Autor: Stefan Niggemeier

Das wahre Leben im Netz

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Wie gut kennen wir eigentlich unsere besten Freunde aus dem Netz? Und ist eine online geschlossene Beziehung automatisch weniger wert, als eine echte zum Anfassen?

Am Dienstag vergangener Woche tauchte auf Facebook eine Suchmeldung auf. Wer den Publizisten und Internet-Unternehmer Robin Meyer-Lucht gesehen hatte, sollte sich dringend unter einer angegebenen Telefonnummer melden.

Es dauerte nicht lange, bis die ersten Zyniker den Eintrag kommentierten: Da wolle sich wohl jemand mit einem geschmacklosen Marketinggag ins Gespräch bringen, man weiß doch, wie das geht, im Netz.

Es war kein Marketinggag, und wenig später wurde Meyer-Lucht tot aufgefunden. Nach der öffentlichen Suche im Internet begann die öffentliche Trauer im Internet. Menschen würdigten Robin Meyer-Lucht in ihren Blogs, in Kommentaren, auf ihren Profilseiten. Das Netz zeigte sich von seiner sozialen Seite und wahrhaftig als Netz: eine Verbindung von Menschen, die die Trauer um einen Verstorbenen eint.

Beim Lesen dieser Texte konnte man aber auch die Ahnung einer Leerstelle bekommen; das Gefühl, dass viele dem Menschen, dessen Verlust sie beklagten, nicht nahe waren. Dass sie einige Artikel kannten und vielleicht Teile seiner Biographie, aber nicht den Menschen. Noch deutlicher war das vor einigen Monaten, als plötzlich Jörg-Olaf Schäfers starb, Kolumnist dieser Zeitung und auch ein Netzaktivist, ebenfalls nicht einmal 40 Jahre alt. Viele Einträge lasen sich wie Nachrufe auf einen unbekannten Freund.

Wer wollte, konnte im Umgang mit diesen Todesfällen einen Beleg nicht für das Soziale im Netz sehen, sondern für seine Oberflächlichkeit; dafür, dass die Nähe, die von den ganzen „Freundschafts“-Anfragen, dem Aufleuchten von Namen im Chatfenster, dem Folgen auf Twitter suggeriert wird, nur eine Illusion ist.

Was sind sie wert, die Freundschaften, die wir im Internet pflegen? Und ist „pflegen“ – damit fängt es schon an – überhaupt das richtige Wort für etwas, das sich mit so wenig persönlichem Einsatz bewerkstelligen lässt: ein „Gefällt mir“-Klick hier, ein lustiger Kommentar dort; ohne das peinliche Schweigen in einem direkten Gespräch aushalten zu müssen, das Ungemütliche bei einem persönlichen Treffen; ohne die Notwendigkeit räumlicher oder auch nur zeitlicher Nähe (die E-Mail lässt sich später beantworten, wenn es gerade passt).

Unser Diskurs über das Internet wird von einer fundamentalen Prämisse geprägt: Online-Beziehungen sind richtigen Beziehungen; Online-Gespräche sind keine richtigen Gespräche. Es ist, als würden im Internet tatsächlich Computer miteinander kommunizieren, und nicht Menschen, die sie bedienen. Es sind nicht nur minderwertige Kontakte, es sind gar keine echten Kontakte.

Als die Drogenbeauftragte der Bundesregierung in dieser Woche eine Studie über „Internetsucht“ vorstellte, beschrieb der Direktor des Hamburger Zentrums für Interdisziplinäre Suchtforschung, Jens Reimer, die gefährliche Anziehungskraft des Internets so: Die einzigartige Möglichkeit, online „soziale Kontakte zu pflegen“, steigere bei bestimmten Personen die Bereitschaft, ihr „Sozialleben“ in größerem Maß aufzugeben.

Ein Sinn ergibt dieser Befund nur, wenn man Online-Freundschaften nicht als reale Freundschaften wertet und den Austausch mit Freunden im Internet nicht als „Sozialleben“ akzeptiert – wie es implizit auch die Drogenbeauftragte implizit tut. Die vermeintlich internetsüchtigen, angeblich vereinsamenden Jugendlichen sind in Sozialen Netzwerken ganz besonders aktiv. Dass dieser Widerspruch in der öffentlichen Debatte nicht einmal auffällt und nach Erklärungen verlangt, zeigt, wie vollständig die Wahrnehmung des Internet von der Prämisse bestimmt ist, dass das, was online passiert, nicht echt ist.

Der Hamburger Medienforscher Jan Schmidt vermutet, es könnte am ursprünglichen Begriff „Cyberspace“ liegen, der als Metapher so überzeugend war, dass wir nun mit dem Bild eines vom wahren Lebens abgetrennten Raum auf das Internet schauen. Es könnte auch Ausdruck davon sein, dass das Internet als Aufenthaltsraum noch so neu und unfertig ist und wir im Umgang mit ihm so ungeübt. Vielleicht ist es schnöder Kulturpessimismus. Ganz sicher bündelt sich in der Abtrennung und Verteufelung des Internet aber auch die teils vage, teils sehr konkrete Angst vieler etablierter Institutionen vor dem Verlust an Macht und Kontrolle.

Dass wir dem, was im Internet passiert, die Echtheit absprechen,ist umso bemerkenswerter, als wir Kindern und Jugendlichen doch sonst im Gegenteil vermitteln wollen, dass das Internet kein von der Welt abgekoppelter Raum ist; dass Dinge, die sie online tun, offline Konsequenzen haben. Dass sie sich überlegen müssen, welche Fotos sie hochladen, und dass ein verbaler Angriff in einem virtuellen Forum jemanden tatsächlich verletzt.

