Autor: Stefan Niggemeier

Als der Song Contest noch Song Contest hieß

Es hätte ein großer Abend werden können, gestern in der Düsseldorfer Tonhalle. Der WDR hatte geladen und sein Sinfonieorchester mitgebracht. Heldinnen und Helden der Grand-Prix-Geschichte wie Mary Roos, Ingrid Peters, Katja Ebstein und Johnny Logan waren gekommen, um die Klassiker aus dem Wettbewerb noch einmal live und im Orchester-Arrangement zu singen und sich feiern zu lassen, von der dankbaren, treuen Fangemeinde.

Es sind große, unvergessene Schlager: „Wunder gibt es immer wieder“, „Nur die Liebe lässt uns leben“, „Über die Brücke gehn“, „Aufrecht gehn“… Das Publikum sang begeistert mit, nahm raunend zur Kenntnis, was für eine coole Sau Nino de Angelo ist, der Toto Cutugnos „Insieme“ interpretierte, und freute sich über die groovende Swing-Nummer, die Guildo Horn aus Michelles „Wer Liebe lebt“ machte und die sogar Versatzstücke von Monty Pythons „Always Look On The Bright Side Of Life“ enthielt. Die Künstler strahlten, als hätten sie seit Jahren nicht mehr einen solchen Zuspruch erfahren (was womöglich stimmt), und ließen sich zu der frenetisch geforderten Zugabe überreden.

Es hätte ein großer Abend werden können — sogar trotz Ralph Morgenstern, der ihn zu moderieren versuchte — nostalgisch natürlich, aber mitreißend. Aber diese „Grand Prix Classics“ waren nicht nur ein Begleitprogramm zur Finalwoche in Düsseldorf; sie waren auch ein Gegen-Programm. Sie wurden zu einer Demonstration derjenigen, die sich gegen die Modernisierung sträuben, die der Wettbewerb in den vergangenen gut zehn Jahren erlebt hat und in deren Geist auch das Finale von Düsseldorf stattfindet. Sie sehnen sich nach dem zurück, was der Grand Prix einmal war, oder genauer: wozu sie ihn verklärt haben.

Das fängt schon an mit dem auch und insbesondere unter Journalisten nicht ausrottbaren Irrglauben, die Veranstaltung heiße erst seit kurzem „Eurovision Song Contest“. Dies ist die Schrifttafel zu Beginn des vermeintlichen „Grand Prix Eurovision de la Chanson“ 1983 in München:

Warum es überhaupt besser sein soll, den Liederwettbewerb im Deutschen mit einem französischen Namen zu benennen, erklärt sich vermutlich aus der Ablehnung des Englischen als böse, böse Sprache, die alle anderen (und nicht zuletzt die deutsche) aufzufressen drohe.

Entsprechend die andere Klage, die immer wieder erklingt: Dass die Länder beim Grand Prix nicht mehr wie früher™ in ihrer Landessprache singen müssen. (Diese Regel galt übrigens keineswegs von Anfang an und gab es auch in den siebziger Jahren zeitweise nicht.)

Beim WDR-Abend in der Tonhalle verhedderte sich Katja Ebstein heillos beim Versuch, gegen das Singen auf Englisch zu plädieren.

Katja Ebstein: Ich finde, intelligente Menschen können auch gut auf deutsch singen. (Demonstrativer Recht-hat-sie-Beifall aus dem Publikum.) Auch wenn es nicht so geschmeidig ist wie das Englische. Wir wollen was erzählen. Und die Menschen, die da zuhören, zumindest in unserem Land, brauchen das Deutsche, weil sie dem Text der Geschichte sonst nicht folgen können. Und ich finde, wenn man die Beliebigkeit sieht – wir haben gestern mal reingeschaut, in diese Vorconteste da, die singen jetzt alle, ob Russen, Türken, wer auch immer, alles singt englisch. Kein Mensch hört mehr auf die Geschichten, weil die es ja gar nicht hören können, verstehen können, bis auf eine Zeile. Das ist zuwenig.

Ralph Morgenstern: Aber es ist doch ein internationaler Wettbewerb.

Katja Ebstein: Macht doch nichts.

Also, ich persönlich verstehe eventuelle Geschichten in den russischen, türkischen und aserbaidschanischen Beiträgen besser, wenn sie mir auf englisch erzählt werden statt in der jeweiligen Landessprache. Wenn Verständlichkeit das Argument wäre, wäre es ein Argument dafür, alle auf englisch singen zu lassen.

