen. Nach Filmbeiträgen aus oft unzähligen unbekannten Quellen können sie bestenfalls noch als Korrektiv zu den mächtigen Bildern wirken. Uwe Kröger, bis zum 13. September für das ZDF in Afghanistan und seitdem in Islamabad, sieht seine Aufgabe auch darin: etwa gebetsmühlenartig zu wiederholen, daß Pakistans Präsident nicht in akuter Gefahr ist, trotz der flammenden Proteste, die der Zuschauer gerade gesehen hat.

Zum guten Reporter vor Ort gibt es keine Alternative. „Je näher, desto besser — kein Zweifel“, sagt Kröger. „Nichts ersetzt den Korrespondenten so nahe wie möglich am Geschehen, gerade im Fernsehen. Der Reporter an der pakistanisch-afghanischen Grenze hat den unschätzbaren Vorteil, dicht an den Menschen zu sein, Bilder, Gerüche, Stimmungen, Emotionen aufzunehmen: im besten Falle ein Mikrokosmos, in dem sich der größere Zusammenhang spiegelt.“

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Leben nach dem Tod

Süddeutsche Zeitung

Soap-Darsteller darf man zwar aus ihrer Serie herausschreiben, aber nicht gleich auf die Straße setzen — entschied ein Gericht.

Ein ganz normales Leben. Charlotte Bohlstädt war 21, ein spontanes, mitfühlendes Mädchen. Sie litt an Grauem Star, den sie erst geheim halten wollte, dann aber operieren ließ, woraufhin sie erblindete. Ihr Bruder sammelte Geld, um sie in eine Spezialklinik nach Moskau zu bringen, und als sie zurückkam nach Deutschland und die Verbände abnahm, konnte sie wieder sehen. Ihr Freund verschwand dann allerdings auf dem Weg nach Griechenland und kehrte erst Wochen später zurück, weil ihn eine Tropenkrankheit im Busch festgehalten hatte. Charlotte schlief derweil mit einem Erpresser, um die Karriere ihres Geliebten zu retten, und fand schließlich, dass ihre Brust zu klein war, weshalb sie sich unters Messer legte. An Seifenoper-Standards gemessen, ein ganz normales Leben.

Es endete im April dieses Jahres. Weil Charlotte nicht verkraftete, dass ihr Bruder von einer Wahnsinnigen erschossen wurde, und nach Südfrankreich zog. Eigentlich aber, weil die Zuschauerzahlen von Gute Zeiten, schlechte Zeiten (GZSZ) im letzten Herbst so schlecht wurden, dass sich der Produzent Grundy Ufa entschied, die Familie Bohlstädt aus der Serie zu schreiben, um neue Konstellationen zu ermöglichen. Und vielleicht auch, weil die Brustvergrößerung, die für Quote sorgen sollte, bei den Fans nicht ankam. Jedenfalls verlor Charlotte ihre Serienheimat und ihre Darstellerin Stefanie Julia Möller ihren Job.

Es war nichts, das sie selber verschuldet hätte, im Gegenteil: Gegen die Brustoperation, wegen der sie dann mit Silikonpolstern spielen musste, soll sie sich sogar gesträubt haben. Aber die Bertelsmann-Tochter Grundy Ufa, die außer GZSZ noch die Seifenopern Unter Uns für RTL und Verbotene Liebe für die ARD dreht, schreibt wie viele andere Produzenten folgenden Satz in die Verträge: „Das Arbeitsverhältnis endet, falls die Rolle des Darstellers nicht mehr in der Serie enthalten ist.“ So einfach ist das. Kommt Charlotte nicht mehr an, steht Stefanie auf der Straße.

Zu unrecht, wie das Arbeitsgericht Potsdam jetzt entschied. Stefanie Julia Möller, die gegen Grundy Ufa geklagt hatte, gewann dort in erster Instanz. Hat das Urteil Bestand, wird die Arbeit für die Billig-Produzenten unbequem. Den Anwälten Simon Bergmann und Christian Schertz, die viele Soap- Darsteller vertreten, war die Klausel lange ein Dorn im Auge. Bislang aber habe sich niemand getraut, dagegen vorzugehen — aus Furcht vor den Kosten oder davor, nicht mehr engagiert zu werden.

Bergmann veranschaulichte die Absurdität der umstrittenen Klausel vor Gericht im Fall Möller mit einem Vergleich: „Es ist, als würde ein Fußballer automatisch arbeitslos, wenn der Trainer ihn dreimal nicht einsetzt. “ Während die Verträge die Darsteller typischerweise für zwei Jahre an die Produktion binden, könnte der Produzent sie nach Gutdünken vorzeitig beenden, indem er ihre Rolle aus der Serie herausschreibt – warum auch immer. „Es besteht die Gefahr des Missbrauchs“, sagt er, „das ist ein extremes Druckmittel für den Arbeitgeber, der einen unbequemen Angestellten nicht einmal kündigen oder abmahnen müsste.“ Das Unternehmerrisiko, dass etwa eine Figur beim Zuschauer nicht ankommt, dürfe nicht auf den Arbeitnehmer verlagert werden.

Gerade darauf aber beruht die knappe Kalkulation der Seifenopern. Mit Kosten von 4000 bis 7000 Mark pro Minute sind die täglichen Soaps die mit Abstand günstigsten fiktionalen TV-Formate. RTL verdankt einen Großteil seines Gewinnes der Marge zwischen diesen niedrigen Kosten und den 185 000 Mark, die Kunden für eine Minute Werbung in GZSZ zahlen. Obwohl die Serie für RTL eine Geldmaschine darstellt, ist bei Grundy Ufa der Kostendruck riesig. Oder in den Worten von Geschäftsführer Rainer Wemcken: „alles sehr straff organisiert. Das Potsdamer Urteil schränkt uns in unserer künstlerischen Freiheit ein“, sagt er. „Der Zeitpunkt, zu dem man feststellt, dass zu einer Figur alles erzählt ist, fällt halt nicht immer mit dem Ende des Vertrages zusammen.“ Sollten weitere Instanzen dem Urteil folgen, sieht er „ein Problem für die Effektivität“: Entweder werde die Produktion teurer, weil herausgeschriebene Charaktere weiter bezahlt werden müssten. Oder die Figuren müssten bis zum Ende des Vertrages ihrer Darsteller mitgeschleppt werden – kein realistisches Szenario, dazu ist der Druck der Sender zu groß, die Quoten zu maximieren. Die industrielle Produktion der Soaps wird nämlich auch durch konsequente Marktforschung geprägt: Kontinuierlich befragen die Macher Zuschauer und passen die Geschichten entsprechend an – wenn eine Figur nicht ankommt, wird nicht lange gefackelt.