Die amerikanische Wissenschaftlerin Danah Boyd, die die Nutzung sozialer Netzwerke durch Jugendliche untersucht hat, beschreibt in ihrer Promotion „Taken Out of Context“ anschaulich, wie sie lernen, dass virtuelle Erfindungen wie etwa ein Freundesranking auf MySpace sehr handfeste Auswirkungen auf die tatsächlichen Beziehungen unter den Betroffenen hat.

Die meisten Jugendlichen vernetzen sich online vor allem mit ihrem erweiterten Freundes- und Bekanntenkreis aus der Schule. Sie haben realistische Vorstellungen darüber, dass nur ein kleiner Teil derjenigen, mit denen sie dort als „Freunde“ verbunden sind, tatsächlich eine enge Beziehung zu ihnen haben, und wissen die anderen dennoch zu schätzen. Und obwohl vieles an der Art, wie digital kommuniziert wird, fundamental anders ist, erfüllt sie dieselben Bedürfnisse: Junge Leute suchen und finden ihre eigene Rolle, vergewissern sich ihrer Identität, entwickeln Beziehungen.

Das findet an Orten statt, die sich der Kontrolle durch Erwachsene entziehen – aber Boyd erinnert daran, dass das immer schon so war. Früher verschwendeten die Jugendlichen ihre Zeit nicht in Chatrooms, sondern lungerten in Einkaufspassagen oder auf Parkplätzen herum. Aber analog zur Stigmatisierung all dessen, was im Internet stattfindet, wird die vermeintlich reale Welt verklärt. Jeder Kinobesuch ist demnach dem Ansehen von Online-Videos unterlegen – das erste gilt als soziale Aktivität, das zweite beinhaltet, egal wie intensiv der Austausch darüber in Foren oder Chats ist, die Gefahr der Vereinsamung.

Auch die Studie, wonach eine halbe Million Deutsche „internetsüchtig“ sind, beruht auf solchen Unterstellungen und befördert sie. Anstatt zu differenzieren, worin genau die Abhängigkeit besteht, ob es etwa konkret um Online-Spiele geht oder virtuellen Sex, wird der Ort an sich zur Gefahr erklärt. Eine der Schlüsselfragen, die zur Diagnose gestellt werden, lautet: „Wie häufig bevorzugen Sie das Internet statt Zeit mit anderen zu verbringen, z.B. mit Ihrem Partner, Kindern, Eltern, Freunden.“ Die Möglichkeit, im Internet „Zeit mit anderen zu verbringen“, ist nicht vorgesehen. Nähe und Gemeinsamkeit zählen nur in analoger, körperlicher Form. Das Internet wird konsequent als wirklichkeitsferner, einsamer Fluchtort definiert. Fragen wie: „Wie häufig setzen Sie Ihren Internetgebrauch fort, obwohl Sie eigentlich aufhören wollten?“ tun ihr übriges. (Man ersetze Internetgebrauch testweise durch Bücherlesen, Schlafen oder Essen.)

Natürlich gibt es im Internet Formen der Kommunikation, die in jeder Hinsicht virtuell sind. Menschen nehmen in Fantasiewelten Fantasierollen ein – und verlieren sich vielleicht darin. Das ist aber etwas grundsätzlich anderes als die alltäglichen sozialen Aktivitäten von Menschen im Netz. Die pauschale Entwertung von Internet-Kontakten verhindert eine Auseinandersetzung damit, welche Art von Kommunikation tatsächlich in eine soziale Isolation führen kann.

Die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel behauptete im vergangenen Jahr im „Tagesspiegel“ in einem Essay über „virtuelle Nähe“: „Die wahren Freundschaften bei Facebook entstehen nicht dort, sondern sie entstehen im wirklichen Leben und werden ins Digitale übertragen.“ Das ist nicht nur anmaßend. Es ist auch bezeichnend in der behaupteten Dichotomie zwischen dem „wirklichen Leben“ und dem unwirklichen Internet – und den Werten, die ihnen jeweils zugeschrieben werden.

Die „wirkliche Welt“, um das mal auszusprechen, ist die, in der ein Personalchef bestimmt hat, mit wem man den Abend nach der Arbeit in der Kneipe verbringt. Im Gegensatz zum unwirklichen Internet, wo man sich über so abwegige Dinge wie gemeinsame Interessen kennenlernt und von so oberflächlichen Dingen wie der Art, Texte zu formulieren, beeinflussen lässt. Nein, wie sollen dort, über den regelmäßigen Austausch von Briefen und Kurznachrichten, über das Teilen eigener Erlebnisse, interessanter Artikel oder unterhaltsamer Links, „wahre Freundschaften“ entstehen?

Ich habe schon an so unwirtlichen Orten wie der Kommentarspalte meines Blogs nette und interessante Menschen kennengelernt, und aus einigen sind meine engsten Freunde geworden. Es sind Online-Kontakte von großer Intensität, voller Leben, Kommunikation und Austausch über alles, was man im Internet findet, also: alles.
Wir haben uns später auch in der „wirklichen Welt“ getroffen, wie Frau Meckel sagen würde, und aus den Kontakten echte Kontakte gemacht, wie die Drogenbeauftragte der Bundesregierung finden würde, aber ich könnte jetzt nicht sagen, ob die wichtigsten, intensivsten Momente in der analogen oder der digitalen Welt stattfanden. Die Unterscheidung ist sinnlos.

Richtig ist, dass es Facebook und ähnliche Online-Angebote erleichtern, Kontakte auf einem nicht-intensiven Niveau aufrecht zu erhalten; lose in Verbindung zu bleiben mit alten Schulfreunden oder Kollegen oder vage Beziehungen zu haben mit Menschen, mit denen uns nur ein spezielles Interesse verbindet.

Muss man sich sorgen, wenn jemand Kontakte in seinem räumlichen Umfeld zugunsten von Kontakten in einem Online-Netzwerk aufgibt? Oder nur, wenn jemand tiefgründige Beziehungen zugunsten oberflächlicher Kontakte kappt?

