Das ist ein schöner Moment, wenn die NDR-Reporter mit Hans-Peter Siebenhaar vom „Handelsblatt“ über seine Kritik an den teuren öffentlich-rechtlichen „Fernsehballetten“ reden.
Siebenhaar: Ich meinte natürlich das MDR-Fernsehballett, was ja den großen Skandal hatte beim MDR. Das ist ja mittlerweile privatisiert.
Sprecher: Und zwar seit einem Jahr. Und ein anderes ARD-Ballett gibt es nicht. Doch im Handelsblatt tanzen sie immer noch, die „Fernsehballette“.
Siebenhaar: Über das Fernsehballett hab ich nicht geschrieben. Schon lang nicht mehr.
Es ist, andererseits, ungleich beunruhigender, Günther Jauchs Chuzpe noch einmal vorgeführt zu bekommen. In seiner ARD-Talkshow war er von Peer Steinbrück gefragt worden, ob er seinen Vertrag mit der ARD öffentlich machen wolle, und Jauch hatte doppelt gesagt:
Jauch: Das Problem ist, der ist öffentlich. Das Problem ist, der ist öffentlich.
Ist er natürlich nicht. Ein Interview mit dem NDR, für den er seine Talkshow produziert, lehnte Jauch ab. Er berief sich, richtig: auf eine Verschwiegenheitsklausel mit der ARD.
Man kann der Dokumentation, die das NDR-Fernsehen heute Abend über das Getöse um den neuen Rundfunkbeitrag zeigt, also nicht vorwerfen, die wunden Punkte ausgespart zu haben. In der Dreiviertelstunde finden die Beschwerden der Kommunen, die sich über erhebliche Mehrkosten beklagen, ebenso Platz wie Kritik an fehlender Transparenz und den gewaltigen Ausgaben der Sender für Sportrechte. Es geht aber auch um die irreführende und einseitige Berichterstattung von „Bild“ und „Handelsblatt“ — und die berüchtigten Friedhofsbagger.
Es ist ein solider Beitrag in eigener Sache geworden, der die Diskussion mit vielen Talking Heads abbildet, ohne ihr wirklich neue Erkenntnisse hinzuzufügen. Mir hätte er es leichter gemacht, mich auf ihn einzulassen, wenn er auf die aufdringlich süffisante Art verzichtet hätte, in der die Off-Texte vorgetragen werden (Sprecherin: Regina Lemnitz).
Neben FAZ-Medienredakteur Michael Hanfeld, Beitragsservice-Behördenleiter Stefan Wolf, den Intendanten Thomas Bellut (ZDF) und Lutz Marmor (NDR) komme auch ich drin vor — anfangs mit etwas rätselhaft verkürzten Zitaten wie diesem:
Wenn die BILD-Zeitung Tag für Tag mit Halbwahrheiten und Übertreibungen Stimmung gegen ARD und ZDF macht, kann man leicht sich zurücklehnen und sagen, kennen wir ja schon. Machen die immer. Die sind gegen uns. Den Reflex kann ich verstehen. Ich glaube aber, dass der falsch ist.
Ging eigentlich weiter:
Ich glaube, dass wirklich diese neue Art, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu finanzieren, viel höhere Anforderungen an die Öffentlich-Rechtlichen in Zukunft stellt, sich zu legitimieren, zu sagen: Wir machen ein Programm, für das jeder in der Gesellschaft zahlen muss.
Andererseits komme ich in dem Film so ausführlich zu Wort, dass ich mich da nicht beklagen will.
Über Gebühr: Streit um den neuen Rundfunkbeitrag,
heute, 22 Uhr, NDR-Fernsehen
und jetzt schon mit einem größeren Dossier auf ndr.de.
Das spricht vermutlich nicht für mich, aber ich kann da immer wieder Tränen drüber lachen:
[via Kottke, dem es genauso geht: „You have probably seen this before, but if you’re anything like me, you’ll want to watch it at least once a day for the rest of your life.“]
Wir sehen eine sehr alte, sehr bucklige Frau, die mühsam eine Bowling-Kugel auf die Bahn hievt, die unwahrscheinlicherweise alle Pins abräumt, und der Sprecher sagt aus dem Off: „Oma Crackle ist die einzige, die Miss Marple in mehreren sportlichen Disziplinen bedient hat. 1907 im Fechten, 1910 im Handfeuerwaffenschießen der Damen und 1911 im Salatcatchen.“
Wir sehen ein Mädchen, das wild in einer Hüpfburg herumgeschleudert wird, und der Sprecher sagt aus dem Off: „Das ‚Fabelhafte Flatterinchen‘ erzählt die Geschichte einer kleinen Obstmotte, die sich in ein Fachgeschäft für Fliegengitter verirrt hat. Dieses geniale Werk gehört auf jeden Gabentisch.“
Wir sehen eine Kutsche mit einer Hochzeitsgesellschaft, die umkippt, als das Pferd durchgeht, und der Sprecher sagt aus dem Off: „Nach dem Vorbild von Krystle und Blake Carrington aus dem ‚Denver Clan‘, die dreimal geheiratet haben, ohne je geschieden worden zu sein, erlebt der Tennisprofi Craig Jackson einen nicht enden wollenden Honeymoon mit seiner Dauerfreundin Loreen.“
Monty Arnold hat aus der Text-Bild-Schere eine Kunstform gemacht. Seit siebeneinhalb Jahren schreibt und spricht er die Kommentare zu den Pannenclipshows auf RTL und Super-RTL. Heute Nacht beginnt auf RTL eine Staffel mit zehn neuen Folgen. Zeit für eine Würdigung.
Beginnen wir vor vierzig Jahren, in einer Zeit, als es in Deutschland nur drei Programme gab und das ZDF freitags am Vorabend in ganz eigener Weise das Wochenende einläutete: mit Schwarz-Weiß- und Stummfilm-Klassikern von Pat & Patachon und Laurel & Hardy, die neu arrangiert auf ein fernsehfreundliches 25-Minuten-Format gebracht wurden.
Ab 1973 liefen hier unter dem Namen „Väter der Klamotte“ amerikanische Slapstickfilmschnipsel aus den 1930er Jahren, die mit großer Lust an der Albernheit in ironischem, leicht parfürmierten Ton von dem Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch kommentiert wurden. Der Witz bestand nicht selten in der Diskrepanz zwischen dem Originalmaterial und dem, was Hüsch und die ZDF-Leute daraus machten.
