Autor: Stefan Niggemeier

„Ein Mädchen, das bei uns anfängt, ist auch wirkliche Anfängerin“: Wie RTL für Lolita-Prostitution wirbt

Ältere Männer, die jüngere Mädchen begehren, machen sich gut im Fernsehen. RTL 2 versucht zur Zeit, sich als gesellschaftlich verantwortungsvoll handelnder Sender darzustellen, indem er sie bei Kontaktversuchen im Internet in eine Falle lockt und dann eindringlich fragt, was sie sich eigentlich dabei denken. Halbschwestersender RTL macht derweil Lust auf „Lolita-Sex“ und wirbt für „Deutschlands erstes Teeny-Bordell“ (sic!).

Montag vor drei Wochen. Am späten Abend läuft „30 Minuten Deutschland“, eine Sendung der Produktionsfirma AZ Media, einem vermeintlich „unabhängigen“ Anbieter, dem RTL Sendezeit abgeben muss. AZ Media ist RTL freundschaftlich-geschäftlich verbunden; der Sender nennt die Reihe „Unser Reportage-Highlight“.

Dem Thema der Prostitution junger Frauen, die noch jünger aussehen, widmet sich diese Sendung wie folgt:

Sprecherin: In Köln wurde jetzt ein Bordell eröffnet, das sich mit seinem Angebot speziell an Liebhaber von Lolitas wendet.

Kunde Heinrich: Diese Mädchen, knackiger Körper, und die sind genau so versaut wie ’ne reife Frau. Das ist ja das Geile daran.

Sprecherin: Der 60-jährige Heinrich ist Stammgast in „Teeny-Land“, einem Bordell, das sich auf Liebhaber von Lolitas spezialisiert hat.

Wir sehen Heinrich im Gespräch mit der „Hausdame“ Sonja.

Heinrich: (…) Jetzt zieht es mich wieder hin zu den Teenies.

Sonja: So ist das schön.

Heinrich: Wer ist heut alles da?

Sonja: Heute ist da, die Ariella ist da, die Lucie ist da, die Micky ist da, viele Mädchen… Ich bring dir die Mädchen mal, und dann kannst du dich entscheiden. (…)

Die Mädchen kommen einzeln ins Zimmer und stellen sich Heinrich vor.

Sprecherin: Seit dem Tod seiner Frau vor zwei Jahren kommt Heinrich mindestens zwei Mal im Monat und sucht sich ein junges Mädchen aus. Allerdings erst nach ausführlicher Betrachtung des aktuellen Angebots. Die Bestellung nimmt Hausdame Sonja entgegen.

Sonja: Was für Dich dabei?

Heinrich: Super, ja. Wer die Wahl hat, hat die Qual. Die Arielle gefällt mir ziemlich gut. Die Lucy ist ne ganz süße. Und die Janine!

Sonja: Ja, die ist ganz süß. Ist ’ne ganz neue auch.

Heinrich: Ich will also ’ne Stunde. Und… französisch optimal, macht das auch die Lucy?

Sonja: Die Lucy macht das leider nicht.

Heinrich: Na, ich würde sagen, dann nehm ich die Janine.

Sonja: Okay, dann schick ich dir die Janine für ’ne Stunde. (…)

Sprecherin: Janine ist noch neu hier im „Teeny-Land“. Das Geschäft mit der bezahlten Liebe kennt die 20-jährige allerdings schon aus dem Effeff. Bis zu zehn Kunden erfüllt sich Tag für Tag fast alle Wünsche.

Janine: Hi, ist ja schön, dass du dich für mich entschieden hast.

Heinrich: Du bist ja ganz neu hier.

Janine: Ja.

Heinrich: Mir gefällt sowas. Wir werden ne geile Stunde verbringen, glaube mir.

Sprecherin: Für die Realschülerin ist der Sex mit dem 40 Jahre älteren Mann ein ganz normaler Job. (…) Mit ihren jugendlichen Körpern und einigen Tricks beim Make-up und der Kleiderwahl gelingt es Janine und ihren Kolleginnen, den zahlenden Kunden das Image der unschuldigen Lolita zu verkaufen. (…)

Janine: Die Mädchen sehen nicht aus wie über Zwanzig. (…) Jeder von uns hat noch ein bisschen die Teenie-Art.