Angeblich ist unser Gehirn schon rein physikalisch nicht in der Lage, mit mehr als 150 anderen Menschen irgendeine Art von bedeutungsvoller Beziehung zu haben – das ist die sogenannte Dunbar-Zahl, benannt nach dem Anthropologen Robin Dunbar. Er hat sie durch einen Vergleich der Gehirngröße verschiedener Primatenarten mit der Größe ihrer sozialen Bezugsgruppen entwickelt. Sie wird trotzdem regelmäßig ernst genommen und als Beleg dafür genutzt, dass Menschen keine Hunderte oder Tausende Facebook-„Freunde“ haben können.

„Ja, ich kann mithilfe deines Tweets herausfinden, was du zum Frühstück hatte, aber kann ich dich wirklich besser kennen lernen?“, fragte Dunbar in einem Interview mit dem „Observer“. Zweifellos schaffen Facebook-Funktionen, bei denen Nutzer ihr Leben vom Babyfoto an dokumentieren, die Illusion einer Nähe, die ein gemeinsames Erleben nicht ersetzen kann. Aber es gibt keinen Grund, dieses gemeinsame Erleben auf Offline-Erfahrungen zu beschränken.

Wie bizarr ist es, dass im öffentlichen Diskurs ausgerechnet das Medium geringgeschätzt wird, das Kommunikation möglich macht, die nicht flüchtig ist? In der man teilweise auch eine Rennaissance der Kultur des Briefeschreibens sehen kann? Stattdessen gilt die Sichtbarkeit und Permanenz profaner Sekundenaufnahmen aus dem Alltag, die nur Offline-Alltag online sichtbar macht, als Beleg für die Lächerlichkeit digitaler Kommunikation.

„Wörter entgleiten uns“, behauptet Dunbar. „Jede Berührung ist tausend Wörter wert.“ Der Satz formuliert exemplarisch den Dünkel gegenüber allem, was nicht handfest begreifbar ist.

Für die Menschen, die Robin Meyer-Lucht und Jörg-Olaf Schäfers im Netz betrauert haben, waren die vielen Online-Kommentare sicher eine Form der tröstenden Umarmung. Das ersetzt keine tatsächliche Berühung, aber es ist eine Bereicherung, und sie ist echt und nicht virtuell. Und dass man oft erahnen konnte, dass sie die Verstorbenen nicht wirklich kannten, ist kein Zeichen für die Oberflächlichkeit der Online-Welt, sondern spiegelt nur wieder, dass wir von vielen Menschen, die in unserem Leben eine Rolle spielen, nur einen winzigen Ausschnitt kennen. Neu ist nicht diese Form der Beziehung. Neu ist nur die öffentliche Form privater Trauer.

Wie ARD und ZDF ihren Gebührenbedarf kleinrechnen

Die ARD behauptet, der zusätzliche Finanzbedarf, den sie für die kommenden vier Jahre angemeldet habe, entspreche einer jährlichen Steigerung um 1,1 Prozent. Die ARD-Vorsitzende Monika Piel hat diese Zahl auch in diversen Interviews genannt. Das ZDF rechnet seinen zusätzlichen Bedarf öffentlich in eine jährliche Steigerung von 1,3 Prozent um. Beide Angaben sind falsch. In Wahrheit sind die Steigerungen deutlich höher.

Das wird jetzt ein bisschen kompliziert.

Es gibt mehrere Gründe, warum die Zahlen über die von ARD und ZDF bei der zuständigen Kommission KEF beantragten Mittel so schwer einzuordnen und so leicht zu skandalisieren sind. Der naheliegendste sind natürlich die schieren absoluten Größe der Zahlen, die Millionen- und Milliardenbeträge. Aber es kommt noch etwas hinzu: Die Gebührenperiode läuft über vier Jahre. Die bewilligten Etats steigen am Anfang sprunghaft an und bleiben dann konstant.

Die ARD zum Beispiel hat eine Bedarfssteigerung um insgesamt 900 Millionen Euro angemeldet. Das entspricht 225 Millionen Euro jährlich. Diese 225 Millionen Euro stellen eine Zunahme des Etats um 4,1 Prozent dar. Dem stehen dann aber drei Jahre ohne weiteres Wachstum gegenüber. Die 4,1 Prozent lassen sich deshalb nicht mit jährlichen Steigerungsraten wie etwa der Inflation vergleichen.

Es ist deshalb prinzipiell sinnvoll, diese Zahl auf eine jährliche Steigerungsquote umzurechnen, wie es ARD und ZDF tun. Mit der behaupteten jährlichen Anpassung von 1,1 Prozent der ARD ergäbe sich allerdings folgendes Bild:

Tatsächlich ist nach vier Jahren mit einer jährlichen Steigerung von 1,1 Prozent die neue beantragte Etathöhe erreicht. Nur hat die ARD diese Höhe ja auch schon für die Jahre zuvor beantragt. Anstatt der 900 Millionen, die sie angeblich insgesamt zusätzlich braucht, bekäme sie mit einer jährlichen Steigerungsrate von 1,1 Prozent in vier Jahren nur rund 614 Millionen zusätzlich.

Um auf 900 Millionen Mehreinnahmen zu kommen, müsste der Etat nicht vier Jahre lang um 1,1 Prozent, sondern um 1,6 Prozent steigen.

Das ZDF hat exakt denselben Rechenfehler gemacht. Es hat — nach neuesten Zahlen — einen Bedarf von 411 Millionen Euro angemeldet. (Die von der „Zeit“ behaupteten 435 Millionen sind falsch; die vom ZDF später bestätigten 428 Millionen inzwischen nach ZDF-Angaben überholt.)