Natürlich hat Katja Ebstein Recht, wenn sie die Gefahr der Beliebigkeit anspricht. Natürlich ist es merkwürdig, wenn ein Land wie Aserbaidschan Beiträge schickt, die moderner, internationaler und, mutmaßlich, unaserbaidschaniger klingen als alle anderen im Wettbewerb. Aber sagt uns das nicht mehr über das Land und wie es sich der Welt darstellen will als ein aserbaidschanischer Chanson?

Wenn es – jenseits der unfreiwilligen Komik, die allein einen solchen Wettbewerb aber nicht über 55 Jahre am Leben erhalten hätte – etwas gibt, das den Eurovision Song Contest faszinierend macht, dann doch das: Dass man sehen kann, wie sich Künstler aus verschiedenen Ländern auf dieser Bühne präsentieren, und interpretieren kann, was das über diese Länder aussagt. Und während der Punktevergabe kann man auch noch spekulieren, warum wer wem Punkte gab, und was das wiederum über Europa aussagt.

Der Grand Prix lebt von seiner Vielfalt. Er ist für Länder wie Aserbaidschan und Armenien der Versuch, sich mithilfe von Popmusik als moderne Länder im westlichen Sinne darzustellen. Er ist für Länder wie Griechenland und die Türkei immer wieder ein Anlass, neue Verknüpfungen von traditionellen einheimischen Rhythmen mit internationalem Pop zu suchen. Die Franzosen kommen in diesem Jahr mit einem Tenor, der auf korsisch singt, und glauben, dass gerade das die perfekte Kombination ist um mal wieder weit vorne zu landen. Und wer weiß, womöglich haben sie recht? (Ich glaube nicht.)

Dieser Wettbewerb soll besser sein, wenn man den Ländern vorschreibt, in welcher Sprache sie zu singen haben, und möglichst auch noch, dass für uns exotische Völker gefälligst für uns exotisch klingende Musik von zuhause mitbringen müssen? Wie kleingeistig.

Es sind jedes Jahr viele merkwürdige Beiträge dabei, was kein Wunder ist, denn es handelt sich um einen merkwürdigen Wettbewerb. Ein europäisches Wettsingen — was für eine grandiose Quatschidee. Natürlich geht es dabei nicht nur um die Qualität von Musik (als ob die sich irgendwie objektiv messen ließe), es geht um Sympathien gegenüber Künstlern, Auftritten und Nationen, es geht um Entertainment und es geht darum, wer es schafft, den Funken überspringen zu lassen und die Herzen der unterschiedlichsten Menschen vor den Bildschirmen zu erreichen, und sei es nur für exakt drei Minuten.

Natürlich kann man sagen, dass diesem Großereignis jede Relevanz fehlt, aber trifft das nicht auf alle Unterhaltung zu, nicht zuletzt auf Fußball? Ich habe das schon vor über zehn Jahren mal in einen Artikel geschrieben, aber das Gefühl, es täglich wieder irgendwohin schreiben zu müssen. Der Grand Prix ist — wie Fußball — exakt so wichtig, wie man ihn nimmt:

Fußball ist unser Leben, und der Grand Prix auch. Nicht für dieselben Leute, klar, auch nicht für ganz so viele, aber doch. Der europäische Schlagerwettbewerb ist genau so unendlich wichtig wie eine Europameisterschaft. Und natürlich genau so unendlich egal. Aber erheben sich vor dem Endspiel oder nach einem 0:3 gegen Kroatien mahnende Stimmen, die sagen: „Regt Euch ab, ist doch nur Fußball?“ Also.