Heinrich: Seit eh und je fühl ich mich hingezogen zu Teenie-Mädchen. (…)

Sprecherin: Der 60-jährige Kunde ist nicht der einzige Fan von jungen Mädchen. Die Idee vom „Teeny-Land“ wird von der Kundschaft honoriert. Betreiber Kaspar hat ständig neue Ideen für die Ausgestaltung seiner Räume.

Kaspar: Hier finden unsere klassischen Rollenspiele statt. Das bedeutet, Lehrer-Schüler-Geschichten, hauptsächlich. (…) Teilweise auch richtige Unterrichtsstunden.

Sprecherin: Die Klientel, die die Schulmädchen-Erotik bucht, ist bunt gemischt. Junge Männer sind die große Aufnahme, drei Viertel der Männer älter als 40.

Kaspar: (…) Im jungen Alter ist der normale Sex meistens hinreichend und ausreichend für die eigene Lustbefriedigung. Und mit zunehmendem Alter (…) experimentiert man mehr, entwickelt andere Fantasien, und irgendwann wollen die auch verwirklicht werden. (…)

Sprecherin: Die Frauen, die hier im Bordell arbeiten, sind zwischen 18 und 20 Jahre alt.

Kaspar: Ein Mädchen, das bei uns anfängt, ist in der Regel auch wirkliche Anfängerin. Ganz einfach aufgrund des Alters ist das meistens gar nicht anders möglich. Es gibt viele Mädchen, die warten gerade auf den Tag, wo sie 18 werden, um dann hier beruflich, ich sag’s jetzt einfach mal, Karriere zu machen. Wir sind im Endeffekt nichts anderes als ein anderer Betrieb auch. Es geht auch tatsächlich um viel Geld, das kann man offen so sagen, besonders für die Mädels.

Sprecherin: Im Schnitt kommen die Jungprostituierten auf mindestens 200 Euro pro Schicht. Kein schlechter Verdienst für die Mädchen, die oft weder Schulabschluss noch Ausbildung haben. Um diese kümmert sich einmal im Monat Bordellchef Kaspar persönlich.

Kaspar: (vor einer Schultafel, zu den Mädchen) Wer gut reden kann, muss weniger blasen. Ich sag auch ja immer, wer gut blasen kann, muss weniger (Wort überpiept). Aber es gilt auch andersrum: Wer gut reden kann, muss weniger blasen.

Nun ist es nicht so, dass der Film die Probleme dieser Leidenschaft für junge Mädchen völlig ausblendet. So lapidar, wie das Thema dann angeschnitten und gelöst wird, wünscht man sich allerdings, er hätte es getan.

Sprecherin: Dabei ist die Grenze zwischen der Faszination für frühreife junge Menschen und krimineller Pädophilie nicht immer leicht zu ziehen. Doch Pädophile kommen nicht in sein Bordell, da ist sich Betreiber Kaspar sicher.

Kaspar: Ich glaube, dass pädophile Gäste wir hier nicht haben. Es ist ein ganz großer Unterschied zwischen einer Lolita, einem jungen Mädchen, und einem Kind da. Die Mädels, die hier mit uns arbeiten, sind Frauen, körperlich Frauen. Das heißt, sie haben weibliche Reize, Brüste, Hüften, und so weiter und so fort. Und genau das ist es ja nicht, was einen Pädophilen reizt.

Das Bordell wirbt auf seiner Internetseite damit, die einzige Adresse Deutschlands „speziell für Teeny- mädchen und Freunde von Unbeschwertheit und Jugend“ zu sein: „Taucht ein in eine Welt der Kniestrümpfe, Zöpfchen, und der Freude an freier Sexualität. Im Teenyland legen die süssen Lolitas ihre Schulbücher beiseite und tauschen den Abiturstress gegen die wunderbare Möglichkeit ihre Sexualität zu entdecken, und Dinge auszuprobieren, die auf dem Pausenhof tabu sind. Hierfür benötigt man Lehrer, die wissen worauf es ankommt und nicht bloss Bücher wälzen können. Im Teenyland stehen Lust, Spass und Freude an der Sache im Vordergrund.“ Alle Mädchen hätten das achtzehnte Lebensjahr vollendet, „auch wenn es nicht immer so aussieht“.