Der Sender erklärt mir:

Dieser Finanzbedarf (411 Mio) würde bezogen auf die Beitragsperiode 2013-2016, bei dem angenommenen Beitragsaufkommen eine Erhöhung des Rundfunkbeitrags um 0,248 € bedeuten. Der aktuelle Anteil des ZDF an der Rundfunkgebühr beträgt 4,735 €. Setzt man die ermittelten 0,248 € in Relation dazu, entspricht dies einer Steigerung von 5,2 Prozent für den Zeitraum von vier Jahren. Verteilt man diese Steigerung gleichmäßig über die vier Jahre, ergibt sich mit Hilfe des geometrischen Mittelwerts eine jährliche Steigerung von 1,3 Prozent.

Nur verteilt sich die Steigerung eben nicht gleichmäßig über die vier Jahre, sondern wird sofort im ersten Jahr wirksam und bleibt dann konstant. In Wahrheit entspricht der angemeldete zusätzliche Bedarf des ZDF nach meinen Berechnungen einer jährlichen Steigerung um gut 2,0 Prozent.

Das ist immer noch eine Größenordnung, die vermutlich bestenfalls einen Inflationsausgleich darstellt. Insofern halte ich die Reaktionen auf diese Bedarfsanmeldung (die ohnehin von der KEF deutlich gekürzt werden wird) für unverändert abwegig und hysterisch. Ich hätte mich aber nicht auf die Zahlen verlassen dürfen, die ARD und ZDF angegeben haben. Sie erwecken einen falschen, zu niedrigen Eindruck von dem zusätzlichen Bedarf, den sie angemeldet haben.

[via Michael in den Kommentaren]

Das Gebührenwucherphantom

ARD und ZDF haben der zuständigen Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs (KEF) mitgeteilt, wieviel Geld sie in der nächsten Gebührenperiode mehr benötigen. Die Summen entsprechen nach Angaben der Sender einer jährlichen Steigerung von 1,1 bzw. 1,3 Prozent. (Nachtrag/Korrektur hier.) Das ist weniger als die aktuelle Inflationsrate von über 2 Prozent. Das nominale Wachstum, das ARD und ZDF beantragt haben, entspricht also einem realen Rückgang ihrer Etats.

Es ist schwer, darin einen Skandal zu sehen. Natürlich kann man der Meinung sein, dass die öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland ohnehin schon über viel zu viel Geld verfügen und in Zukunft deutlich schrumpfen sollten. Aber man muss schon ideologisch verblendet sein und irreführend rechnen, um aus einem Wachstum unterhalb der Inflationsrate einen Beleg für Maßlosigkeit und Gier der öffentlich-rechtlichen Anstalten zu machen.

Den Gegnern von ARD und ZDF in den Verlagsredaktionen, den Lobbyverbänden und der Politik ist das mit vereinten Kräften gelungen. Mit teils bloß reflexhafter, teils sicher bewusst einseitiger Berichterstattung haben sie die Bedarfsanmeldung in den vergangenen Tagen in grotesker Weise skandalisiert. Es ist ein Lehrstück darüber, wie man mit geschickter Propaganda den Verlauf einer Debatte fast vollständig bestimmen kann.

An ihrem Beginn steht ausnahmsweise nicht die „Bild“-Zeitung, sondern die „Zeit“. Sie hat exklusiv in Erfahrung gebracht, welchen Bedarf ARD und ZDF bei der KEF angemeldet hatte, und gibt die Kommentierung gleich in der Überschrift ihres Artikels vor: „Immer in die Vollen“.

„Maßlos“ sei die „Forderung“ von ARD und ZDF, suggeriert die Autorin Anna Marohn, noch bevor sie sie überhaupt genannt hat. Ihr Artikel beginnt so:

Wunschzettel, das lernen Kinder früh, sind ein diplomatischer Akt. Wer sich ein Pony wünscht, bekommt am Ende vielleicht einen Hasen oder einen Wellensittich. Wer es aber übertreibt und auch noch zehn Puppen oder zehn Roller haben will, der zieht sich den Unmut der Eltern zu. So viel zur Theorie der Wunschzettel.

Ironisch spricht sie später angesichts der Zahlen, die sich über vier Jahre auf insgesamt 1,47 Milliarden Euro zusätzlich belaufen, von der „neuen Bescheidenheit“, nennt sie eine „üppige Forderung“.

Weil die „Zeit“ ihre Informationen samt wilder Spekulationen über eine Erhöhung der Rundfunkgebühren vorab an die Agenturen gegeben hat, stehen ihre Zahlen und Interpretationen am Donnerstag auch in anderen Zeitungen. Die „Bild“-Zeitung lässt sie durch irreführende Vergleiche von Zahlen, die sich auf ein einzelnes Jahr und auf vier Jahre beziehen, noch maßloser erscheinen, und brüllt: „Gebühren-Irrsinn“. Die „Stuttgarter Nachrichten“ berichten unter der Überschrift: „Sender halten Hand auf“.

Jürgen Doetz, dessen Beruf es ist, im Auftrag der Privatsender gegen ARD und ZDF zu wettern, nutzt seine Chance. Die Agenturen zitieren ihn: „Diese Zahlen zeugen von einem völligen Realitätsverlust der gebührenfinanzierten Anstalten und im Besonderen beim ZDF.“ Es handle sich um einen „Affront gegenüber den Gebührenzahlern“ sowie „eine Ohrfeige für die Politiker“.

Angesichts der historisch niedrigen Forderungen von ARD und ZDF könnte man seine Lautstärke hysterisch und die propagandistische Absicht durchschaubar finden. Doch im durch „Zeit“ und „Bild“ vorgegebenen Kontext wirkt Doetz‘ Gebrüll genau umgekehrt: Sie lässt die Beteuerungen von ARD und ZDF unwahrscheinlich wirken, die beantragten Steigerungsraten seien historisch niedrig.