Unser heutiger Bericht nimmt seinen Anfang in den Geschäftsräumen eines gut gehenden Unternehmens der Immobilienbranche. Hier bekleidet Charly Chase derzeit den verantwortungsvollen Posten eines dritten Hauptbuchhalters.
Nach diesem für alle recht rühmlichen Ausgang sind wir nun bei Multi-Millionär Franz-Erich Kleingeld, dessen einzige Tochter, die liebreizende Heidemarie, bereits fest dem begüterten Baron Pomadius von Blankenese versprochen ist.
Hüsch und seine Off-Texte waren stilprägend für die Art, wie Monty Arnold seine „Upps“-Kommentare anlegt: „Ich bin natürlich ein großer Hanns-Dieter-Hüsch-Jünger“, sagt er. „Der Mann ist von den vielen Vorbildern, die ich habe, das größte und wichtigste. Ich verehre ihn hündisch. Ich formuliere die Frage zwar nicht aus, aber eigentlich steht sie für mich immer über der Arbeit an ‚Upps‘: ‚Was hätte Hüsch jetzt gesagt?'“
Schon Mitte der neunziger Jahre hatte Monty Arnold, der damals als Synchronsprecher arbeitete und als Komiker auftrat, kurzzeitig eine Pannenshow mit ähnlichem Konzept betextet: „Smile“ auf RTL 2. 2005 kam vermutlich deshalb die Produktionsfirma Straßenfeger auf ihn, als es darum ging, für Super-RTL aus dem riesigen Fundus, den Mitgesellschafter Disney von Amateuraufnahmen hinfallender Kinder, verunglückender Heinis und sich vergaloppierender Tiere hat, eine Clipshow zu machen. Die Quoten der ersten Sendungen von „Upps! Die Pannenshow“ auf Super-RTL war so sensationell, dass die große Schwester RTL das sofort haben wollte. Dank der direkten Verbindung zu Disney konnte es sich das kleine Super-RTL aber erlauben, die Show nicht abzugeben, sondern zu sagen: „Ihr könnt ja auch eine machen.“
Und so gab es ab Ende 2005 zwei Aufträge für Monty Arnold — und zwei Pannenshows: eine, die die Quoten in der Primetime von Super-RTL explodieren ließ, und eine, die auf RTL zwischen zwei Teilen von „Deutschland sucht den Superstar“ lief und dort die absurd große Zahl von bis zu sechs Millionen Zuschauer erreichte.
Natürlich weiß niemand, welchen Anteil Monty Arnolds sprachverliebte Texte an diesem Erfolg haben und ob nicht die meisten Menschen genauso glücklich gewesen wären, einfach schnell zu Musik geschnittene Bilder von aufditschenden Heiopeis, unterlegt mit lustigen Onk-, Huiiii-, Öttel- und Dengel-Geräuschen zu sehen. Andererseits half der Erfolg, dass Arnold relativ unbehelligt von Bedenkenträgern und Witznichtverstehern mit seiner speziellen Art des Humors weiter machen konnte.
Sein Glück ganz am Anfang war, dass diese Clip-Show, wie er sagt, „ein sehr kleines, unwichtiges Thema in dieser ganzen Senderstruktur“ war. Das ermöglichte es ihm, seinen Humor durchzusetzen — vor allem, weil er klare Vorstellungen hatte, wie das werden sollte, die Auftraggeber aber nicht. „Von Kleinigkeiten abgesehen haben die mich machen lassen und ich musste denen nicht meine Witze erklären — was ja auch gar nicht gegangen wäre: Wenn man es könnte, wäre es nicht mehr komisch. Das blieb bis heute so, dass ich keine Scheren im Kopf habe, sondern fröhlich vor mich hinarbeite.“
Monty Arnold geht durch die Welt und macht sich Notizen. Schreibt sich lustige Namen auf, die ihm irgendwo begegnen, Buchanfänge, die ihm einfallen, Plots für irgendwelche Geschichten. „Ganz stolz bin ich auf meine Katzennamen“, sagt er. „Ich hab bestimmt 60 Katzennamen erfunden, die dann bei ‚Upps‘ manchmal auftauchen, Pusseliese und Schnurrinate und Milbertine …“
Seine selbstgemachten Notizbücher hat er „Notary Sojac“ genannt, und so nennt er auch heute die entsprechenden Archive auf seinem Computer. „Notary Socac“ ist ein eigentlich sinnloser Begriff, der immer wieder in den „Gasoline Alley“-Comicstrips auftauchte. Aber gelesen hat er hauptsächlich andere: „Die Marvel-Comics waren abgesehen von Hüsch meine wichtigste kulturelle Prägung“, sagt Monty Arnold, „auch was die Liebe zur Sprache angeht.“
Manchmal sitzt er bei der Arbeit vor einem „Upps“-Clip, den er betexten soll, und sagt sich: „Es gab mal beim ‚Hulk‘ eine Situation, wie war denn noch die Formulierung“, geht an den Schrank mit der großen Marvel-Comic-Sammlung, die er seinem großen Bruder mal abgeluchst und dann vervollständigt hat, und findet binnen 80 Sekunden (er sagt wirklich „binnen“) das richtige Heft.
Etwa eine Woche braucht er für eine Stunde Clip-Rohmaterial. Er macht es sich gemütlich in seiner Wohnung in Hamburg, lässt alte symphonische Filmmusik laufen und schaut, dass er noch parallel irgendetwas zu tun hat, Zeitungsausschnitte einpflegen, sowas, womit er sich immer ein paar Minuten beschäftigen kann, um zwischendurch Abstand zu bekommen. Meistens wird dann eine Assoziation aus dem Hinterkopf nach vorne gereicht. Oder es tritt eine blöde Katze auf, dann guckt er in seinen Katzenordner.