Anwalt Schertz, der nicht nur in Sachen Möller mit Grundy Ufa und den Fernsehsendern die Klingen kreuzt, meint, dass die meist sehr jungen Schauspieler nur „verfügbares Personal“ für die Fernsehleute darstellen. Wemcken wehrt sich gegen den Vorwurf der Ausbeutung: Anders als bei anderen Serien bekämen die Darsteller eine Festanstellung mit Urlaub und Sozialversicherung. „Wir sind auch eine Talentschmiede und leben davon, dass wir viel investieren und die jungen Leute, die ja oft keinerlei Erfahrung haben, ausbilden.“

Trotzdem kommt die Bavaria, die für die ARD den Marienhof herstellt, ohne ähnliche Vertragsbedingungen aus: „Wir schätzen dieses Urteil sehr und finden es nicht überraschend“, sagt Chefjustiziar Armin Weltersbach. Wenn im Marienhof eine Figur den vorzeitigen Serientod sterben müsse, werde versucht, den Vertrag im Einvernehmen zu beenden. „In der Regel findet man eine Lösung, mit der beide Seiten leben können.“

Die Trennung im Unfrieden sei auch bei der Grundy äußerst selten, sagt Rainer Wemcken: „Dass man einen Darsteller ins Büro bittet und sagt: ‚Danke schön, das war’s‘, kommt vielleicht einmal im Jahr pro Serie vor.“ Ob das wenig ist, sei dahingestellt — Schertz und Bergmann berichten ohnehin von einem Vielfachen an Fällen. Wemcken betont, in seinen vier Jahren bei dem Unternehmen sei es noch nie passiert, „dass wir Leute aus einer Serie rausgeschrieben haben, weil sie unbequem waren.“

Grundy Ufa will gegen das Urteil Berufung einlegen. „Wir wollen das grundsätzlich klären“, sagt Wemcken. Aus Prinzip, und weil es um viel Geld geht, wenn die Firma mehrere Monatsgehälter von diversen Darstellern nachzahlen müsste. Die Gegen-Anwälte wollen darauf dringen, die Klausel aus den Verträgen aller Soap-Darsteller zu streichen. Doch bis zu einem endgültigen Urteil des Bundesarbeitsgerichts können Jahre vergehen.

Der Grenzgänger

Süddeutsche Zeitung

Jörg Draeger, Moderator von „Geh aufs Ganze“, macht in guten Momenten aus einer billigen Sendung kostbare Unterhaltung.

Zwei Handbreit ist sein Gesicht von ihrem entfernt. Keine Sekunde lässt er sie aus dem Blick. Seine Augen bohren sich tief in sie hinein und lassen sie nicht mehr los. Sein ganzer Körper ist ihr zugewandt, nicht dem Publikum, nicht den Kameras. Weil er so dicht vor ihr steht, finden ihre Augen keinen Fluchtpunkt, immer wieder nur sein Gesicht.

Zwei Minuten dauert das. Ewig. Bis sie sich entschieden hat, den unbekannten Preis hinter einem Tor zu nehmen, nicht die 1000 Mark, die er ihr anbietet. Und bis er ihre Entscheidung akzeptiert. 1500? 2000?

Nein, endgültig. Ja, bestimmt.

Das mit den zwei Handbreit täuscht. In Wahrheit ist die Distanz, die Jörg Draeger seinen Kandidaten lässt, genau null. Was er macht mit den Leuten, ist das gleiche wie Günther Jauch in Wer wird Millionär ein paar Stunden später, ein paar Millionen Zuschauer populärer, ein paar Gehaltsstufen höher. Er spielt mit ihnen. Führt sie demonstrativ auf die falsche Fährte und heimlich auf die Richtige. Lässt sie blind vertrauen und grundlos zweifeln. Lockt abwechselnd ihre Gier und ihr Sicherheitsbedürfnis. Macht sie nackt.

Bei Jauch haben sie manchmal noch ihr Wissen als Schutz, bei Draeger geht es um Glück — da haben sie nichts. Jauch lehnt sich zurück und zieht seine Kandidaten an langen Marionettenfäden dahin, wo er sie haben will. Draeger beugt sich vor und führt sie am Nasenring. Nicht ganz so elegant, die Technik. Genauso perfekt.

Er ist nicht der klassische Fernsehheld. 55, braun gebrannt, mit einem Schnauzer, der jeden Imageberater suizidal werden lässt, die vielen Haare zu einem furchtbar federnden Scheitel gezähmt. Doch, er sieht schon aus wie ein Moderator. Aber wie einer, der die Karnevalsgala im Kurhaus zu Bad Rothenfelde leitet oder die Hauskapelle der Schlagerbar auf Mallorca.

Auch seine Sendung ist kein naheliegender Ort für televisionäre Höhepunkte. Geh aufs Ganze, täglich zur klassischen Nebenbei-Beriesel-Zeit am Vorabend, 40 Minuten Zocken um Preise, deren Präsentation eigentlich Anlass der Sendung ist.