Aber ironischerweise kann man, wenn man ihn dann wichtig nimmt, den Grand Prix, viel Spaß haben. Oder, natürlich, sich in seiner eigenen Engstirnigkeit einmauern. Und so sitzen sie da, die alten Grand-Prix-Knacker in der Tonhalle in Düsseldorf, und jammern, dass alles nicht mehr so „gemütlich“ ist, wie es vor 40 Jahren war, als ob irgendetwas anderes noch so „gemütlich“ wäre wie vor 20, 30, 40 Jahren. („Gemütlich“ ist auch nicht das erste Wort, das mir einfiele, um etwa die Anmutung des Song Contest 1983 in München zu beschreiben). Sie klagen, dass es kein Orchester mehr gibt, was tatsächlich schade ist – andererseits aber auch nur reflektiert, dass moderne Musik heute nicht von Orchestern gespielt wird. Und überhaupt ist ihnen das alles nicht geheuer. Und dann kommt natürlich, wie immer, der Hinweis, dass es sich nicht um einen Sänger-, sondern einen Komponistenwettstreit handele. Das ist richtig, aber dem Publikum herzlich egal, und zwar immer schon. Ich glaube nicht, dass jemand anders als Lena 2010 mit „Satellite“ den Eurovision Song Contest gewonnen hätte.

Leider treffen die Nostalgiker und Dogmatiker bei denjenigen, die für den Song Contest von heute verantwortlich sind, umgekehrt auf ähnliche Ignoranz. Stefan Raab und seine Leute haben sich nach meiner Wahrnehmung noch nie besonders für die Historie dieses Wettbewerbs oder die ihn umgebene schwule Kultur interessiert, die wiederum ihnen nicht geheuer ist (von deren Tauglichkeit als Zielscheibe für Spott natürlich abgesehen).

Lena muss in diesen Tagen übrigens für diverse Einspielfilme der Produktionsfirma Brainpool Kartoffelsalat an die verschiedenen Delegationen verteilen. Der Gedanke, dass sie mit den anderen Sängerinnen und Sängern musizieren könnte, war offenbar zu abwegig.

Das Vorabendgrauen zum Eurovision Song Contest

Wie schwer kann es sein, eine kleine Show zu produzieren, die in der Woche des Eurovision Song Contest über das Spektakel berichtet?

Seit einer Woche wird hier in Düsseldorf geprobt. Delegationen aus 43 Ländern sind vor Ort, schrille Kandidaten und ernsthafte Künstler, es findet ununterbrochen irgendein Termin statt, um die Journalistenmeute mit Stoff zu versorgen, es ließe sich, wie in der Vorberichterstattung zu einer Fußball-WM, über Favoriten, Strategien, Technik und historische Parallelen diskutieren, man könnte die vielen unterschiedlichen Menschen miteinander musizieren lassen.

Selbst für einen Sender mit der Unterhaltungsinkompetenz der ARD müsste es möglich sein, aus diesem Grand-Prix-Zirkus eine sehenswerte oder wenigstens ansehbare oder immerhin doch nicht völlig peinliche Vorabendshow zu kondensieren. Es ist ihm nicht gelungen.

Alles, einfach alles an der Premiere der „Show für Deutschland“ war grauenvoll: Der Sendungstitel. Der Moderator. Das muffige Design. Das überflüssige Quiz-„Duell“. Der Moderator. Die Idee, Jan Feddersen als Experten in eine Ecke des Studios zu setzen, in die der Moderator nur mit Halsverrenkungen sehen kann. Der Moderator. Der Verzicht darauf, mit Katja Ebstein, wenn sie schon mal da ist, auch ein Gespräch zu führen. Hab ich schon „Der Moderator“ gesagt?

Wer kommt auf die Idee, eine solche Sendung von Frank Elstner moderieren zu lassen, einem Mann, der an besseren Tagen vielleicht weniger verwirrt durch eine Sendung stolpert, dem aber ohnehin jeder Bezug zu dieser Veranstaltung fehlt? Die Fassungslosigkeit von Lena Meyer-Landrut über die Ahnungslosigkeit und Ungeschicklichkeit des Mannes war unübersehbar und nachvollziehbar. Es entwickelten sich Dialoge wie der folgende:

Frank Elstner: Sie sind der einsamste Mensch da unten auf der Bühne.

Lena Meyer-Landrut: Nein, ich habe fünf Mädchen bei mir.

Elstner: Aber doch nicht auf der Bühne. Hinter Ihnen, die mit Ihnen tanzen!

Meyer-Landrut: Auf der gleichen Bühne, auf der ich auchsstehe, sind auch die fünf Mädchen.

Elstner: Ja, aber wenn Sie singen und Ihnen der Text nicht einfallen lassen würde, dann, kein Mensch kann Ihnen helfen. Dann sind Sie in dem Moment einsam.

Meyer-Landrut: Das ist richtig. Da werde ich dann in Fantasiesprache improvisieren.