Es ist die Stunde von Leuten wie Wolfgang Börnsen, dem medienpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, der alliteriert, die Anträge von ARD und ZDF seien „unangebracht, unpassend und unangemessen“. Und natürlich meldet sich auch sein FDP-Kollege Burkhardt Müller-Sönksen mit üblichen Rülpsern zu Wort. Von einer „dreisten Selbstbedienungsmentalität der Intendanten“ spricht er und von einem „Generalangriff auf das duale System“.

Der Tonfall ist ansteckend.

Das „Hamburger Abendblatt“ aus dem Verlag Axel Springer ist ganz außer sich und kommentiert unter der Überschrift „Paralleluniversum ARD und ZDF. Die Gebührenforderung der öffentlichen Sender ist absurd“:

Irgendwo da draußen in den Funkhäusern an der Rothenbaumchaussee, auf dem Mainzer Lerchenberg, am Kölner Appellhofplatz oder am Münchner Rundfunkplatz müssen Menschen leben, die mit einer seltenen Gabe gesegnet sind: Sie bekommen von dem, was um sie herum geschieht, nichts mit. Rein gar nichts.

Sie wissen nicht, dass wir in einer schweren Finanzkrise stecken, deren Ende nicht abzusehen ist. Ihnen ist unbekannt, dass deshalb überall kräftig gespart werden muss. Und davon, dass die Unternehmen ihrer Branche, die sich nicht durch Gebühren finanzieren, auch ganz ohne Finanzkrise schwere Zeiten durchmachen, weil sich viele Mediennutzer und Werbetreibende ins Internet verabschieden, haben sie auch noch nie gehört.

Auch der Rest des Kommentars von Kai-Hinrich Renner ist pure Empörung und verirrt sich am Ende noch in der Behauptung, die Forderungen von ARD und ZDF seien „absurd“, weil sie aufgrund der Haushaltsabgabe ab 2013 eh mehr Geld kriegten. Das ist schlicht falsch, denn selbst wenn es so wäre, müssten sie den Betrag, der ihren angemeldeten und genehmigten Bedarf übersteigt, später wieder abgeben bzw. verrechnen.

Der Medienredakteur des Berliner „Tagesspiegel“, Joachim Huber, schnappt nach Luft: „Das Letzte“ hat er seinen Kommentar überschrieben, in dem er keucht: „Demut sieht anders aus, das erfüllt den Tatbestand der Nötigung.“

Die „Berliner Zeitung“ berichtet unter der Überschrift „schiefergelegt“ und bemüht im Text das falsche Bild von der „Schieflage im Dualen Rundfunksystem“. Es beruht auf der von der Privatsenderlobby kultivierten Annahme, Private und Öffentlich-Rechtliche sollten ungefähr gleich stark sein. Dabei ist die Architektur des Dualen Systems eine ganz andere. Sie ist darauf ausgelegt, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk immer stark sein soll, auch wenn die privaten — aus welchen Gründen auch immer — schwach sind. Dieses System kann man natürlich für falsch halten und verändern wollen. Aber dann muss man das auch sagen anstatt so zu tun, als gefährde ein Inflationsausgleich für ARD und ZDF die Logik des vorhandenen Systems.

Noch einmal: Natürlich hat jeder, zumal in einem Kommentar, das Recht, die Etatsteigerungswünsche von ARD und ZDF zu hoch zu finden. Die Debatte wird aber geführt auf der Grundlage der Behauptung, die Anmeldungen bedeuteten eine massive Zunahme der Etats, was falsch ist. Hilfreich ist dabei natürlich, die Steigerungen nicht in Prozenten, sondern den zweifellos eindrucksvollen absoluten Zahlen auszudrücken, und das auch noch über den Zeitraum von vier Jahren.

Man denke sich versuchsweise die Meldung, dass die „Bild“-Zeitung ihren Verkaufspreis von 60 auf 70 Cent erhöht hat, in dieser Form: Wir würden darüber diskutieren, dass „Bild“ ihre Vertriebsumsätze um 90 Millionen Euro jährlich, um 360 Millionen in vier Jahren steigert.

Überhaupt fällt auf, wie sehr etwas, das in ungefähr jedem anderen Lebensbereich, bei Preisen und Löhnen, selbstverständlich ist, nämlich Inflation bzw. ihr Ausgleich, in Bezug auf ARD und ZDF automatisch anrüchig und Ausweis von „Selbstbedienungsmentalität“ und „Realitätsverlust“ sein soll.

Wie dramatisch sind die Rundfunkgebühren tatsächlich gestiegen? Natürlich ist es etwas grundsätzlich anderes, ob ein privates Medium, das ich kaufen oder es lassen kann, seinen Preis erhöht oder eine Gebühr erhöht wird, die ich unabhängig vom eigenen Medienkonsum zahlen muss. Dennoch ist ein Vergleich der Preisentwicklung erhellend:

Der Preis einer „Bild“-Zeitung hat sich in den vergangenen elf Jahren verdoppelt; ein „Spiegel“ kostet 60 Prozent mehr; die Rundfunkgebühren stiegen um 27 Prozent. Ein Monat ARD, ZDF und Deutschlandradio mit all ihren Fernseh-, Radio- und Internetangeboten kostet heute nicht mehr als ein Monat „Bild“-Zeitung. Von der grundsätzlichen Frage nach der Legitimität der „Zwangsgebühren“ abgesehen: Das klingt im Vergleich nicht nach einem überteuerten Angebot.

Dass die Debatte darüber, welche Gebühren für ARD und ZDF angemessen sind, eine solche Schieflage hat und eine Steigerung unterhalb der Inflationsrate als Wucher dargestellt wird, liegt aber nicht nur an der Bereitschaft der Zeitungsredaktionen, sich ganz in den Dienst des billigen Populismus oder des Kampfes ihrer Verlage gegen ARD und ZDF zu stellen. Es liegt auch an der Unfähigkeit der öffentlich-rechtlichen Sender zu Transparenz und Kommunikation.