Simpler geht es nicht: Moderator sucht Kandidaten aus dem Publikum. Lässt sie aus Toren und Umschlägen wählen, die große Gewinne, kleine Gewinne oder die Niete in Gestalt eines begehrten roten Flauschzottels namens Zonk enthalten. Er zählt ihnen Geldscheine in die Hand, um sie zu verführen, aus dem Spiel auszusteigen. Immerhin: Kabel 1 pflegt die Sendung, die hier nach acht Jahren auf Sat 1 seit zwei Jahren läuft. Hat ihr gerade ein neues schmuckes Studio gegönnt und fordert das Publikum auf, ihre Tipps für die Kandidaten nicht mehr reinzubrüllen („den ROTEN Umschlag!“). Casino statt Karneval soll es werden, sagt der Warm-Up-Mann, „naja, eher Casino in Bad Neuenahr als in Las Vegas“, sagt Draeger realistisch.

Als Moderator der Sat-1-Nachrichten und im Frühstücksfernsehen hat er keinen nachhaltigen Eindruck hinterlassen, mit einer RTL-Sendung über ungeklärte Phänomene ist er fürchterlich baden gegangen. Aber Geh aufs Ganze, das ist seine Sendung, „mein Baby“, da macht ihm keiner was vor. Ohne ihn, sagt die Kabel-1-Sprecherin, hätte man die Show gar nicht wiederbelebt, und nachdem Sat 1 es einmal mit Ersatzmann Elmar Hörig versucht hatte, ist das mehr als ein Lippenbekenntnis.

Er tritt auf, und während das Publikum noch applaudiert, sucht er sich daraus ein Opfer. Gecastet wird nicht, die Redaktion gibt ihm höchstens Tipps, wer vor der Sendung originell schien, aber für Draeger, ganz Diva, ist das eher ein Grund, jemanden anderes zu wählen. Er verlässt sich auf seine Intuition und die Faustregel: Eine Oma, eine Blonde mit Riesendekolleté.

Mit Jürgen setzt er sich auf einen Barhocker und fragt, welches der drei Tore er wolle. Jürgen will Tor 2. Draeger zeigt ihm den Inhalt der anderen: je ein Auto. „Gestern“, sagt Draeger, „war hinter jedem Tor ein Auto. “ Er plaudert beiläufig über Heimatort, Familie, Beruf, und während Jürgen schwitzt, weil er sich fast sicher ist, dass hinter dem Tor 2 auch ein Smart ist, aber eben nur fast, taxiert Draeger ihn und plant, wie viel sicheres Bargeld er gegen den unsicheren Wagen wohl bieten muss, bevor Jürgen aussteigt.

Das Verblüffende ist, dass man bei dieser billigen Show in guten Momenten mehr über die Kandidaten erfährt und die Menschen an sich, als in vielen teuren Sendungen. Monika hat sich fest vorgenommen, zu zocken und nicht auf ein Geldgeschenk einzugehen.

Draeger zählt: 1000 Mark. 1500. 1800. 12000. Monika verliert die Fassung. So einfach ist das.

Er knackt sie fast alle. „In 99 Prozent der Fälle kann ich steuern, wie sie sich entscheiden werden“, sagt Draeger. Manche schmelzen sofort wie Wachs. Eine junge Frau hat sich für einen blauen Umschlag entschieden. „Könnte ich Sie überreden, den roten zu nehmen, mir zuliebe“, fragt Draeger. „Ja“, haucht sie und tauscht. „War nur ein Test“, sagt er nun, „würden Sie ihn mir auch wieder zurückgeben?“ Würde sie und hat ganz unverdient wieder den Hauptpreis in der Hand.

Sie würde auch springen, wenn er sie bäte. Ihm zuliebe.

Müssten seine Augen nicht groß sein, offen, weit? Jörg Draeger hat kleine, tiefliegende, engstehende Augen. Doch das passt. Er ist ja nicht der vertrauenswürdige Onkel. Er ist der Gebrauchtwagenhändler. Man weiß, dass er verschlagen ist, einen übers Ohr hauen will, sieht es ihm sogar an. Aber seine Angebote sind so verlockend.

Wenn er vornehm wirken will, sich verbeugt oder einen Handkuss gibt, wirkt er theatralisch, verkrampft. Im persönlichen Gespräch ist er ganz nah, laut und direkt. Er sitzt in seiner Garderobe, ein Bein wippt über der Lehne, eine Hand spielt mit dem Schlüssel, die andere hält einen Kaffeebecher, mit beiden gestikuliert er. Distanz? Seine schwangere Assistentin stellt er mit den Worten vor: „Ich war’s nicht“. Worüber Kollegen, die Geschichten von ihm erzählen, wie er Mitarbeiterinnen Eiswürfel in den Ausschnitt wirft und wieder herausholt, nur bedingt lachen können.

Als Moderator aber zeichnet ihn aus, Grenzen der Kandidaten zu erkennen, an sie heranzugehen und sie dann ganz knapp nicht zu überschreiten. Mit großer Sicherheit fängt er den Kandidaten auf, den er gerade nacheinander acht Motorräder hat verspielt lassen und wägt ab, wen er zur Verzweiflung treibt und wen nicht. „Ich bin ein typischer Straßenköter aus dem Ruhrgebiet“, sagt er. „Ich war als Kind nicht stark oder schlau und ich hatte keinen Florett-Roller, der die Mädchen beeindruckte.“

Was er hatte und zur Perfektion entwickelte, war Schlitzohrigkeit und Menschenkenntnis, wenn er Kumpel überredete, für ein paar Pfennig Kohlen zu schippen, wofür er gerade viel mehr von seinen Großeltern bekommen hatte.

Draeger ist Showmaster — er beherrscht die Sendung und ist besessen von ihr. Kurz vor der Aufzeichnung geht er mit seiner Assistentin den Ablauf durch, den die Redaktion entwickelt hat, und ändert: Hier einen Smart mehr, da bitte nur Zonks im Umschlag, das alberne Trimmrad nur als Trostpreis. Selbst in der Sendung wirft er dauernd den Spielplan durcheinander, macht kurzerhand eine Extrarunde mit einem vorwitzigen Zuschauer, improvisiert — die Kameramänner können sehen, wie sie das ins Bild kriegen. „Ich habe Freiheiten in dieser Show, die sonst nur die ganz Großen haben“, sagt er.