Ob man als Mann, der Teenager begehrt und ihre Nähe sucht, in der RTL-Familie am Pranger landet oder in einem Werbefilm für ein „Teeny-Bordell“, ist offenbar nur eine Frage des Zufalls. Und in der Welt von AZ Media scheint die Prostitution für junge Mädchen ohne Ausbildung und mit Geldnöten eine ganz normale und sehr attraktive Möglichkeit der Berufswahl zu sein.

(via fernsehkritik.tv; Screenshots: RTL)

Breaking Bad

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Diese Serie ist eine Zumutung. Das fängt schon damit an, dass sie ihre Zuschauer konsequent im Unklaren lässt, um welches Genre es sich überhaupt handelt. Hat man sich gerade in dem wohligen Gefühl eingekuschelt, eine schwarze Komödie zu schauen, reißt sie einem mit schockierend ernsten Wendungen und einer grausamen Gnadenlosigkeit gegenüber ihren Figuren den Boden unter den Füßen weg. Andererseits lässt sie gerade in die düstersten Momente des Dramas gern Knalleffekte von unfassbarer Komik platzen.

Ungemütlich macht sie es dem Zuschauer aber auch in der Frage, wie er sich zu den Charakteren und ihren Entscheidungen verhalten soll. Natürlich fiebern wir mit der Hauptperson Walter White mit, einem biederen fünfzigjährigen Chemielehrer, der nach der Diagnose, unheilbar an Krebs erkrankt zu sein, beschließt, für seine Familie zu sorgen, indem er anfängt, im großen Stil die Droge Chrystal Meth zu produzieren. Aber gerade, wenn man es geschafft hat, die Schattenseiten dieses Geschäftes auszublenden, und aus Sympathie zu dem hoffnungslosen ewigen Verlierer wünscht, dass er nicht ertappt wird, führt uns die Handlung die Unhaltbarkeit dieser Position vor, das Elend, die Kriminalität, die Unmenschlichkeit, die diese Droge und der Handel mit ihr produzieren.

„Breaking Bad“ lockt sehr wirkungsvoll mit dem Reiz des Verbrechens, entpuppt sich aber als eine zutiefst moralische Serie, welche die Charaktere mit ihren Selbsttäuschungen, unter bestimmten Bedingungen das Falsche tun zu dürfen, nicht davonkommen lässt. Nur mal ein bisschen Drogen produzieren, in einer persönlichen Notsituation und mit besten Absichten, ist keine Option. Die Figuren geraten in einen Sog, der sie zu immer auswegloseren Entscheidungen zwischen zwei Übeln zwingt, Entscheidungen auf Leben und Tod. Den ersten Menschen hat der brave Walter White schon in der ersten Folge auf dem Gewissen. Danach gibt es kein Zurück. „Breaking Bad“ zeigt uns den Absturz des Walter White, der gleichzeitig eine Befreiung ist. Eine Befreiung aus einem bürgerlichen Alltag voller Routine, Kleinmut und Vernunft, Demütigungen und Zumutungen, symbolisiert schon durch das Auto, das White fährt: einen unförmigen, plastikhaften Pontiac Aztek, schrecklich praktisch und uncool bis weit über die Grenze der Lächerlichkeit hinaus. Als Chemielehrer ist sein Talent verschwendet, die Schüler dämmern vor sich hin, als Drogenproduzent aber kann White seine Genialität zeigen, wird respektiert und schließlich gefürchtet.

„Breaking Bad“ ist eine dieser phänomenalen amerikanischen Serien mit fortlaufender Handlung, die seit einigen Jahren weltweit Furore machen und das Genre zu neuen Höhen und nie geahnten Tiefen geführt haben. Sie stammt nicht von einem der großen Networks oder dem Pay-TV-Kanal HBO, sondern von dem kleinen Kabelkanal AMC, der auch „Mad Men“ in Auftrag gegeben hat und ursprünglich bloß Filme wiederholt hatte. Kreativer Kopf hinter „Breaking Bad“ ist Vince Gilligan, der viele Folgen von „Akte X“ geschrieben und produziert hat.