(…)

Elstner: Der Herr Raab, der sich ja um Sie kümmert, Sie entdeckt hat, Ihr Pate ist, der für Sie viel produziert hat…

Meyer-Landrut: (lacht) Mein Pate! Der überweist mir jeden Monat zwei Mark fünfzig.

Elstner: Der Stefan, der wird doch irgendwo Kontakt zu Ihnen halten während Ihres Auftritts, oder? Gibt es Geheimzeichen?

Meyer-Landrut: Nein. Nein, tatsächlich nicht. Ich weiß auch überhaupt gar nicht, wo der ist, während meines Auftritts. Keine Ahnung, der wird vermutlich hier vorne irgendwo stehen und moderieren.

(…)

Elstner: Und jetzt wollen wir mal was ganz anderes zeigen. Das hier war ja früher mal ein Fußballstadion.

Meyer-Landrut: Isses auch immer noch.

Elstner: Wie hat man aus einem Fußballstadion so eine Showbühne gezaubert? Dahinter stecken natürlich sehr viele Handwerker, sehr viele fleißige Menschen, Hundertschaften, die hier wochenlang gearbeitet haben. Wollen Sie die Handwerker mal ganz herzlich grüßen und Danke sagen?

Meyer-Landrut: Danke, Handwerker.

Elstner war das größte Problem der Sendung, aber nicht das einzige. Er behauptete munter, es seien auch Länder aus Nordafrika dabei. In einem Einspielfilm wurde die Größe der LED-Wand auf 60 mal 80 Meter vervierfacht. Reporter Thorsten Schorn dokumentierte, wie die schrillen irischen Teilnehmer Jedward nichts anderes taten, als Lena Blumen zu überreichen. Seine Kollegin Sabine Heinrich musste in einem Filmbericht den Tagesablauf von Lena nacherzählen – über weite Strecken ohne Lena. Im Tonfall eines Unterrichtsfilms dokumentierte der Sprecher:

„Lena steigt mit Team und Presse direkt in den Bus. Der Zeitplan ist eng, wie an jedem Song-Contest-Tag.“

Danach konfrontierte Frank Elstner Lena noch mit einer Statistik, die zeigte, welche Farben die Kleider der Sieger in der Geschichte des Eurovision Song Contest hatten, und suggerierte, dass ihr Schwarz dann ja kein gutes Omen sei. (Dass sowohl Lena als auch Nicole ein schwarzes Kleid bei ihren Siegen trugen, war offenbar niemandem in der Vorbereitung aufgefallen.)

Es ist ein Programm voller Verzweiflung und zum Verzweifeln – in der zweiten Folge heute befragte man im Rausch der Ideen- und Sinnlosigkeit eine Kartenlegerin, wer den Wettbewerb gewinnen wird.

Schaut man in den Abspann, wer diesen Unfall zu verantworten hat, stößt man auf einen interessanten Namen: Die täglichen ARD-Vorabendsendungen zum Eurovision Song Contest werden von der Firma Brainpool produziert. Die produziert praktischerweise auch die täglichen ProSieben-Spätabendsendungen zum Eurovision Song Contest. Sie hat auch die (überaus uninspirierte) Aufzeichnung des Konzertes von Lena Meyer-Landrut produziert. Und sie ist der wichtigste Partner der ARD bei der Produktion des Eurovision Song Contest selbst. Ihr Chef Jörg Grabosch hat die entscheidende Funkton „Producer TV Show“ inne.

Die Beteiligten geben sich große Mühe, die Kooperation als unspektakulär darzustellen und betonen, dass Brainpool nur eine von mehr als hundert Firmen ist, mit denen der NDR zusammenarbeitet. Sie tun das aber so angestrengt, dass erst recht der Eindruck entsteht, dass es sich um ein Politikum handelt. Der ARD-Grand-Prix-Chef Thomas Schreiber sagte vor einigen Wochen, man arbeite mit Brainpool unter anderem deshalb zusammen, weil die Firma schon in der Düsseldorfer Arena produziert hat und es nicht viele Produktionsfirmen und Sender gebe, die mit solchen Dimensionen umgehen könne. Er räumte ein, dass es auch intern kritische Fragen gebe. Er hoffe aber, dass auch die Kritiker nach der gelungenen Show einsähen, dass es eine gute Kooperation war.