Vielleicht ist es deshalb nicht gelogen, wenn er sagt, er sehne sich nicht danach, noch einmal in die Erste Reihe zu kommen, raus aus dem Vorabendwerbegetto. „Ich habe in meinem Berufsleben für meine Möglichkeiten alles gemacht“, sagt er. Irgendwann, vielleicht schon nächstes Jahr, will er ganz aufhören und auf Teneriffa bleiben, wo er mit seiner Familie lebt. Dem „Vieh, dem ich meine materielle Sicherheit verdanke“, hat er dort ein Denkmal gesetzt: In seinen Swimmingpool hat er aus roten Mosaiksteinen einen Dreimeter-Zonk einarbeiten lassen. „Das sieht einfach sensationell aus.“

Auch das ist ein Reiz des Jörg Draeger und seiner Show: Manchmal macht er einem einfach Angst.

Europa wählt amerikanischen Funk

Estland gewinnt völlig überraschend den Grand Prix, und nur die Dänen freuen sich nicht darüber.

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Der deutsche Grand-Prix-Chef Jürgen Meier-Beer glaubt, langsam eine Erklärung gefunden zu haben für das Phänomen, das immer wieder verblüfft: Die meisten Menschen verfolgen bei dem Pop-Wettbewerb im Fernsehen nicht die Auftritte der einzelnen Länder; mehr sitzen vor dem Ritual der Punktevergabe. „Europa nimmt sich einmal im Jahr diese Stunde, um kollektiv über die Beziehungen seiner Nationen untereinander zu meditieren“, sagt Meier- Beer. Nach den Wertungen zu urteilen, ist das Zusammengehörigkeitsgefühl der skandinavischen Länder am Anfang des 21. Jahrhunderts intakt, auf britisch-irische Freundschaft kein Verlass, die Verbindung Frankreich-Portugal ungebrochen, und Deutschland ziemlich allein ohne seine Nachbarn Belgien, Schweiz und Österreich.

Eines aber erklärt Meier-Beers Theorie nicht: Warum sich Briten und Türken, Holländer und Griechen und noch einige mehr darüber einig waren, dass „Everybody“, ein altmodisches Stück amerikanischen Funks, gesungen von zwei unaufälligen Männern namens Tanel Padar and Dave Benton, die vor dem Contest in Kopenhagen kaum jemand wahrgenommen hatte, der beste Teilnehmer am diesjährigen Eurovision Song Contest gewesen sein soll. Die Europäer haben allem Anschein nach kaum noch Lust auf klassischen Schlager, aber der Weg nach vorne führt über die Vergangenheit. Denn die Alternative zu kitschigen Balladen waren Musikstile von gestern und vorgestern: Funk a la Cool and the Gang bei den Esten, eine Mischung aus Country und Kinderlied bei den Dänen, Bonnie-Tyler-Bombastpop bei den Slowenen. Die deutsche Vertreterin Michelle kam auf Platz acht.

Die Esten haben nun vier Wochen Zeit, dann steht ein Team der Eurovision bei ihnen vor der Tür und verlangt Rechenschaft, wo und wie sie es schaffen wollen, die Sendung im kommenden Jahr zu stemmen. Mit riesigem technischen und organisatorischen Aufwand (und nicht immer entsprechendem Ergebnis) haben die Dänen die angeblich größte Fernsehshow der Welt inszeniert – Übertragungen von Fußballspielen oder Konzerten nicht mitgerechnet. Da ist der Anspruch hoch, und die Gefahr für ein kleines Land, daran zu scheitern, ebenso. Mehr als 15 Millionen Mark soll die Sendung in diesem Jahr gekostet haben.

Für die Grand-Prix-verrückten Esten ist das Ergebnis ein Traum. Für die knapp geschlagenen Dänen eigentlich auch, die nun langsam anfangen können, die „Grand-Prix-Sonderangebote“ aus Einrichtungsläden und Modegeschäften in Kopenhagen abzuräumen. Die Mehrheit der 38000 Zuschauer im Fußballstadion „Parken“ ließ sich von dem Veranstaltungsort zwar zu einer Art Hooligan-Atmosphäre anstecken, buhte schlechte Wertungen für das eigene Land aus und sparte mit Applaus für die Sieger. Aber den Organisatoren war der zweite Platz lieber als ein Sieg. „Ich glaube nicht, dass man die gleiche Begeisterung hier noch einmal hinkriegen und die Besten des Landes aus allen Bereichen ins Team bekommen würde“, sagt Oberorganisator Jorgen Ramskov, der selbst für die Produktion des Festivals vor einem Jahr seinen Posten als Chef des staatlichen Fernsehsenders DR aufgegeben hatte. Er hatte sich das Ziel gesetzt, den Wettbewerb „nicht zu verjüngen, aber zu modernisieren“.

Ob das gelungen ist, ist schwer zu sagen. Einerseits waren nicht nur die Dänen im generationenübergreifenden Grand-Prix-Rausch, auch in Hamburg nutzten viele Tausend Menschen das schöne Wetter und den Hafengeburtstag, sich auf der Reeperbahn das Spektakel anzuschauen. Und mit mehr als acht Millionen Quote hat der Song-Contest das einzige für die ARD zählende Kriterium erfüllt. Andererseits waren viele Beiträge von einer Art, dass man hofft, dass die jeweils führende Boulevardzeitung in Bild-Manier wenigstens vorher mahnend gefragt hat, ob die für ihr Land überhaupt singen dürfen. Nach einem neuen Reglement müssen die sieben Länder mit den schlechtesten Ergebnissen im nächsten Jahr aussetzen – das trifft unter anderem große Grand-Prix-Nationen wie die Niederlande und Irland.

Deutschland wäre wie Frankreich, England und Italien selbst bei einem schlechten Ergebnis davon ausgenommen – aber Michelle landete ohnehin weit oberhalb der Abstiegszone, obwohl ihre Ballade „Wer Liebe lebt“ nur aus Portugal und Spanien nennswerte Punkte erhielt. Sie sagte, sie sei mit dem achten Platz sehr zufrieden und der Sieg für Estland gehe in Ordnung, weil das „ein kleines Land“ sei. Anders als bei der Probe zeigte sie im Finale stimmliche Schwächen – aber ob so etwas die abstimmenden Europäer überhaupt interessiert, bleibt eine der vielen ungeklärten Fragen dieser Veranstaltung.