Sie erwischt die Diskussion zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt: mitten im Ratifizierungsprozess des neuen Rundfunkstaatsvertrages, der die neue Haushaltsabgabe einführen soll. Es ist vermutlich kein Wunder, dass die Zahlen ausgerechnet jetzt lanciert wurden. Dabei stehen sie seit Monaten fest. Warum haben ARD und ZDF sie nicht selbst öffentlich gemacht? Sie hätten nicht nur im gewissen Rahmen selbst bestimmen können, wann sie sie lancieren. Sie hätten auch eine viel größere Chance gehabt, die Dramaturgie der Diskussion zu beeinflussen und von Anfang an ihre eigenen Argumente in die Öffentlichkeit zu bringen.

Die ARD brauchte fast 24 Stunden, bis sie auf die Vorabmeldung der „Zeit“ mit einem Statement der Vorsitzenden Monika Piel reagierte. Zunächst hatte sie sich sogar geweigert, die Zahlen zu bestätigen, und somit auch bewusst darauf verzichtet, sie zu erklären und einzuordnen.

ARD und ZDF können die Hoffnung getrost fahren lassen, dass private Medien unvoreingenommen über sie und die Rundfunkgebühren berichten. Ihre einzige Chance ist es, die Gebührenzahler selbst zu überzeugen. Dazu müssten sie lernen, transparenter zu werden. Das wäre nicht nur strategisch geschickt. Es wäre auch Ausdruck einer Tatsache, die ARD und ZDF gern vergessen: dass sie nicht sich selbst dienen, sondern uns.

Super-Symbolfoto (89)

Aus dem Wirtschaftsteil des österreichischen „Standard“ (ebenso online):

Kronzeugen müssen Schadenersatzklagen fürchten / Bildtext: Eine Kronprinzessin wie Schwedens Victoria hat es - zumindest bei ihrer Hochzeit - lustiger als ein Kronzeuge in einem Kartellverfahren

Bildtext: „Eine Kronprinzessin wie Schwedens Victoria hat es — zumindest bei ihrer Hochzeit — lustiger als ein Kronzeuge in einem Kartellverfahren“.

[eingesandt von Volker Burow]

„Die aktuelle“-Bingo (3)

Heute spielen wir endlich wieder eine Folge des beliebten Rätsels „Welcher harmlose Unsinn verbirgt sich hinter den brisanten Schlagzeilen auf der Titelseite der ‚aktuellen‘?“

Um gleich mal die Sache mit der schwedischen Kronprinzessin Victoria aufzuklären, die als Rätsel wirklich zu leicht wäre: Das „erste Foto vom Baby“ ist natürlich eine angebliche Ultraschallaufnahme, die Victoria gesehen und gleich freudestrahlend ihrem Mann gezeigt haben soll. Die „aktuelle“ selbst hat dieses Bild zwar nicht, ist aber ganz dicht dran:

Und ist es nicht wirklich herzerwärmend, wie Victoria da übers ganze Gesicht strahlt, die Hand auf der Stirn, als könnte sie ihr Glück über das „Engelchen“, das sie gerade gesehen hat, nicht fassen?

Sie kommt auf dem Foto, auf das der Pfeil mit der Zeile „Hier kommt sie von ihrer Ärztin“ zeigt, natürlich nicht von ihrer Ärztin. Das Bild entstand am 13. September beim Jahrestreffen des Internationalen Paralympischen Kommittees in Apeldoorn in den Niederlanden. Aber vermutlich war Victoria irgendwann in den Tagen oder Wochen vorher auch mal bei ihrer Ärztin, insofern ist die Beschriftung für „aktuelle“-Verhältnisse beinahe schon übertrieben wahr.

Auch der Cover-Teaser „Enthüllt! John F. Kennedy: Seine frivolen Bade-Spiele“ ist absolut zutreffend, wenn man weiß, dass „frivol“ auf aktuellisch so viel heißt wie „harmlos“, „anständig“. Kennedy hatte, wie seine Witwe Jackie in Gesprächen erzählte, die jetzt veröffentlicht wurden, Quietsche-Enten mit in die Badewanne genommen, um seine Kinder zu amüsieren.

Bleibt also als Rätselaufgabe zur Titelseite der „aktuellen“: Worin besteht der „Krebs-Schock“ von Wolfgang Fierek?

(„die aktuelle“ ist eine Zeitschrift der WAZ-Gruppe, deren Geschäftsführer Christian Nienhaus und Bodo Hombach wie kein Dritter für Qualität im Journalismus kämpfen. Die ersten beiden Bingo-Ausgaben stehen hier und hier.)

Super-Symbolfoto (88)

Im August illustrierte der irische Zeichner Jon Berkeley die Angst vor dem „double dip“, dem zweimaligen „Eintauchen“ der amerikanischen Wirtschaft in die Rezession, für das Titelbild des „Economist“ mit einer Hommage an das Filmplakat zum „Weißen Hai“:

Es ist ein Symbolbild, das gleichermaßen attraktiv, präzise und assoziativ das Thema trifft, das es illustriert. Aber das muss ja nicht so sein.

Die deutsche „Lebensmittelzeitung“ macht in ihrer aktuellen Ausgabe mit der Illustration ihr „Journal“ groß auf. Die Kollegen haben nur die Stars-and-Stripes, die die Schwimmerin im Original trägt, durch einen neutralen Badeanzug ersetzt:

Und jetzt die Preisfragen: Welches Thema illustriert Berkeleys Bild in der „Lebensmittelzeitung“? Und wie lauten Überschrift und Bildtext?

Nachtrag: Auflösung hier.