Er reichert sein Beschreibungen und Nichtbeschreibungen mit Namen wie „Herkulette Pfennigfort“ an, gibt den Clips eine absurde Konkretheit oder eine übertriebene Überhöhung. Zu einem Kind, das mit einem quer gehaltenen Besen gegen den Türrahmen brettert, formuliert er: „Einmal mehr scheitert ein frühbegabtes Kind an der Enge seiner Verhältnisse. Frau Familienministerin, Sie dürfen nicht länger schweigen!“ Und wenn verwackelte Bilder von einem Mann zu sehen sind, dessen Versuch, eine Wand hochzuklettern, unglücklicherweise nicht im Wasserbecken endet, sondern auf dem Rand daneben, sagt er: „Merzig-Wadern hat jetzt ein eigenes Wellness-Sanatorium. Die zuvor in diesen Räumen untergebrachte Stuntmen-Erziehungsanstalt musste wegen zahlreicher Krankmeldungen geschlossen werden.“
Zum Homevideo von einem Mann, dessen Ruderboot bei der Rückkehr ans Ufer auf traurigste Art absäuft, lautet der Text: „Was den Schulkindern stets verschwiegen wird, ist, dass Odysseus nicht von Anfang an nicht der verwegene Mittelmeersegler war, als den ihn die Geschichtsbücher heute hinstellen.“
Und natürlich könnte schon jedes Kind, das die „Was passiert dann“-Bilder aus der „Sesamstraße“-kennt, vorhersagen, was sich hier gleich ereignen wird:
Umso schöner, wenn es währenddessen aus dem Off heißt: „Vergeblich versucht Rangi in dem Erpel, den er auf dem Erlangener Comic-Salon bei einer Tombola gewonnen hat, den Geist von Donald Duck zu erblicken.“
Wenn sie gelingen, geben Monty Arnolds Kommentare der kleinen schmutzigen Filmparade, die sich an unsere niederen Humorinstinkte richtet, einen doppelten Boden, weil ihre Albernheit auf ganz anderer Ebene stattfindet.
„Ich bin gar nicht so sehr der Schadenfreudetyp“, sagt Monty Arnold. Er mag lieber den Witz, der im Moment entsteht, wenn man plötzlich etwas begreift. In diesem Sinne versteht er auch seine Texte, die oft als Bildunterschriften oder Erklärtexte daherkommen, wenn er den Jargon einer Reportage oder einer Abhandlung imitiert.
„Das hat Hüsch ja auch gemacht, wenn er die ‚Väter der Klamotte‘-Sendungen so anfangen ließ: ‚Unser heutiger Bericht schildert in anschaulicher Weise die schlimmen Folgen des Alkoholkonsums.‘ Es sind fast immer Parodien auf Sachtexte.“
Handwerklich sei sein Vorgehen und das von Hüsch das gleiche: ohne den O-Ton zu nutzen oder zur Verfügung zu haben, aus dem Material machen zu können. (Hüsch dachte sich Namen wie Therese Jubelhose aus für die Amerikanerinnen, die zum Beispiel mit Stan Laurel auftraten.) „Mit dem riesigen Unterschied, den ich nicht laut genug betonen kann, dass die Dinge, die Hüsch zu vertonen hatte, Kostbarkeiten waren. Er hatte es mit den edlen Rittern aus dem Dinosaurierreich der Kino-Slapstick-Kunst zu tun.“
Welche Qualitäten ein Clip haben muss, um sich für einen schönen „Upps“-Moment zu eignen, kann er nicht so genau sagen. „Oft ist es natürlich identisches Hingefalle und Ausgerutsche. Es kommt vor, dass Sachen unheimlich langweilig sind, aber vor dem Hintergrund, dass man sie betexten darf, Potenzial mitbringen.“
Monty Arnold sagt, er habe von Anfang an, schon als Kind, beim Fernsehen immer das Bewusstsein gehabt, dass da im Hintergrund gearbeitet wird. „Ich habe das Fernsehen nie mit dieser Unbefangenheit betrachtet, die man Kindern immer unterstellt. Ich finde das aber auch gut so — umso mehr hatte ich davon.“
Sein Bruder zeigte ihm einmal in einem Poplexikon ein Foto von Hüsch, „mit seinen schrecklichen langen Haaren, diesen weißen Koteletten und der Kassenbrille. Er sah entsetzlich aus, ich habe ihn sofort geliebt.“
Er hat ihn später auch getroffen, saß zu Füßen seines „Großen Meisters“ und hat drei Auftritte mit ihm bei dessen Kabarettreihe mit Gästen im Saarländischen Rundfunk gehabt.
Von der Bühne hat er sich vor Jahren verabschiedet. Heute arbeitet er als Sprecher, synchronisiert Computerspiele oder spricht Radiowerbung. Er unterrichtet Geschichte an Musicalschulen und arbeitet als Auftragsschreiber, für Events, Aufführungen, andere Komiker, auch mal einen Songtext.
Er hätte nichts dagegen gehabt, wenn sich aus „Upps“ noch eine andere Autorenarbeit ergeben hätte, Drehbücher oder seriöse Kommentare. Aber dafür ist das als öffentliche Bewerbung womöglich nicht geeignet. Hat „Upps“ seinen Ruf gemehrt? „Hat es nicht.“
Arnold sagt: „Obwohl ich die Sendung liebe und ich es immer noch schön finde, mich in dieser Weise produzieren zu können: Es ist natürlich nichts, womit man vor irgendjemandem prahlen kann. Es ist halt eine Clip-Show, das rangiert in der Publikumswahrnehmung ganz unten.“
Für ihn ist es auch deshalb ein Vergnügen, in diese „in mancher Hinsicht etwas undankbare Ecke hineinzuarbeiten“, weil er dem RTL-Publikum manches „unter die Weste jubeln“ kann: „Ich sage halt in ihrem Wohnzimmer ‚Jacques Offenbach‘ und keiner hindert mich dran, das finde ich toll.“
Und manchmal reicht es völlig, bloß Schnipsel um Schnipsel vom beim Tanzen stürzenden Menschen aneinanderzureihen, und ihnen die Sätze voranzustellen: „Der berühmte Choreograph Echnaton Pusswalder wäre heute 125 Jahre alt geworden. Überall, landauf, landab, wird sein Andenken in Ehren gehalten.“
Upps! Die Superpannenshow, zehn neue Folgen mit Monty Arnold (und ohne Andrea Göpel und Oliver Beerhenke) ab heute Nacht 0.40 Uhr, RTL
Wenn ich all meine Tweets in einer einzigen Zeile hintereinander ausdrucken würde, wäre der Text so lang wie der Metropolitan Live Tower in New York hoch. Mit der schlechten Energie, die meine Timeline an einem Tag produziert, ließe sich der Strombedarf einer mittleren Kleinstadt in Südhessen decken. Wenn ich immer statt zu twittern gespült hätte, wäre ich heute Ehrenbürger von Villabajo.