(c) Süddeutsche Zeitung

Aber hallø!

Kleines Land, großer Wahnsinn: Die Dänen wollen es mit ihrem European Song Contest am Samstag erheblich krachen lassen.

Wie in einem Märchenwald wirft Sonnenlicht Staubstreifen in die dunkle Arena. Das Gestänge, an dem das Dach aufgehängt ist, lässt dem Licht ein paar Lücken. Dem Wind auch. Kalt ist es. Draußen feiern die Kopenhagener den Frühling: Auf jedem Bordstein sitzt einer, lässt sich anstrahlen und strahlt zurück. Drinnen erinnern sich ein paar Deutsche, die auf den Rängen frösteln, wie die Nationalmannschaft hier vor einem halben Jahr verloren hat. Damals war das Parken-Stadion noch ein normales Fußballstadion, ohne Dach. Der Prospekt sagt, dass man die Halle schnell mit heißer Luft füllen kann. Am Samstag Abend findet hier also der Schlager-Grand-Prix statt (ARD, 21 Uhr).

Ganz so ist es nicht, dass das Stadion extra dafür ein teures Dach bekommen hat. Die Pläne lagen schon in den Schubladen. Aber für das längst totgesagte Fernsehritual hat man sie ‚rausgeholt. Deshalb werden die Kopenhagener in Zukunft, wenn sie hier Madonna zujubeln, dem Grand Prix dankbar sein – auch eine Antwort auf die ewige Frage nach dessen Sinn und Daseinsberechtigung.

Nicht, dass die in Kopenhagen in diesen Tagen viele stellen würden. Die Feuerwehrleute nicht, die eine Woche lang als Sicherheitsleute hinter den Kulissen stehen und sich ein paar Kronen dazu verdienen, damit sie in einem Monat zu den internationalen Polizei- und Feuerwehr-Spielen nach Amerika fliegen können. Die Tourismus-Leute von „Wonderful Copenhagen“ nicht, die jedem Delegationsmitglied am Flughafen das Gefühl geben, die „Wonder Brass“- Band spiele nur für ihn. Und die Leute vom dänischen Fernsehen schon gar nicht. Die haben seit einem Jahr eine Mission. Nach dem Sieg der Olsen-Brüder in Stockholm wollen sie die größte Fernsehshow aller Zeiten veranstalten. Um es den Schweden, den dänischen Lieblingsgegnern, mal richtig zu zeigen? „Nein“, sagt der örtliche Event-Manager Christian Have, „um es der Welt zu zeigen“.

Vielleicht muss man sich einmal vorstellen, was passieren würde, wenn unsere süße Michelle gewänne: Bild würde zwei Wochen komplett ausrasten und die Nation abstimmen lassen, ob Ex-Freund Matthias Reim zurück darf zu Michelle oder nicht. RTL und Sat 1 würden jeden ihrer Schritte zu ewigem Ruhm oder mal eben in den Abgrund mit der steady cam begleiten. Ralph Siegel würde sich heulend in seinem Studio einschließen, weil nicht er es war, der den Grand Prix nach Deutschland holte.

Aber sonst? Der NDR würde routinemäßig die Preussag-Arena buchen und die Fernsehleute engagieren, die die Arena schon bei der Vorentscheidung ganz fürchterlich nach Hannover aussehen ließen. Grand-Prix-Koordinator Jürgen Meier-Beer würde versuchen, Claudia Schiffer als Moderationspartnerin für Axel Bulthaupt zu gewinnen. Die schwulen Grand-Prix-Fanclubs könnten die Tickets unter sich aufteilen. Stefan Raab würde ein paar Sondersendungen machen. Und den meisten Menschen wäre die Geschichte, jenseits eines kultigen Fernsehabend mit Käse-Igeln und viel Alkohol, egal. Grand Prix halt.

In Dänemark ist es so, dass heute sämtliche Minister und der Regierungschef in der ersten Reihe sitzen werden, um sich anzusehen, wie junge unbekannte Menschen mit erstaunlich guten Stimmen erstaunlich uninspirierte Lieder um die Wette singen. „In diesem Jahr ist das für uns kein Song Contest“, sagt Cheforganisator Jørgen Ramskov: „Es ist ein Staatsakt.“ Der Stroget, die Einkaufsstraße, die der Reiseführer als möglicherweise längste Fußgängerzone der Welt beschreibt, hat sich in die sicherlich größte Ausstellung von Grand-Prix-Wahnsinn verwandelt: Eine Konditorei hat in ihrer Auslage den Titel jedes dänischen Beitrags der Geschichte in einer Torte dargestellt. Rosendahl hat seine Schaufenster leergeräumt und ein einzelnes Besteckset hineingestellt, das offizielle Grand-Prix-Besteck, in edler Box, statt 1624 nur 999 Kronen.

In den Plattenläden steht die CD mit den Liedern aller Teilnehmer, der Verkäufer rechnet fest damit, dass die bald auf Platz eins der Hitparade sein wird. Gleich neben den Sammlungen vom „Danske Melodi Grand Prix“ 2000, 1999 und 1954-1998, diversen Best-Ofs und der Platte von Johnny Logan, dem Iren, der zweimal gewonnen hat; die Platte hat er gerade extra für die Dänen aufgenommen. Rund um den Kongens Nytorv Platz strahlt ein Blumenbild mit Blütenklecksen, das die Noten des dänischen Beitrags darstellen soll.

„Es ist eine Geschichte ganz nach dem Geschmack der Dänen“, sagt Christian Have, „wir sind ein kleines Land, wir halten nicht viel von großem Startum. Wir lieben es, dass im vergangenen Jahr mit den Olsen-Brüdern zwei alte Männer gewonnen haben, die ihre große Zeit vor 20 Jahren hatten – und die niemand wirklich auf der Liste hatte.“ Nein, man kann nicht sagen, dass die Dänen vorbereitet waren auf diesen Sieg: Die öffentlich-rechtliche Anstalt Danske Radio hatte gerade beschlossen, ihre Unterhaltungsabteilung aufzulösen. Der frühere Grand-Prix-Beauftrage musste in eine kaufmännische Abteilung wechseln.