Nun ja. Tatsächlich macht das, was man in Düsseldorf von den Grand-Prix-Shows sehen kann, einen hervorragenden Eindruck. Drumherum gibt es aber einiges Grummeln bei ARD-Mitarbeitern, die sich als Mitarbeiter zweiter Klasse behandelt fühlen. Kameraleute vom NDR dürfen oder müssen vor Ort die Pressekonferenzen filmen und zusehen, wie dafür Brainpool-Leute beim Produzieren fürs Fernsehen das tun, was ihrer Meinung nach ihre Aufgabe wäre.

Für die „Show für Deutschland“ müssten sie sich jedenfalls beide schämen. Die ARD. Und Brainpool.

Schlaflos in Düsseldorf




Während ich das hier blogge, sitzt Lukas am Küchentisch und macht das, was er seit Sonntag jede Nacht um diese Zeit gemacht hat und vermutlich auch die nächsten neun Nächte noch tun wird: Er baut die Übergänge zwischen die einzelnen Szenen der nächsten Folge von duslog.tv, steuert den Ton aus, flucht über die Eigenart der Kamera, einen Kanal lauter aufzunehmen als den anderen, lacht, niest und gähnt. Dann exportiert er noch die Datei und geht irgendwann ins Bett, während sie bei YouTube hochlädt.

Ein Vorteil von Düsseldorf gegenüber Oslo: In Düsseldorf wird es dann wenigstens noch nicht wieder hell.

Der fünften Folge, die in ein paar Stunden online sein sollte, merkt man vermutlich ein bisschen an, dass es gewagt war, zwei Wochen lang jeden Tag eine Folge zu produzieren. Nicht dass es an Stoff mangelt (obwohl die richtige Beklopptheit hier erst am Wochenende losgeht, wenn Lena zum ersten Mal probt, der Bürgermeister zum Empfang lädt und die meisten Berichterstatter anreisen). Aber bei unserer bestenfalls viertelprofessionellen Arbeitsweise, die alles andere als effizient ist, treten schnell Ermüdungserscheinungen auf, allein schon durch Schlafmangel. Und das Ergebnis ist sehr tagesformabhängig, weil es so wenig durch irgendeine Planung, sondern den Zufall bestimmt ist. (Und wenn wir dann nicht rechtzeitig ein schönes Plätzchen zum Drehen finden, sitzen wir halt im Dunkeln, wie in Folge 5.)

Ich hoffe, dass der kreative Wahnsinn, der dadurch gelegentlich entsteht, den Mangel an Perfektion ausgleicht. Und obwohl es schön wäre, wie der Kollege Roman Rätzke, der mit Sandra Nicole Hofmann das offizielle Videoblog auf eurovision.de moderiert, das eigentliche Produzieren anderen überlassen und abends feiern recherchieren gehen zu können, liebe ich es nach wie vor, das alles — mit Lukas — in Handarbeit selbst machen zu können.

Ich wollte noch ein paar Sachen aufschreiben, die ich gelernt habe in den ersten Tagen beim Eurovision Song Contest in Düsseldorf. Aber ich muss jetzt wirklich ins Bett.

(Lukas hatte für den „Journalist“ schon ein paar Sachen aufgeschrieben, die er im Vorfeld gelernt hat.)

Beat Jobatey

Es ist schon richtig. Man darf über die lustigen Quatschveranstaltungen nicht das Elend dieser Welt vergessen. Am Sonntag kam diese erschütternde Nachricht: Cherno Jobatey ist der deutsche „Journalist“ mit den meistern Followern auf Facebook.

Der „TV-Liebling“ (Cherno Jobatey über Cherno Jobatey), „a secure interviewer on any topic“ (Cherno Jobatey über Cherno Jobatey), der „lustige Clown aus dem ‚ZDF-Morgenmagazin'“ (Silke Burmester über Cherno Jobatey) „gefällt“ auf Facebook 5554 Personen.

„Das kann ich nicht auf unserem Berufsstand sitzen lassen“, findet die Journalistin Burmester, „und auch nicht auf mir.“ Sie hat die Kampagne „Beat Jobatey“ ins Leben gerufen und ruft dazu auf, bei ihrer Facebook-Seite „Die Kriegsreporterin“ auf „Gefällt mir“ zu klicken.