Nothelle & Singelnstein

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Er gibt sich keine Mühe, seine Geringschätzung zu verbergen. Es ist ja schon Zumutung genug, dass er sich als Regierender, ach was: Natürlicher Bürgermeister von Berlin zwei Fernsehduellen mit irgendwelchen Herausforderern stellen muss. Dann könnte er die Sache wenigstens selber moderieren.

Das Schlimme ist, dass man Klaus Wowereit tatsächlich sofort die Leitung der Sendung übergeben möchte oder, alternativ, irgendjemandem. Stattdessen wird das „Berlin-Duell“ moderiert von der Programmdirektorin und dem Chefredakteur des RBB, Claudia Nothelle und Christoph Singelnstein. Als gutes Argument für die Regel, Fernsehsendungen von Moderatoren moderieren zu lassen und nicht vom Führungspersonal, hat die ARD eigentlich schon HR-Chefredakteur Alois Theisen, aber diese beiden stellen sogar ihn in den Schatten. Sie wirken, als hätte man sie gerade in einem vergessenen Kellerraum des Sender Freies Berlin entdeckt und sicherheitshalber nicht aufgeweckt. Immerhin können sie es aber vor der Kamera fast mit der Lebendigkeit der Polizeikommissare in alten „Aktenzeichen XY“-Folgen aufnehmen.

Sie beginnen die Sendung ernsthaft damit, Renate Künast zu fragen, was ihr „durch den Kopf ging“, als sie am Vormittag hörte, dass zwei Männer festgenommen wurden, die womöglich einen Bombenanschlag geplant hatten, und schließen den Themenblock im Kindergärtnerinnentonfall ab: „Auch wir haben einen großen Schreck bekommen und sind natürlich froh, dass nichts passiert ist.“ Singelnstein sucht wie ein Fünftklässler beim Gedichtaufsagen an der Decke nach den richtigen Wortern, während Nothelle flüssig Fragen formuliert, die frei von Inhalt sind. „Was raten Sie Bewohnern, die ihren Stadtteil wieder voranbringen wollen?“ Die Abschlussfrage an Wowereit lautet: „Welche Erfahrung (in der Zeit als Regierender Bürgermeister) hat Sie besonders geprägt, und welche nehmen Sie mit, um vielleicht auch das ein oder andere anders zu machen?“

Aus irgendeinem Grund waren beide wild entschlossen, nur Künast, aber nicht Wowereit zu fragen, mit wem sie koalieren wollten, und als Künast Wowereit zu einer Antwort aufforderte, ging Singelnstein mehrmals mutig dazwischen: „Wir fragen Sie jetzt nicht nach den möglichen Koalitionen, sondern am 18. September, aber wenn Sie antworten wollen, dann gerne.“

Am Ende bitten die Moderatoren die Berliner Zuschauer, am nächsten Sonntag zur Wahl zu gehen. Wer es geschafft hat, wach zu bleiben, sieht keinen Grund, ihnen den Gefallen zu tun.

Gaby Köster und der „seltsame Beigeschmack“

Dreieinhalb Jahre lang haben Gaby Köster und ihr Management fast jeden Bericht über ihre schwere Erkrankung juristisch verhindert. Nun hat sie ein Buch über ihr Schicksal geschrieben und wirbt dafür, indem sie in einer Vielzahl von Medien und Talkshows all das erzählt, was sie vorher verbieten ließ. Wer dabei einen üblen Beigeschmack empfindet, soll sich von mir aus daran elend verschlucken.

Gestern hatte die Komikerin bei „Stern-TV“ ihren ersten Fernsehauftritt seit einem Schlaganfall im Januar 2008. Ihre linker Arm ist gelähmt, auch ihr linkes Bein hat sie immer noch nicht ganz unter Kontrolle. Gehen und Stehen fällt ihr schwer; ihr Gesicht wirkt um Jahrzehnte gealtert. Als ihre Begleiterin erzählt, dass sie Fortschritte mache, sagt Gaby Köster mit ihrem brutalen Gaby-Köster-Humor: „Ja, noch mehrere hundert Jahre, dann geht es vielleicht wieder.“ Sie raucht — „weil das was ist, was ich alleine machen kann“.

Sie soll in den nächsten Tagen noch beim „Kölner Treff“, bei „Volle Kanne“ und bei „Tietjen & Hirschausen“ auftreten sowie im November bei „Riverboat“. Sie hat mit der „Bild der Frau“ über ihre Erfahrungen gesprochen und mit dem „Stern“, der daraus eine Titelgeschichte gemacht hat.

Es gibt Leute, die ihr das nach der vorherigen Nachrichtensperre übel nehmen. Journalisten, vor allem. Man kann ein Beleidigtsein sogar zwischen den Zeilen einer dpa-Meldung erahnen, die erst Kösters PR-Termine aufzählt und dann anfügt:

Gegen die Berichterstattung über ihre Krankheit hatte sich Köster vor mehr als drei Jahren noch juristisch gewehrt. Jetzt tritt sie selbst damit in die Öffentlichkeit und vermarktet gleichzeitig ihr Buch „Ein Schnupfen hätte auch gereicht – Meine zweite Chance“.

„Welt Online“ vermutet, dass Gaby Köster „nicht gut von einem Management beraten war, das eine völlige Informationssperre verhängte“. „Focus Online“ spricht von einer „Medien-Strategie, die zumindest fragwürdig ist“. Und in einem selbst für „Meedia“-Verhältnisse erbärmlichen Artikel stellt die Autorin Christine Lübbers „einen seltsamen Beigeschmack“ fest. Sie spekuliert, die Buch-PR „dürfte zumindest bei den Medien für Verwunderung und Diskussionen sorgen, die zuvor Unterlassungserklärungen im Zusammenhang mit der Krankheit Kösters abgegeben haben“.