Nun hatten auch die Dänen vor ein paar Jahren noch ihre Zweifel an dieser merkwürdigen Veranstaltung. Nach dem Sieg erkannten sie schnell, dass dies die Chance war, der Welt etwas zu beweisen. Danske Radio ist ein kleiner Sender, wie man ihn sich in einem kleinen Land wie Dänemark vorstellt, in dessen Fernsehabteilung nachts und morgens noch das Testbild läuft. Ramskov, der eher auf Rockkonzerte geht und dem Michelle nicht in den CD-Player käme, kündigte seine Position als Fernsehchef, um ein Jahr lang etwas vorzubereiten, das nicht mehr Schlagerwettbewerb, sondern Mammut-Party werden sollte: „Wir erfinden den Song Contest neu. Entweder man macht ihn richtig oder gar nicht.“

Etwas beunruhigt verfolgten die Eurovisions-Kollegen den Gigantismus der Dänen und fragten sich nicht nur, ob das Dach über Parken rechtzeitig fertig würde, sondern auch, ob es überhaupt genügend Leute gebe für die 38 000 Plätze. Das Dach steht, die Karten für die Veranstaltung und zwei Generalproben waren innerhalb von 50 Minuten ausverkauft. Junge Menschen übernachteten in Schlafsäcken auf dem Rathausplatz, um Tickets zu ergattern, die heute für fast 1000 Mark auf dem Schwarzmarkt gehandelt werden.

15 Millionen Mark soll die ganze Veranstaltung kosten, sechs Millionen bekommt Danske Radio von den größeren Eurovisions-Kollegen, den Rest sollen Sponsoren und Partner decken.

„Es war ein Pokerspiel“, sagt der deutsche Grand-Prix-Mann Jürgen Meier Beer. Er verfolgt diesmal nicht nur fasziniert, warum ernstzunehmende Menschen heftig über die Frage streiten können, wie furchtbar es ist, dass alle Teilnehmer plötzlich eine Strophe auf Englisch singen. Für ihn wäre so ein finanzielles und organisatorisches Pokerspiel kaum zu machen – „der Stellenwert des Grand Prix ist für ein kleines Land einfach ein anderer“. Andererseits hat er es geschafft, dass der deutsche Botschafter in Kopenhagen einen Empfang für Schlagermaus Michelle gegeben hat, in einer Kirche, deren Kirchenvorstand darum bat, die Sängerin auf seiner Harley fahren zu dürfen, bevor sie von den Olsen Brothers mit dem Lied „Michelle“ überrascht wurde. Ah, schön!

Am Samstag wird sie auf der Bühne stehen und ihr Lied „Wer Liebe lebt“ singen, von dem sie sagt, dass es eine Botschaft habe: Dass wir alle mehr lieben müssen. Außer von Nicole damals werde das ja viel zu selten gesungen. Die Russen zeigen, dass auch aus Wladiwostok erfolgreiche Musiker kommen können und diese aber trotzdem nicht gut sein müssen. Die Schweden könnten dafür sorgen, dass in Zukunft auch Abba-Kopien als Verstoß gegen die Genfer Menschenrechtskonvention gewertet werden. Aus England kommt eine junge Frau, die aussieht, als habe man sie bei Hempels unterm Sofa gefunden, aber sie singt wie eine Göttin.

Am Ende könnten die Franzosen gewinnen, was gut wäre, weil die keine Lust mehr haben auf einen Grand Prix, bei dem sie dauernd verlieren. Oder die Slowenen, was auch gut wäre, weil es dann auch im nächsten Jahr wieder einen Staatsakt statt eines Schlager-Wettbewerbs gäbe.

Ach ja, die Schlager. Dieses Problem haben die Dänen in ihrem Eifer noch verschlimmert: Auf einer riesigen Bühne sieht man schnell ganz klein aus.

(c) Süddeutsche Zeitung

Michelles Grand-Prix-Tagebuch

Lustig, lustig, tralalalalaaa. Grand Prix: Michelle wundert sich in Kopenhagen über ihr angeblich eigenes „Bild“-Tagebuch.

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Kein Sänger sollte das Haus ohne seine fleischfarbenen Ohrstöpsel verlassen. Sonst muss er im Fall eines Auftritts vor größeren Menschenmengen in windigen Hallen, wo man nicht einfach Lautsprecher-Monitore für die Interpreten aufstellen kann, fremde Ohrstöpsel benutzen, die nie richtig passen, was im Ausland besonders schlimm ist, weil es die Techniker dort ja nie schaffen, einen vernünftigen Ton draufzulegen. Michelle, deutsche Vertreterin beim Grand Prix in Kopenhagen, auch bekannt als „unsere Schlager-Prinzessin“, hat extra auf einer Tournee mit dieser Technik geübt. Und was hat sie nun zu Hause gelassen? Ihre fleischfarbenen Ohrstöpsel.

So steht sie bei der ersten Probe am Dienstagabend auf der Bühne im Kopenhagener Fußballstadion Parken, quengelt, der Ton sei „total überkoppelt“, erträgt die fremden Stöpsel beim Singen nicht, kann aber ohne sie nicht singen, tut sie rein, tut sie raus, einen rein, anderen rein, kommt gegen ihre Backgroundsänger nicht an, vergisst, dass sie den letzten Refrain auf Englisch singen soll, obwohl es ihr Chor aber tut (was zusammen witzig klingt), ist auch beim vierten Durchgang ahnungslos, welche Kamera auf sie gerichtet ist, weint fast.

Der erste Auftritt war also eine Katastrophe. Mit anderen Worten: „Gestern hatte ich meine erste Probe. Es ist schon ein gigantisches Gefühl, auf einer so großen Bühne zu stehen.“ Schreibt Michelle in ihrem „Tagebuch“, das die Bild-Zeitung täglich unter der Autorenzeile „Von MICHELLE (zur Zeit in Kopenhagen)“ veröffentlicht. Gigantisch? Soso.