Das wäre also ungefähr meine Bilanz.
Die von Christopher Lauer, dem Fraktionschef der Piraten im Berliner Abgeordnetenhaus, steht heute in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und funktioniert ähnlich.
Er habe in den vergangenen dreieinhalb Jahren „166 Acht-Stunden-Arbeitstage“ auf Twitter verbracht, rechnet er vor, und den Gegenwert von 800 mittellangen Gastbeiträgen in der Zeitung verfasst. Das soll wohl schockierend klingen, wobei er leider die entscheidenden Fragen offen lässt, was er in dieser Zeit hätte Sinnvolleres tun können anstatt auf Twitter rumzuhängen oder wer diese 800 mittellangen Gastbeiträge von ihm hätte lesen wollen.
Jedenfalls gehe das so nicht weiter, schreibt Lauer, und er werde dieses Kommunikationsmitel nicht mehr nutzen: „Twitter ist für mich gestorben.“
Es ist nicht ganz klar, warum für exakt diese Information nun nicht ein Tweet gereicht hätte, sondern offenbar ein mittellanger Gastbeitrag in der FAZ nötig war, insbesondere da Lauer bei der Gelegenheit ganz nützliche Fragen postuliert, die der Reduzierung des weltweiten Laberaufkommens dienen könnten:
Ist es zu viel verlangt, dass sich alle, egal, in welcher Kommunikationsform, vorher folgende drei Fragen stellen: Muss es gesagt werden? Muss es jetzt gesagt werden? Muss es jetzt von mir gesagt werden? Und: Welcher Mehrwert entsteht denn durch diese permanente Nabelschau auf Twitter konkret und für wen?
Entweder fielen Christopher Lauers Antworten auf diese drei Fragen, die man sich an vier Fingern einer Hand abzählen kann, sehr überraschend aus. (Ich hätte sie jedenfalls an seiner Stelle vor dem Verfassen des Artikels beantwortet mit: nein, nein, nein und: „Ach, aber in der FAZ?“) Womöglich beantwortet er aber auch nur schon die einleitende Frage, ob es zuviel verlangt ist, sich diese Fragen zu stellen, persönlich mit einem entschiedenen: Ja.
Er beklagt, dass Twitter seine Kommunikation zerfasere, und dass vieles von dem, was er da so veröffentlicht, an den Empfängern bloß vorbeirauscht. Er beschreibt das, als wäre es ein Nachteil, dabei macht gerade sein FAZ-Stück deutlich, wie sehr es einen Vorteil darstellt: Von den Tweets, die den Gegenwert dieses mittellangen Gastbeitrages in der FAZ ausmachen, hätten die Menschen nur einen Bruchteil mitbekommen, die meisten hätten das meiste verpasst und das wäre gut gewesen für die Menschen und für ihr Bild von Christopher Lauer.
Er hat ja recht, dass es ein Problem ist, wie sich die Medien auf jeden zusammenhangslos hingeworfenen Tweet stürzen, um daraus eine Schlagzeile oder eine neue, aufregende Geschichte zu machen. Aber nach dem mittellangen Gastbeitrag in der FAZ zu urteilen, scheint das größere Problem im konkreten Fall doch eher nicht das Kommunikationsmittel zu sein, sondern der Mensch, der es benutzt.
Lauer jammert, dass er sich durch die Nutzung von Twitter in „ein Menschen- und Gesellschaftsbild pressen lässt“, in dem es ein Wert ist, „unbedarft jeden Gedanken, der vermeintlich in 140 Zeichen passt, in die Welt zu blasen“. Als sei die Unbedarftheit eine Pflicht und als verliere sie ihren Schrecken, wenn sie sich nicht in 140 Zeichen auf Twitter, sondern in zwei Spalten in der FAZ ausdrückt.
Oder in Fernsehtalkshows wie „Markus Lanz“, die für ihn offenbar nicht „gestorben“ sind — weil er dort ja ein Millionenpublikum erreicht.
Selbst wenn ihm alle deutschsprachigen Twitter-Nutzer folgen würden, rechnet Lauer sich und uns vor, wären das viel viel weniger, als Barack Obama oder Justin Bieber folgen. Ich fürchte, er meint er das ernsthaft als Indiz für die Sinnlosigkeit des Twitterns an sich. Ach, hätte er doch bloß getwittert: „34 Mio Follower für Justin Bieber, aber nur 800.000 deutsche Twitter-Nutzer! #krass“, es wäre ein kleines, angemessenes Ffft im großen Grundrauschen geblieben.
Es ist eine tragische Kapitulation, die Lauer da in die Zeitung getwittert hat, als jemand, der es nicht geschafft hat, einen sinnvollen Umgang mit einer neuen Kommunikationsform zu finden. Er hat das Gefühl, nicht Twitter zu benutzen, sondern von Twitter benutzt zu werden. Das geht sicher vielen so, dass sie sich von den neuen Möglichkeiten der Kommunikation überfordert und fremdbestimmt fühlen, aber wie traurig ist es, aus dem eigenen Scheitern eine solche öffentliche Demonstration von Selbstmitleid und Projektion zu machen? Lauer nimmt seine eigene Unfähigkeit zum Beleg für die Untauglichkeit des Mediums.
Twitter ist sicher nicht mein liebstes Kommunikationsmittel. Ich tue mich schwer mit der Kürze und mit vielen Mechanismen, die dieses Medium provoziert. Aber ich habe — wie zigtausende andere — entdeckt, wie ich es für mich sinnvoll nutzen kann, so dass es eine Bereicherung ist und keine Belästigung.
Über die negativen Folgen, die diese Art der Kommunikation für den öffentlichen Diskurs hat, können wir gerne diskutieren — aber vielleicht nicht mit einem Piraten, der noch nicht einmal den Umgang mit der immerhin fast 15 Jahre älteren Kommunikationsform der Textnachricht gemeistert hat.