„Kriegsreporterin“ ist der Name ihrer mittwöchlichen „taz“-Kolumne, in der sie von der „Medienfront“ berichtet. Zum Beispiel so:

Immerhin sind Frauen heutzutage flexibel. Darauf wies auch der Mediendienst von Peter Turi letzte Woche hin, der schrieb: „Glamour-Chefredakteurin Andrea Ketterer sieht veränderte Anforderungen der Leserinnen an Frauenmagazine.“ Diese hatte nämlich den Satz gesagt: „Keine Leserin nimmt sich die Zeit, einen Artikel zweimal zu lesen. Wenn sie im Vorspann nicht versteht, worum es geht, ist sie weg.“ Es ist gut, dass diese Entwicklung endlich einmal laut benannt wurde, jetzt können auch die Dozenten der Journalistenschulen endlich damit aufhören, den Schülern das recht aufwendige Formulieren komplizierter, verschachtelter und missverständlicher Vorspänne beizubringen.

Für das, und ich rede hier aus Erfahrung, die meisten Schüler auch immer etwas zu blöd waren. Nichtsdestotrotz eine Notwendigkeit, als es noch weder Fernseher, Internet noch Vibratoren gab und die Frauen ihre Abende damit verbrachten, Artikel wieder und wieder zu lesen. Bereits mit der Erfindung des Strickzeugs sank die Bereitschaft, einen Text mehr als viermal zu lesen um 27,8 Prozent.

Die Burmesterin, die Anfang des Jahres kurz neben Frank Schirrmacher stehen durfte, hat mich gefragt, ob ich nicht für ihre Aktion trommeln mag. Das tue ich gerne, denn sie ist eine Nette. Auch wenn Sie sie nicht kennen, können Sie ruhigen Gewissens mitmachen, denn Sie kennen ja Cherno Jobatey.

Nachtrag, 5. Mai. Silke Burmester hat Post vom Management von Cherno Jobatey bekommen:

Sehr geehrte Damen und Herren,

anbei die Infos zur unglaublichen Hetzkampagne gegen Herrn Jobatey, die seine Persönlichkeitsrechte verletzt.

Wir gehen davon aus, dass

1. Sie den Artikel löschen
2. Sie die Facebook Seite löschen
3. Die TAZ sich bei Cherno Jobatey entschuldigt.

Danke.

Ach, fängt schon an?

In den kommenden beiden Wochen bin ich in Düsseldorf, um mit Lukas dieses Grand-Prix-Ding zu begleiten. Auf Oslog folgt Duslog! Die Details erklärt Ihnen gerne noch einmal Fräulein Meyer-Landrut:

Wenn alles klappt, sollte die erste Folge am Montagmorgen online sein.

Ein bisschen Spiegel

Ich habe mir mal die Mühe gemacht, alle Artikel rauszusuchen, die der „Spiegel“ 1983 über den Eurovision Song Contest veröffentlicht hat, der in jenem Jahr in München stattfand, nachdem Nicole den ersten Sieg für Deutschland errungen hatte. Dies ist die vollständige Berichterstattung:

Aber die Kamera wird gleich zufahren

Ein spezielles Vergnügen bei medialen Großereignissen wie diesem ist es, beim Rumpelsender n-tv vorbeizuschauen, der es schon an normalen Tagen nur mühsam schafft, seine Moderatoren rechtzeitig nach den Beiträgen zu wecken und den Sendebetrieb aufrecht zu erhalten.

Schwuler Schmuddel

Man lebt riskant als schwuler Moderator, der nicht zu seiner Homosexualität stehen will. Dieter Bohlen hat Marco Schreyl das vor einem Jahr mal gezeigt.

Es war in einer Ausgabe der RTL-Show „Deutschland sucht den Superstar“, die Schreyl moderiert und Bohlen regiert. Einer der Kandidaten hatte seiner Freundin einen Heiratsantrag gemacht. Moderator Marco Schreyl nahm das zum Anlass, Bohlen zu fragen, ob er nicht auch mal wieder heiraten wolle. Bohlen fand das aus unbekannten Gründen unangemessen und ließ sich hinterher von „Bild“ mit folgenden Worten zitieren:

„Soll Marco doch mal Fragen zu seinem Privatleben beantworten. Man hört da ja so einiges … Soll er mir seine Freundin mal zeigen, dann gebe ich ihm als Mensch mit Lebenserfahrung gerne Beziehungstipps.“

Das klingt womöglich harmlos, höchstens kryptisch — wenn man nicht weiß, dass Marco Schreyl schwul ist. Wenn man es weiß, klingt es wie ein Erpressungsversuch. Dieter Bohlen, der seine Frauengeschichten in der Öffentlichkeit breittritt, droht Marco Schreyl, der eventuelle Männergeschichten nicht in der Öffentlichkeit breittritt, damit, ihn zu outen, wenn er sich nicht fügt.