Man muss nun daraus nicht schließen, dass es in Wahrheit Freudentränen waren, die in Michelles Augen standen. Es ist eher so, dass speziell dieses Tagebuch durch eine bemerkenswerte Kombination aus Gedankenlesen und Hellsehen entsteht, was — eine lästige Nebenwirkung solch‘ journalistischen Extremsports — nicht immer zu den verlässlichsten Resultaten führt. Der Tagebucheintrag über die Probe jedenfalls („Mein Herz zittert. Meine Knie werden weich.“) entstand, bevor die Probe begonnen hatte. Und auch wenn man auf einem Foto sieht, wie Michelle mit Block und Stift „allein in ihrem Hotelbett“ sitzt -– es ist Bild-Redakteur Mark Pittelkau, der ihre geheimsten Sehnsüchte und Sorgen beschreibt. Er kennt Michelle sozusagen besser als sie sich selbst. Er denkt sie sich aus.

Das ist soweit nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich ist, dass die Schlagerprinzessin „ihr“ Tagebuch am Anfang nicht einmal gelesen hat, bevor es in Druck ging — was, neben der Sache mit den fleischfarbenen Ohrstöpseln, daran zweifeln lässt, ob sie mit ihrem Manager gut beraten ist. Jedenfalls ergibt sich dadurch gleich am ersten Morgen, vor einer gemeinsamen Stadtrundfahrt, die folgende Szene, die Generationen von Studenten der Kommunikationswissenschaft Stoff für Seminare zum Thema Medieninszenierungen und Wirklichkeit geben könnte: Da steht also Michelle in der warmen dänischen Frühlingssonne und bekommt die Bild-Zeitung mit ihrem Tagebuch- Artikel in die Hand gedrückt. Drei deutsche Kamerateams filmen nun, wie Michelle zum ersten Mal „ihr“ Tagebuch liest, über die Schlagzeile „Nachts im Hotel fühle ich mich oft so einsam“ staunt, erschrickt, lacht und dann sagt, das sei ja ein Quatsch.

Der Autor Pittelkau, der ein paar Schritte daneben steht, wird am Nachmittag in Michelles Bild-Tagebuch den Eintrag machen, zum bevorstehenden ersten Geburtstag ihrer Tochter habe sich der Vater des Kindes, der Schlagersänger Matthias Reim, noch nicht gemeldet, was ja wohl mal wieder typisch sei. Am Tag darauf stellt Michelle ihren Ghost-Writer zur Rede.

In Zukunft will sie vorher wissen, was sie in ihr Tagebuch schreiben wird.

(c) Süddeutsche Zeitung

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Was bin ich?

Süddeutsche Zeitung

Schwein gehabt. „Was bin ich?“ und das Geheimnis der Antizyklik: Wie eine kleine, leise Show auf Kabel 1 zum großen Erfolg wurde.

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Angenommen, jemand wollte in seinem Leben nur eine einzige Fernsehsendung besuchen. Wollte einmal dabei sein, um sich zu überzeugen, dass es sie wirklich gibt, die Leute, die er täglich in seinem Wohnzimmer trifft; wollte einmal die Kameras sehen, das Studio und die Prominenten und dann nach Hause zurückkehren und seinen Lieben berichten, dass alles so ist, wie es auf dem Bildschirm aussieht, nur ein bisschen bunter vielleicht und kleiner. In dem Wissen, dass alles seine Ordnung hat, könnte er fortan beruhigt zur Fernbedienung greifen. Er müsste allerdings bei Was bin ich? gewesen sein.

Wäre er zu Andreas Türck gegangen, hätte er schnell gemerkt, dass es nur im Fernsehen so aussieht, als unterhielten sich bei Talkshows mehrere Menschen miteinander. Wäre er in einer ARD-Geburtstagsgala gelandet, hätte er feststellen müssen, dass nur die Zuschauer kontinuierlich mit alkoholischen Getränken versorgt werden, die dauernd im Bild sind, und der Jubilar in den Pausen gar nicht fröhlich und überrascht aussieht, was daran liegen könnte, dass er gar nicht fröhlich und überrascht ist. Beim Grand Prix der guten Laune hätte er erleben können, dass Frank Zander in der Halle viel mehr dummes Zeug redet als im Fernsehen, weil der Hessische Rundfunk ihn zwei Tage später alles noch einmal aufsagen ließ. Und wenn er bei der Abenteuershow Fort Boyard dabei gewesen wäre, wüsste er, dass sich ganze Rätsel mehrmals drehen lassen, indem die Kandidaten tun, als wüssten sie noch nicht die richtige Antwort.

Desillusionierend, sowas.

Was bin ich? ist eine Sendung mit vier Menschen, die den Eindruck erwecken, als seien sie ernsthaft daran interessiert, heiter Berufe zu erraten. Als hätten sie Vergnügen daran, miteinander und gegeneinander zu spielen. Als gäbe es echten Ehrgeiz, derjenige gewesen zu sein, der als erster „Drehorgelspieler“ gerufen hat.

Am Ende, nach der Verabschiedung, wenn die Kameras letzte Bilder einfangen, unter die später der Abspann gelegt wird, stecken Vera Int-Veen und Herbert Feuerstein die Köpfe zusammen. Sie tun das aus dem gleichen Grund, aus dem Peter Klöppel am Ende der Nachrichten auf seiner Computer-Tastatur rumtippt: Es sieht hübsch aus und vermittelt einen trügerischen Anschein von Authentizität.