Weiß eigentlich jemand, ob für Lauer auch die SMS gestorben ist?
Das ist natürlich für Bingo-Kenner eine zu leichte Aufgabe, zu erraten, was hinter diesem Liebesdrama im Leben der Kanzlerin steckt:
„Verlassen“ wurde Angela Merkel natürlich — auch wenn sich „die aktuelle“ alle Mühe gibt, das zu verschleiern — bloß von Bundesbildungsministerin Annette Schavan.
Das Titelfoto ist zwar am 29. Januar 2013 auf einer Gala des Bundesverbandes der Deutschen Industrie entstanden und kann schon deshalb nicht Merkels Reaktion auf Schavans Rücktritt zeigen, weil die damals noch nicht zurückgetreten war und sogar noch ihren Doktortitel hatte. Aber das sind für den Journalismus, wie ihn die aktuelle Illustrierte aus dem Haus der WAZ pflegt, bloß läppische Details.
Im Inneren stöhnt „die aktuelle“ dann: „So einsam war unsere Kanzlerin noch nie!“ und fabuliert:
Es geschah vor einer Woche. Da musste Angela Merkel erkennen, dass sie niemanden mehr hat, dem sie wirklich vertrauen kann. Sie verlor den letzten Menschen, der bedingungslos hinter ihr stand und absolut aufrichtig zu ihr war.
Annette Schavan.
Es ist wie ein Fluch:
„die aktuelle“ belässt es aber nicht bei dieser lustigen Erzählung von Politik als Schicksalsroman, sondern zielt dann noch auf das Privatleben der Kanzlerin. Es werde „schon länger über die Ehe der Kanzlerin gemunkelt“, behauptet die Volontärin der Zeitschrift, die den Text verfasst hat. Selbst im Urlaub wirke Merkel an der Seite ihres Mannes „nicht glücklich“, wie neulich im St. Moritz. Und so schließt sich der Kreis:
Wahrscheinlich hat Angela Merkel auch ihre privaten Sorgen da noch mit ihrer Freundin Annette Schavan geteilt.
Wie skrupellos „die aktuelle“ bei ihren Lügengeschichten ist, demonstrierte sie besonders eindrucksvoll vor vier Wochen. Gezeigt wurden Karl-Theodor zu Guttenberg und seine Frau. Die Frage: „Was hat er damit zu tun?“ bezieht sich auf einen tragischen Unfall, bei dem der Rektor der Bayreuther Hochschule ums Leben kam, als er beim Joggen von einer Straßenbahn erfasst wurde. Es ist die Hochschule, die Guttenberg den Doktortitel aberkannte. Was „die aktuelle“ daraus machte, fasste Jörg Thomann in seinen „Herzblatt-Geschichten“ in der FAS so zusammen:
„Der rätselhafte Tod seines größten Feindes“ sei „spannender als jeder Krimi“ und ein „Unfall, der die Phantasie anheizt, der Raum für viele Spekulationen lässt“. Und wenn auch Guttenberg dem Verunglückten nicht den Tod gewünscht habe, „klingt diese Tragödie nach Rache, nach Vergeltung“. Nein, Aktuelle, es klingt alles nur nach ganz miesem Journalismus, und wir sind froh, dass wir deine angeheizte, dreckige Phantasie nicht teilen müssen. Keine Pointe.
Bekanntlich sehen die Titelfiguren auf deutschen Programmzeitschriften nur einander ähnlich und nicht irgendwelchen realen Personen. Um wen es sich handeln soll, kann man meist nur anhand der Beschriftung erkennen. Im Fall der aktuellen „TV Spielfilm“ steht da: Blake Lively.
Blättert man ins Heft, findet sich dort tatsächlich ein Geschichtchen über Blake Lively, illustriert mit einem Foto, das dem Cover-Bild verblüffend ähnlich und unähnlich sieht:
Es handelt sich anscheinend um exakt das Foto, das die Titelgestalter der „TV Spielfilm“ als Vorlage genommen und dem üblichen Veredelungsprozess ausgesetzt haben: die Haut durch Plastik ersetzt, die Haare durch Plastik, die Lippen durch Plastik und die Augen durch Puppenklimperplastikaugen. Sie haben ihr die Frisur gebändigt, einen neuen Arm gegeben, die Ringe abmontiert und was anderes angezogen, und all das passiert natürlich jeden Tag in irgendwelchen Zeitschriftenredaktionen, aber meistens zeigen sie dann im Inneren nicht das Ausgangsmaterial. (Ich möchte ungern von „Original“ sprechen, denn wer weiß, durch wieviele Photoshop-Veränderungen auch diese Fassung des Bildes schon gegangen ist, bis es auf dem Tisch der Redaktion oder im Heft gelandet ist. Realistisch erscheint mir der Körperbau jedenfalls auch nicht. Womöglich gibt es das Foto einfach im Angebot in beliebigen Farbtönen und anatomischen Wahrscheinlichkeitsgraden.)
Nun könnte man das natürlich als einen tollen Akt der Transparenz feiern, ähnlich der berühmten Dove-Werbekampagne. Ich fürchte, es ist aber doch einfach ein Fehler — so peinlich, dass sich der verantwortliche Gestalter bestimmt vor Wut die Haare wegretouchiert hat.
Das Lustige ist ja, dass das Rennen bei „Unser Star für Malmö“ am Ende genauso ausgegangen wäre, wenn es nicht das neue Stimmverfahren gegeben hätte. Wenn nicht Radiohörer und eine Jury jeweils ein Drittel zum Ergebnis beigetragen hätten, sondern es — wie früher — bloß auf das Votum des Fernsehpublikums angekommen wäre.
Cascada hätte trotzdem gewonnen. Weggefallen wäre nur die spannende Dramaturgie, bei der die Bayernbläser LaBrassBanda, die anfangs wie die sicheren Sieger aussahen, scheinbar von fünf erratischen Juroren um den Titel gebracht wurden.
Bemerkenswert ist, dass der Jury nun nicht nur vorgeworfen wird, undemokratisch zu sein — was ein bisschen albern ist, denn genau dafür ist sie ja da. Vor allem wird ihr vorgeworfen, nicht undemokratisch genug gewesen zu sein, indem sie den überaus massentauglichen Stampfer „Glorious“ mit immerhin acht von zwölf Punkten bedachte.