Es scheint für diese beleidigten Journalisten unmöglich, die Wahrheit zu akzeptieren: Gaby Köster darf selbst entscheiden, wann und wie sie die Öffentlichkeit über eine Erkrankung informiert. Das ist ihr Recht, und zu diesem Recht gehört nicht nur die Möglichkeit, Berichterstattung zu unterbinden, sondern auch die Freiheit, sie wieder zuzulassen und sogar zu forcieren. Den Zeitpunkt, zu dem sie das tut, darf sie frei wählen und sich dabei ganz von der Frage leiten lassen, was für sie ideal ist — persönlich, gesundheitlich, geschäftlich.

Es ist, auch wenn sie eine Person der Öffentlichkeit war, wenigstens bei etwas so Intimem wie einer Krankheit: ihr Leben. Es gehört nicht „Bild“, nicht ihren Fans und schon gar nicht „Meedia“.

Natürlich ist es zulässig, jetzt öffentlich zu diskutieren, ob das Vorgehen von Gaby Köster oder ihrem Management und ihren Anwälten geschickt war — geschickt im Sinne von: günstig für Gaby Köster. Aber das Schmollen und Raunen der Medien, der implizite Vorwurf der Bigotterie, sind unangemessen und abstoßend.

Sie fühlen sich offenbar benutzt: Erst dürfen wir nichts schreiben und nun sollen wir ihr bei der PR helfen.

Nur gibt es gar keine Pflicht dazu, Teil von Gaby Kösters Vermarktungsstrategie zu werden. Niemand zwingt „Meedia“, für Kösters Auftritt bei „Stern-TV“ zu trommeln. Gaby Köster hat „Welt Online“ nicht dazu verpflichtet, in einer sechsteiligen Bildergalerie und über einem halben Dutzend Artikeln (inklusive Klickstrecke: „Die besten Überlebensmittel: US-amerikanische Forscher haben in getrockneten Apfelringen einen starken Cholesterinblocker gefunden“) über Kösters Rückkehr in die Öffentlichkeit zu berichten. So unvorstellbar das insbesondere für die meisten Online-Redaktionen zu sein scheint: Es gäbe die Möglichkeit, darüber nicht zu berichten.

Wenn die „Meedia“-Beigeschmackstesterin fragt:

„Wenn all das über lange Zeit als Privatsache geschützt wurde, warum soll nun plötzlich und quasi auf Knopfdruck alles wieder von öffentlichem Interesse sein?“

Lautet die Antwort: Weil sie, erstens, jetzt gerade gesund genug ist, das auszuhalten, und es, zweitens, ihre verdammte Entscheidung ist.

Der stellvertretende Chefredakteur von „Meedia“ fragt dann in den Kommentaren unter dem Beitrag noch:

gelten für Krankheiten andere Spielregeln der Berichterstattung? (…) Wann werden aus Personen öffentlichen Interesses wieder private Personen? Und wann werden sie wieder öffentlich? Wer legt das fest?

Er nennt das „offene Fragen“, dabei sind sie längst beantwortet — von Gerichten und vom Deutschen Presserat, der feststellt: „Körperliche und psychische Erkrankungen oder Schäden fallen grundsätzlich in die Geheimsphäre des Betroffenen.“ Das Wort „Geheimsphäre“ ist dabei kein Synonym für „Privatsphäre“, sondern ein noch stärker geschützter Bereich.

Aber selbst wenn die Journalisten von „Bild“, „Meedia“ & Co. das verstünden, würden sie es nicht akzeptieren.

Im „Focus Online“-Artikel sagt ein Medienethiker, der „Kommunikationsberuf“, den Köster als „TV-Unterhalterin“ ausübe, bringe „doch gewisse Pflichten mit sich“. In vielen Varianten heißt es dort, das Management hätte doch wenigstens kurz sagen können, dass Gaby Köster krank ist, aber lebt. Schon Anfang 2009 schrieb „Focus Online“, die Fans wollten doch „nur etwas mehr Gewissheit. Wird die Kabarettistin jemals wieder auf einer Bühne stehen?“ Diese „Gewissheit“ hätte sicher auch Gaby Köster gerne gehabt. Vor allem aber: Was für eine rührende Naivität, zu denken, die Medienbranche funktioniere so, dass man den Leuten von „Bild“ oder RTL einen kleinen Informationsbrocken hinwirft und die sich dann damit zufrieden geben und nicht weiter versuchen, Schnappschüsse von Frau Köster im Rollstuhl zu erhaschen.

Die ganze Infamie von „Meedia“ in einem Satz:

Und mancher wird sich fragen, ob die juristische Unterdrückung der Berichterstattung nicht vor allem dazu gedient haben könnte, die Ware Information in dieser Sache über einen langen Zeitraum künstlich zu verknappen, damit anschließend der Aufmerksamkeits- wie Vermarktungswert der Story umso größer ist.

Auf welchen Zeitraum mag sich Frau Lübbers beziehen? Meint sie, die Berichterstattung wurde unterdrückt, als Gaby Köster noch im Krankenhaus zwischen Leben und Tod war, um bestens gerüstet zu sein für den Fall, dass sie ein Buch schreiben will, für den Fall, dass sie überlebt? Oder während der Zeit, als sie daran arbeitete, in ein Leben zurückzufinden, in dem sie die überhaupt in der Lage sein würde, ein Buch zu schreiben?

Und selbst wenn es so wäre, dass die ganze Informationswarenverknappung nur dazu gedient hätte, den Vermarktungswert zu steigern — wäre das nicht legitim? Gaby Köster hat sich den Schlaganfall ja nicht ausgesucht, um ihrer Karriere eine originelle Wendung zu geben. Sie habe, sagt sie im „Stern“, in den vergangenen dreieinhalb Jahren, ihre „Rente verblasen“. Es ist völlig unklar, ob sie je wieder in ihrem Beruf als Komikerin oder Schauspielerin arbeiten kann. Kann man ihr es dann nicht gönnen, wenigstens das meiste aus diesem Buch herauszuholen?