Schon das ist ein hervorragendes Argument für Prominente, öffentlich zu ihrer Homosexualität zu stehen: Damit man nicht erpressbar wird von Leuten wie Dieter Bohlen.

Ich hatte damals bei RTL nachgefragt, ob der Sender nicht ein Problem mit dem Verhalten Bohlens hat. Aber die Sprecherin wies mich darauf hin, wie viele an der Produktion beteiligte Menschen, auch in der RTL-Hierarchie, schwul seien, und dass Bohlen ja den offen schwulen Kandidaten Mark Medlock gemocht habe und dass der Vorwurf der Schwulenfeindlichkeit damit abwegig sei.

Ich habe die Argumentation damals schon nicht verstanden und halte es auch heute noch für einen Skandal, dass der Sender damals nicht für seinen Moderator eingetreten ist und Bohlen in die Schranken gewiesen hat. Das Perfide ist, dass es unmöglich war, darüber zu berichten, ohne das, was Bohlen nur angedeutet hatte, auszusprechen.

Gestern veröffentlichte Thomas Lückerath im Mediendienst DWDL einen Artikel über Prominente, die ihre Homosexualität verstecken. Darin nannte er Marco Schreyl verblüffenderweise als positives Beispiel:

Marco Schreyl (…) hat nie die große Schlagzeile für seine Homosexualität gesucht – umgekehrt aber auch kein Geheimnis draus gemacht hat. Nicht nur privat in seiner Wahlheimat Köln — so offen gehen viele Kollegen inzwischen damit um — sondern auch vor der Kamera: Wer sich die letzten Staffeln der beiden von ihm moderierten RTL-Castingshows anschaut, wird immer wieder gezielte Anspielungen Schreyls entdecken – die von ihm spürbar mit fast diebischer Freude untergebracht wurden. Öffentlich gelebte Selbstverständlichkeit lässt sich dann nicht mehr enthüllen. Dass es also kein Titelseiten-Outing gab, macht ihn nicht zur Klemmschwester – wie nicht geoutete Schwule in der Szene genannt werden. Im Gegenteil.

Ich halte dieses Urteil für realitätsfern — sowohl was die Wahrnehmung von Marco Schreyl angeht, als auch die Selbstverständlichkeit von „Selbstverständlichkeiten“. Vielleicht liegt es daran, dass ich nicht in Köln lebe, aber auf mich als Fernsehzuschauer und Zeitungsleser wirkt Schreyl gerade nicht wie jemand, der entspannt mit seiner Homosexualität umgeht — und die Episode mit Bohlen vor einem Jahr ist ein drastisches Beispiel dafür. Wann, wenn nicht nach einer solchen öffentlichen Herausforderung, hätte man aus dem Schrank kommen und Sätze wie „Man hört ja da so einiges… Soll er mir seine Freundin mal zeigen“ ebenfalls öffentlich zurückweisen müssen? Nicht nur für sich selbst, sondern auch für die jungen schwulen Fans und Zuschauer, die glauben, sich ähnliches gefallen lassen zu müssen.

Vor allem aber widerlegt die heutige „Bild“-Zeitung Lückeraths hoffnungsvolle These von der Selbstverständlichkeit. „Bild“ fragt, wann RTL „den schlüpfrigen Schreyl“ rauswirft. Die Beispiele dafür, wie der Moderator lustig gemeinte Sätze sagt, die man auch als Anspielung auf sein Schwulsein verstehen kann, sind von erschütternder Harmlosigkeit im Kontext einer vollständig schamlosen Sendung.

Aufhänger ist eine Szene, in der die Tante einer Kandidatin Schreyl den Glücksbringer der Sängerin zeigt: ein Paar Kugeln („Moqui-Marbles“). Es entwickelt sich folgender Dialog:

Tante: Möchten Sie auch einen?
Moderator: Ja. Am besten zwei.
Tante: Ja, zwei sind es sowieso.
Moderator: Gut, guckenSe mal: Jetzt hab ich wieder zwei!
Tante: Liebevoll mit umgehen!
Moderator (lacht): Mache ich immer mit diesen Dingern, keine Frage.