Jurymitglied Peter Urban erklärte hinterher, warum „Nackert“ von LaBrassBanda bei seinen vier Kollegen und ihm durchgefallen ist: Sie fanden einfach die Qualität des Songs nicht überzeugend. Dass es ein tolles und mitreißendes Spektakel ist, wenn die ungewöhnliche Blascombo live auf der Bühne Party feiert, ändere daran nichts.
Ich kann das gut nachvollziehen, jedenfalls bin ich auch bis zum Schluss nicht warmgeworden mit dieser Komposition. Der Unterhaltungswert, diese Jungs nach Malmö zu schicken und zu gucken, wie sie auf die Grand-Prix-Welt reagieren und die Grand-Prix-Welt auf sie, wäre vermutlich erheblich gewesen. Aber das war offenkundig nicht das Kriterium, das die Jury bei ihrer Entscheidung anlegte, und das ist womöglich genau richtig so.
Nun also, nach dem Wunsch des Publikums und mit dem Wohlwollen der Jury, die Danceflooristen von Cascada. Das Ergebnis macht den Bruch mit der Casting-Show-Phase im Auswahlverfahren komplett. Es wird ein sehr anderes Eurovisions-Erlebnis werden als in den vergangenen Jahren: mit einer erfahrenen, professionellen und international erfolgreichen Interpretin und ohne das Gefühl, ein Nachwuchstalent auf einem Karriereweg ins Ungewisse zu begleiten.
Man kann Cascada schlecht ihre Professionalität vorwerfen, und dass ein Titel gewinnt, der einem breiten Massengeschmack entspricht, ist kein Versehen, sondern Prinzip eines Wettbewerbs, dessen Reiz zu einem Großteil darin besteht, dass Zuschauer nach ihren ganz subjektiven Kriterien über Musik abstimmen und nicht irgendwelche vermeintlichen oder tatsächlichen Fachleute.
Aber jenseits der Frage, ob es Natalie Horler gelingen wird, für Malmö ein noch nuttigeres Kleid zu finden, gibt es wenig Anlass, ihrem Auftritt im Finale entgegenzufiebern. Es bleiben als Spannungselement natürlich die Unwägbarkeiten des Wettbewerbs: Wie weit ihre internationalen Fans Cascada nach vorne tragen werden, und ob die platte Kommerzialität des Beitrags sich als Fluch oder Segen herausstellen wird. Aber das Mitfiebern mit einem noch nicht fertigen Nachwuchskünstler oder auch der Reiz einer Konfrontation deutscher (oder bayerischer) Exzentrizitäten mit dem internationalen Geschmack, wird fehlen.
Wirklich ärgerlich am Sieg Cascadas ist, wie sehr er sich bei „Euphoria“ bedient hat, Loreens Siegertitel aus dem vergangenen Jahr — dem „Vorbild“ des Songs, wie es Peter Urban halbdiplomatisch nannte. Das schien auch eine größere Sorge zu sein bei den (halb)professionellen Grand-Prix-Beobachtern gestern in Hannover: Dass man sich nicht blicken lassen könne in Malmö mit etwas, das von den internationalen Freunden und Kollegen als kalkulierte Kopie wahrgenommen werden dürfte.
Man kann den Gedanken, wie „wir“ nun dastehen in der Welt mit diesem Beitrag, natürlich mit gutem Grund für völlig bekloppt halten. Aber der Eurovision Song Contest funktioniert als Nationenwettbewerb, und Cascada tritt in dieser Logik nicht nur für sich, sondern „für Deutschland“ an. Genau diese leicht neurotische Komponente — die Frage, wie wir uns der Welt präsentieren wollen, und die mit Spannung erwartete Antwort, wie die Welt das und uns findet — macht einen wesentlichen Reiz dieses merkwürdigen Wettbewerbs aus.
Der ist natürlich, wenn man ihn nicht wichtig nimmt, ohnehin egal. Ich fürchte nur, mir ist er in diesem Jahr nun auch egaler als sonst.
Vom Vorentscheid in Hannover aber bleibt die Erinnerung an eine Show mit erstaunlicher dramaturgischer Wendung. Und daran, was Anke Engelke spontan zu Peter Urban sagte, als der ihr erzählte: „Ich hab auch schon mal im Fettnäpfchen gesessen.“ — „Kenn ich gut. Komm rein.“
Die ARD hat komische Ideen. Sie veranstaltet heute Abend einen Vorentscheid zum Eurovision Song Contest und hat viele Zutaten, die einen unterhaltungswilligen und nicht zwingend auf guter Musik bestehenden Zuschauer gefallen können: eine strenge blonde Frau in Glitzersteinbluse, die sich in eine lebende Diskokugel verwandelt; drei Priester, die gemeinsam mit einer klassischen Sängerin einen Vorgeschmack auf die Knödelvorhölle geben; barfüßige Bayernbuam in Lederhose, die den Saal wegblasen.
Aber bis dieses Spektakel anfängt, lässt sie erst einmal Loreen auftreten mit ihrem letztjährigen Siegertitel „Euphoria“ – okay, kann man machen, ist auch ganz hilfreich, um dann den späteren plumpen Versuch von Cascada, unter dem Namen „Glorious“ den erfolgreichen Song einfach nochmal in plattgestampfter Form in den Wettbewerb zu schmuggeln, besser würdigen zu können.
Dann folgt ein Auftritt von Lena Meyer-Landrut, die den Wettbewerb, um den es hier geht, offenbar mal gewonnen hat. Sie singt einfach noch einmal ihren inzwischen drei Jahre alten Hit „Satellite“, was man ja nicht oft genug machen… naja, obwohl.
Und dann kommt, um auch die letzten Zuschauer dazu zu bringen, mal zur Fernbedienung zu greifen und nachzuschauen, was auf den anderen Kanälen läuft, noch eine längere Erklärung, was das eigentlich ist, dieser „Eurovision Song Contest“, was Udo Jürgens damit zu tun hat, wie dieser Song „Satellite“ nochmal klingt, wo Malmö liegt und wie die Halle aussieht, in der der Wettbewerb in drei Monaten stattfinden wird.