Aber der Herbert lässt sich auch dann noch von der Vera erklären, wie sie Susanne Uhlen erraten hat, als die Kameras längst aus sind. Sie sitzen da, quasseln und gestikulieren. Und eine halbe Stunde später kann man Feuerstein im Aufenthaltsraum treffen, wie er erregt auf den Moderator Björn Hergen-Schimpf einredet, der ihn seiner Meinung nach aus reiner Bösartigkeit, „aus reiner Bösartigkeit, Hergen!“, mit einem irreführenden Nein um einen schnellen Sieg brachte. Spätestens, als Norbert Blüm vom Autogrammkarten-Unterschreiben aufschaut und aus dem Hintergrund einen Spruch nach dem nächsten in die Runde wirft, sitzen hier nicht mehr Fernseh-Profis zwischen zwei Arbeitsschichten – sondern Spieler zwischen zwei Partien.

Das allein macht Was bin ich? noch nicht zu einer guten Sendung. Aber es erklärt ein wenig, warum die Show funktioniert. Warum 46 Jahre nach der ersten Sendung von Robert Lembke und zwölf nach seiner letzten jeden Donnerstag zwei bis drei Millionen Menschen Kabel 1 einschalten — mehr als jedes andere Programm auf diesem Sender und mehr als dieser je erwartet hatte –, obwohl ihr alles fehlt, was heute Pflicht ist: Millionengewinne, Duschszenen, ein Art Ufo als Kulisse.

Was bin ich? wird in der Fernsehfabrik in Köln-Hürth aufgezeichnet. Nebenan stehen dienstags die Leute für Wer wird Millionär? an, hinten geht’s zum Container von Big Brother. Dazwischen eine andere Welt. Was bin ich? sieht aus, als funktionierte es auch ohne Kameras. Als würden sich die vier Ratefüchse und ihr Spielleiter auch sonst zum Beruferaten treffen. Das Publikum sitzt so dicht an der Bühne, dass Zuschauer schon mal ganz ungezwungen auf rhetorische Fragen der Promis antworten.

Sicher, man würde sich das Wohnzimmer eher nicht in Orange und Grün einrichten und vielleicht auf die blonde Assistentin verzichten. Man müsste auch nicht jemanden haben, der auf die Zeit achtet und nacheinander Pappschilder hochhält, auf denen „Frage stellen!“, „Tempo!“ steht und zwei Totenköpfe oder eine Bombe mit ziemlich kurzer Lunte abgebildet sind. Wahrscheinlich würden Vera Int-Veen und Tanja Schumann einander auch nur dann zum Spieleabend einladen, wenn niemand anders Zeit hätte. Aber das Spiel könnte genau so stattfinden, mit so viel Ehrgeiz, Ernsthaftigkeit und Spaß.

Offenbar weiß Kabel-1-Unterhaltungschef Karsten Schlüter, wie wichtig es ist, dass sein Team tatsächlich Spaß hat an der Arbeit. Es wäre preiswerter und durchaus üblich, von solchen Shows drei oder vier am Tag aufzunehmen; bei Was bin ich? sind es zwei, und nach drei Tagen in Folge gibt es eine Pause. „Es lohnt sich, dafür mehr Geld auszugeben“, sagt Schlüter. „Notfalls muss ich das an anderer Stelle einsparen. “ (Das Team ist überzeugt: Er spart bei der Verpflegung. Als warmes Gericht gibt es ab-wechselnd Suppe, Suppe und Suppe, und das Versprechen Schlüters, eine tolle Espressomaschine zu organisieren, stellte sich als billiger Motivationstrick heraus. ) „Ich habe noch nie so entspannt gearbeitet, das ist wie Kindergeburtstag“, sagt Talkmasterin Vera Int-Veen. „Wir haben alle genug zu tun, wir würden hier nicht mitmachen, wenn es uns keinen Spaß machen würde. “

Ein Programm, so billig wie beliebt — das klingt so, als müssten die Sender nur alte, unsterbliche Konversationsspiele ausgraben. „So einfach ist es nicht“, sagt Schlüter, und dann erzählt er lange Geschichten, wie man über Flohmärkte gelaufen sei um einen passenden Gong zu finden. Dass man die Titelmusik in den USA produzieren ließ und ein paar Sekunden vom Original („in Mono!“) drinliess. Und dass am Anfang 540 Leute auf der Liste möglicher Ratefüchse gestanden hätten.

Selbst über die Frage, wer der vier Auserwählten wo sitzt, hat Schlüter, der sich sonst ums Glücksrad kümmert, lange gegrübelt. Die Gag-Autoren, die ihnen ursprünglich witzige Fragevarianten aufschreiben sollten, schickte man schnell wieder nach Hause. Die neue Vorgabe hieß: „Nur Mut, spielt einfach, und wir filmen das ab. Und wenn ihr daneben steht, schieben wir einfach die Kulisse rüber.“

Und so sitzen sie und spielen, und das reicht. Als eine Wünschelrutengängerin, nachdem sie erraten ist, im Studio nach gefährlichen Wasseradern sucht, findet sie eine genau unter Feuersteins Platz, der natürlich unter Protest das Studio verlässt. Und Björn-Hergen Schimpf schwört, dass das Ergebnis nicht abgesprochen war. „Das ist fast eine Live-Sendung“, sagt Feuerstein, der früher im WDR in einer ganz ähnlichen Sendung namens Pssst aufgetreten ist. „So viel hängt von der Tagesform ab, so viel Spontaneität ist möglich. “ Bei einem großen Sender sähe Was bin ich? anders aus. „Pro Sieben oder RTL müssten das ganz anders aufziehen“, sagt Schlüter. Mit großer Showbühne und Musikeinlage, mindestens. „Dann besteht die Gefahr, dass sie von der guten Kernidee ablenken. “

Letztlich ist der Erfolg kein Wunder. Natürlich funktioniert die alte, kleine, leise, harmlose Sendung, weil so viele andere jung, groß, laut, riskant sind. Antizyklik nennt man das an der Börse. „Man hat immer zwei Richtungen, in die man gehen kann, um aufzufallen“, sagt Schlüter. „Alle anderen machen Rockkonzerte, wir machen ein Kammerspiel. “

Am Anfang jeder Sendung begrüßt Björn-Hergen Schimpf die Zuschauer zu einer Stunde „gepflegter Unterhaltung“. Das ist nicht nur eine Phrase.

(c) Süddeutsche Zeitung