„Bild“ nennt das einen „neuen Tiefpunkt“ in der Moderation und kommentiert:

Wieder so ein Schmier-Witzchen, das sich — wie fast alle — um Schreyls Sexualität dreht.

Sehen wir einmal davon ab, dass sich dieses „Witzchen“ gar nicht um Schreyl Sexualität dreht, wenn „Bild“ damit sein Schwulsein meint, sondern um das Verhältnis von Männern überhaupt zu ihren empfindlichsten Geschlechtsteilen.

Und sehen wir einmal davon ab, wie lächerlich es ist, wenn ausgerechnet die vor unbefriedigter Geilheit täglich berstende „Bild“-Zeitung, die jede Viertelbrustwarze, die irgendwo für eine Zehntelsekunde zu sehen ist, in Überlebensgröße als Gipfel der Erotik zelebriert, sich um die Unschuld der Jugend sorgt.

Der Artikel entlarvt die unterschwellige Homophobie des Blattes. Dieter Bohlen kommentiert regelmäßig die Auftritte kaum bekleideter Mädchen, die seine Enkelkinder sein könnten, als hätte er unter dem Jurypult eine Dauererektion. Schreyls Sprüche sind dagegen lachhaft. Ich bin der letzte, der eine Lanze für die Moderationen von Marco Schreyl brechen würde. Aber es ist unschwer zu erkennen, dass es hier nicht um eine Frage des Geschmacks geht, sondern um eine Frage von Gleichberechtigung und Akzeptanz. Oder genauer, um ihr Fehlen, um Diskriminierung.

Heterosexuelle Schlüpfrigkeiten werden beklatscht. Homosexuelle Schlüpfrigkeiten sind ein Entlassungsgrund. Schwule Sexualität ist immer noch eklig. Schwules Leben wird so als schambehaftet und minderwertig definiert.

Und dann ist da zwischen Zeilen noch der Mythos, dass junge Menschen in ihrer Sexualität verwirrt werden könnten, wenn Homosexualität als Normalität dargestellt wird. Konkret also etwa durch Moderatoren, die nicht nur schwul sind, sondern sich das auch noch anmerken lassen. Denkt denn niemand an die Kinder!, ruft „Bild“ da aus. Der heterosexuelle Moderator, der anzügliche Kommentare über das knappe Kleid seiner Assistentin macht, hat hingegen anscheinend keine jugendschutzrechtliche Relevanz.

Ich fürchte, es gibt viele Menschen, die von sich sagen würden, sie seien „tolerant“, was Homosexualität angeht. In Wahrheit akzeptieren sie nur, dass es Schwule gibt, und nicht, dass Schwule ihr Schwulsein auch in der Öffentlichkeit leben, wie es Heterosexuelle tun, und sei es mit anzüglichen Witzen. Ich glaube immer mehr, dass man diese Form von Schein-Toleranz, die schon ein Coming-Out als eine unangenehme Behelligung mit dem Intimleben eines Menschen empfinden, bekämpfen muss.

Insbesondere da es eine Bewegung gibt, die selbst die erreichten Fortschritte beim Ende der Diskriminierung von Homosexualität rückgängig zu machen droht. Sie tritt gerne unter dem Banner des Kampfes gegen das angebliche Diktat der „Political Correctness“ auf und tut so, als seien homophobe Witze ein Zeichen für Emanzipation und Gleichberechtigung.

In Extremform steht dafür aktuell der Kabarettist Serdar Somuncu, der gelegentlicher Gast in der n-tv-Pointenrevue „4 Gewinnt“ ist und dort Sätze sagt wie: „Ich finde Guido Westerwelle ekelhaft – der ist schwul und hat Narben im Gesicht.“ In seinem Programm im Internet lebt er seine ekelhaftesten Fantasien darüber aus, wie ekelhaft man Lesben finden könnte. Und das merkwürdige ist, dass es angesichts der Mode der „Political Incorrectness“ viel akzeptabler scheint, so jemanden als Gast wieder in eine Talkshow einzuladen, als zu fragen, ob das eigentlich nötig ist.

Der Schwulenwitz ist noch und wieder hoffähig. Der Witz eines Schwulen ist es nicht. Das ist der Stand der Dinge.