Aber dann, schätzungsweise um kurz nach halb neun, gefühlt eher gegen 22:40 Uhr, geht es los, und was folgt, ist eine abwechslungsreiche Show, bunt und bekloppt, aber auch erstaunlich erwachsen, musikalisch zeitgemäß und mit vielen Kandidaten, für die man sich als deutsche Vertreter beim Eurovision Song Contest nicht schämen müsste.
Einen Hype oder eine heftige Aufmerksamkeitswelle des Boulevards gibt es in diesem Jahr nicht, aber das spricht paradoxerweise gar nicht gegen die Veranstaltung. Es ist eher Folge davon, dass die ARD darauf verzichtet hat, sich von der Musikindustrie einen Rudolf Moshammer oder Zlatko Trpkovski in die Show schicken zu lassen, sondern eher tatsächlich interessante Nachwuchstalente. Die Frage ist natürlich, wieviele Leute eine Show einschalten, die sich so vergleichsweise unauffällig ankündigt.
Für die meisten Künstler ist es eine sehr ernst gemeinte Chance, sich einmal zur Prime-Time einem größeren Publikum mit ihrer Musik bekannt machen zu können. Aus den Vorstellungsfilmen vor ihren Auftritten kann man manchmal die Verspanntheit erahnen, die aus dem Bemühen entsteht, diese Chance bloß zu nutzen.
Die österreichische Soul-Sängerin Saint Lu schafft es, sich in den eineinhalb Minuten um sämtliche noch nicht gehabten Sympathien zu reden, was aber nicht sehr schadet, weil ihr affektierter Auftritt mit überaus durchdringendem Gesang kurz darauf zumindest bei mir einen ähnlichen Effekt hatte.
Die Söhne Mannheims haben einen Film gedreht, der so breitwandig und breitbeinig daher kommt, dass mein Ironiedetektor im Gehirn die ganze Zeit aufgeregt flackerte, bis zuletzt aber zu keinem eindeutigen Ergebnis kam, was zu einem leicht hysterischen Kichern führte.
Der Elektropopper Ben Ivory immerhin lässt in seinem Selbstportrait keine Frage, dass er Formulierungen wie „Selbst ein einziges Lied kann Mauern einreißen“ bierernst meint. Offenbar ist auch die Botschaft seines Songs „We are the righteous ones“ exakt so gemeint: Wir sind die Rechtschaffenen. Puh. Aber tolle Lasershow dann.
Die leicht folkpoppige Nummer „Little Sister“ von Mobilée war im Vorfeld einer meiner Favoriten, aber es spricht wenig dafür, dass die Sängerin ausgerechnet in der Finalsendung dann mal die passende Tonart findet und in ihr bleibt.
Mein persönlicher Favorit ist, auch zu meiner eigenen Überraschung, „Heart on the Line“ von Blitzkids mvt. geworden, eine Großraumdiskonummer, die in der Halle mit entsprechendem Wumms fantastisch kommt, sich aber vermutlich über den Fernseher nur überträgt, wenn man die Lautstärke voll aufdreht. Die Künstlerattitüde der Gruppe ist vielleicht ein bisschen angestrengt, aber ihr Auftritt ist großes Kino.
Betty Dittrich singt einen Sechziger-Jahre-Schlager, der so eingängig ist, dass man ihn schon nach drei Sekunden mitsingen kann und dafür drei Tage nicht mehr aus den Ohren bekommt. Ihr „Lalala“ ist von größter Banalität, aber diese Schlichtheit kommt mit soviel Charme und guter Laune daher, dass ich mir vorstellen kann, dass das ganz vorne landet.
Cascada und die Söhne Mannheims müssen wohl schon aufgrund ihrer großen Zahl von Fans — leider — als Mitfavoriten gelten. Und dann sind da noch LaBrassBanda, nach deren Auftritt in der Generalprobe Grand-Prix-Superexperte Lukas Heinser sowie Imre Grimm, der Lena-Sonderbeauftragte der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“, spontan einen Sieg vorhersagten. (Ich hab dagegen gehalten, was beide lachend als Bestätigung nahmen, richtig zu liegen.)
Jedenfalls, LaBrassBanda. Das wäre wunderbar, diese Musik-Verrückten ins internationale Finale zu schicken, ich wäre prinzipiell dafür, und die Arena in Hannover wird ganz sicher brennen nach ihrem Auftritt. Ich werde nur leider mit ihrem nervigen Song überhaupt nicht warm.
Mia Diekow singt ein Lieblingslied, das von Frank Ramon geschrieben worden sein könnte (und ich meine das nicht im Positiven). Sie trägt es in einer Choreographie vor, die von Ralph Siegel stammen könnte. Das will man auch nicht.
Und „Change“ von Finn Martin könnte ein ganz okayer Popsong sein, würde er nicht von diesem Grinsepeter vorgetragen, dessen Haare allein mir eine faire Bewertung schon unmöglich machen.
Über Nica & Joe möchte ich bitte nicht reden, weil ich mich dazu wieder an den Auftritt erinnern müsste, und bei den Priestern & Mojca Erdmann ist meine größte Sorge, dass es irgendwelche Rammstein- oder gar Unheilig-Fans in größerer Zahl geben könnte, die dafür stimmen.
Ich habe keine Ahnung, wer gewinnt, lege mich aber jetzt einfach mal fest:
1. Betty Dittrich
2. Cascada
3. Söhne Mannheims
4. LaBrassBanda
5. Finn Martin
6. Blitzkids mvt.
7. Mobilée
8. Saint Lu
9. Die Priester & Mojca Erdmann
10. Mia Diekow
11. Nica & Joe
12. Ben Ivory
Der eigentliche Gewinner des Abends wird aber mal wieder Anke Engelke sein. Der größte Teil der medialen Aufmerksamkeit im Vorfeld galt ihr, der Moderatorin, und die Show wird zeigen: völlig zurecht. Sie hat sich mit einer solchen Lust, Leidenschaft und Leichtigkeit durch die Generalprobe moderiert, dass sie sich hinterher hoffentlich vor Show-Angeboten nicht retten kann, die sie nicht ablehnen kann.
Also, wenn ich nicht in der Halle säße: Ich würd’s einschalten. Und das wirklich nicht nur aus Gründen der Konträrfaszination.
Unser Song für Malmö, gleich, 20.15 Uhr, ARD.
(Ich werde versuchen, aus der Halle zu twittern: @niggi)
Der aserbaidschanische Schriftsteller Akram Ajlisli hat Ende vergangenen Jahres in einer russischsprachigen Zeitschrift die Novelle „Steinträume“ veröffentlicht. Sie spielt während der anti-armenischenPogrome in Aserbaidschan zum Ende der Sowjetunion und schildert, wie zwei aserbaidschanische Männer versuchen, ihren armenischen Nachbarn zu schützen.
Armenien ist der Erzfeind Aserbaidschans und hält nach dem Krieg vor 20 Jahren die Region Bergkarabach besetzt. Eine freundliche Darstellung von Armeniern ist in Aserbaidschan eine Unmöglichkeit.
Ajlisli sagt, er hätte damit gerechnet, dass sein Werk Aufregung provozieren würde, aber die Heftigkeit des Aufruhrs habe ihn schockiert. Vor seinem Haus versammelte sich ein Mob, rief Beschimpfungen und verbrannte sein Portrait. Ein Präsidentschaftskandidat setzte eine Belohnung von umgerechnet 10.000 Euro aus für jeden, der Ajlislis Ohr abschneidet. Während einer Debatte im Parlament empfahl einer der Abgeordneten, ihm seine Staatsbürgerschaft abzuerkennen. Der hochrangige Regierungsvertreter Ali Hasanov forderte das aserbaidschanische Volk auf, „öffentlich Hass“ gegenüber Leuten wie Ajlisli kundzutun.
Der aserbaidschanische Blogger Emin Milli ist heute nach zwei Wochen Arrest freigekommen. Er war wie zahlreiche andere Bürgerrechtler und Oppositionelle bei einer unangemeldeten Demonstration in Baku festgenommen worden. Andere, wie die Enthüllungsjournalistin Khadija Ismailowa, wurden zu Geldstrafen verurteilt.
Milli war 2009 international bekannt geworden, als das Regime gegen ihn vorging, nachdem er mit einem Freund ein satirisches Video über die Korruption von Politikern gedreht hatte. Er war trotz internationale Proteste aufgrund einer höchst zweifelhaften Anklage zu eineinhalb Jahren Haft verurteilt worden. Anlässlich des Internet Governance Forums, das Ende vergangenen Jahres in Baku stattfand, hatte er einen offenen Brief an Präsidenten Alijew geschrieben und die „Gesellschaft der Angst“ in seiner Heimt beklagt.
Die Proteste gegen die Regierung haben in den vergangenen Wochen zugenommen; die Härte, mit denen der Staat dagegen vorgeht, und die Schikanen, denen sich Bürgerrechtsorganisationen ausgesetzt sehen, ebenfalls.
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Das aserbaidschanische Regime hat Freunde in Deutschland, und einer der prominentesten ist die große moralische Autorität der FDP, Hans-Dietrich Genscher. Der ehemalige Außenminister ist Ehrenvorsitzender im Beirat der Agentur Consultum Communications des früheren „Bild“-Journalisten Hans-Erich Bilges, die, wie es der „Spiegel“ formuliert, „undemokratischen Regierungen bei der Imagepflege hilft“. Zu den Kunden gehören oder gehörten neben Ländern wie Kasachstan und Weißrussland auch Aserbaidschan, und Genscher hilft, das Prestige der dortigen Machthaber zu heben.
Als Bilges eine große Feier zum 20-jährigen Unabhängigkeitstag Aserbaidschans in Berlin organisierte, kam neben der damaligen Bundespräsidentengattin Bettina Wulff auch Genscher.
Gleich zweimal reiste Genscher in den vergangenen Jahren auch nach Baku, um Präsident Alijew zu treffen: im November 2010 und im Juni 2012. Laut aserbaidschanischer Regierung lobte der FDP-Ehrenvorsitzende dabei den rasanten Entwicklungsfortschritt des Landes und sagte, Deutschland wolle die Zusammenarbeit mit Aserbaidschan auf allen Gebieten ausbauen. Auch am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz traf sich Genscher im vergangenen Jahr mit dem aserbaidschanischen Präsidenten.
Eine Anfrage vom mir im vergangenen Sommer, was die Absicht des damaligen Treffens mit Alijew war, wer die Mitglieder seiner Delegation waren und ob es einen Zusammenhang mit den Aktivitäten von Consultum gebe, ließ das Büro Genschers unbeantwortet.
Toll, das „Handelsblatt“, diese „große, stolze Wirtschaftszeitung“, wie ihr Herausgeber Gabor Steingart sie nennt. Ich les das jetzt öfter, seit die so groß in die Medienberichterstattung eingestiegen sind. Heute eine brisante Titelgeschichte von Hans-Peter Siebenhaar über eine „Branche im Alarmzustand“:
Am besten ist die Grafik, die die dramatischen Veränderungen in der Mediennutzung illustrieren soll. Sicherheitshalber hat das „Handelsblatt“ allerdings die y-Achse manipuliert. Trägt man beide Kurven korrekt an derselben Achse auf, ergibt sich nicht das linke, sondern das rechte Bild:
Außerdem verschweigt das „Handelsblatt“, dass sich seine beiden Kurven auf unterschiedliche Altersgruppen beziehen: die Internetnutzung auf Erwachsene ab 14 Jahren, die Fernsehnutzung auf Zuschauer ab 3 Jahren. Beim Fernsehen sind also auch Kinder einberechnet, die Altersgruppe, die mit Abstand am wenigsten fernsieht. Rechnet man auch hier auf der Basis „Erwachsene ab 14 Jahren“, kommt man 2012 auf eine durchschnittliche Nutzungsdauer von 242 Minuten — und sogar einen Zuwachs gegenüber dem Vorjahr (der sich womöglich aus Fußball-EM und Olympia erklären lässt).
Nur hätte sich diese Grafik vielleicht schlecht unter der Überschrift „Das große Umschalten“ und mit den Worten „Eine Branche im Alarmzustand“ auf dem „Handelsblatt“-Titel präsentieren lassen:
(Die Fernsehzahlen sind über die Jahre nicht ganz vergleichbar: Seit Mitte 2009 gehen vermehrt auch Nutzungen außer Haus und mit Zeitverzögerung in die Berechnung ein.)