Das Wichtigste an Figuren, sagt er, sei ihre „Relatability“, das Maß, in dem wir uns in sie hineinversetzen, ihre Hoffnungen und Träume nachvollziehen können. Walter White ist ohne Zweifel eine solche Figur, gespielt von Bryan Cranston, den deutsche Fernsehzuschauer aus seiner Rolle des Vaters in der Sitcom „Malcolm mittendrin“ kennen und der für seine beklemmende Darstellung in „Breaking Bad“ schon drei Emmy-Auszeichnungen in Folge bekommen hat. Am Anfang, sagt Autor Gilligan gegenüber einer kanadischen Nachrichtenseite, hatte er das Gefühl, diesen Walter White zu kontrollieren, ihm Wörter in den Mund zu legen. Aber je weiter sich die Show entwickelte, je mehr Grenzen White überschritt, umso mehr hatte er das Gefühl, dass White ein Eigenleben entwickelte und ihm das Drehbuch diktierte. Die Figur, die er erfunden hatte, erkannte er nicht mehr wieder in dem, was aus ihr geworden war. Dem Zuschauer ergeht es auf eine beklemmend-faszinierende Weise ähnlich.

Ernst Elitz, ein Ausrufezeichen gegen Muslime

Ernst Elitz sieht nicht aus wie ein Hetzer, er wirkt nicht wie ein Provokateur oder ein Politclown wie Henryk M. Broder. Er kommt in der Rolle eines Elder Statesman daher. Wenn er mal wieder einen Kommentar für die „Bild“-Zeitung schreibt, macht das Blatt hinter seinen Namen ein Sternchen und erklärt: „Prof. Ernst Elitz ist Gründungsintendant des Deutschlandradios“.

Elitz schreibt ziemlich häufig Kommentare für die „Bild“-Zeitung. Manchmal wirkt es, als hätte er in seinem früheren Berufsleben, als Moderator des „heute journals“, als Chefredakteur des Süddeutschen Rundfunks, als Intendant des Deutschlandradios, nicht genügend Ausrufezeichen setzen dürfen und versuche jetzt, in Jahrzehnten Versäumtes in wenigen Monaten aufzuholen. Seine „Bild“-Kommentare tragen Überschriften wie „Helfen statt jammern!“, „Setzen, Sechs!“, „Sperren UND löschen!“, „4 deutsche Soldaten tot! Rückzug wäre Flucht!“, „Aufschwung!“, „Vom Fußball lernen!“, „Schützt die Opfer, nicht die Verbrecher!“, „Nicht am Sessel kleben!“, „Abregen, anpacken!“, „Mit Sarrazin fliegt die Wahrheit raus!“ und „Schäbig, Herr Sarkozy!“

Er hat, trotz der Jahrzehnte in öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, den „Bild“-Sound gut drauf, schafft es, dem berüchtigten Gesunden Menschenverstand und der dröhnend schweigenden Mehrheit eine Stimme zu geben und kann beim Wetteinrennen offener Türen mithalten. Er findet, „dass die Bekämpfung der Gewalt auf den Straßen“ wichtiger sein müsste als das „Abkassieren braver Bürger im Parkverbot“. Er wischt die Sorge um den Missbrauch von Zensurstrukturen, die vorgeblich dem Kampf gegen Kinderpornographie dienen sollen, mit dem Satz weg: „Wer das sagt, hat kein Herz.“ Er behauptet, es sei ein Menschenrecht, sich nicht davor fürchten zu müssen, vergewaltigt zu werden.

Elitz erledigt auch gerne Auftragsarbeiten, so dass der „Bild“-Chefredakteur nicht selbst schreiben muss, sondern es sich vom „Gündungsintendanten des Deutschlandradios“ bestätigen lassen kann: dass ein juristischer Sieg für „Bild“ nichts weniger ist als ein „Sieg für die Pressefreiheit“, dass die Griechenland-Hetze der „Bild“-Zeitung „keine Griechenland-Hetze“ ist, dass die sensationsheischende Abbildung Fotos verkohlter Opfer eines Flugzeugunglücks auf der „Bild“-Titelseite, die vom Presserat gerügt wurde, „akzeptabel“ sei. „Bild“ hat Elitz in den vergangenen Jahren sieben Mal zum „Gewinner“ des Tages gekürt.

Mir ist schon der sich als kluge Analyse tarnende biedere Populismus von Elitz suspekt. Aber dahinter steckt auch eine gefährliche Radikalität, besonders beim Thema Integration. Über die SPD schrieb er: „Wenn Sarrazin rausfliegt, fliegt die Wahrheit aus der Partei. Dann ist die SPD keine Volkspartei mehr.“ Und:

Die SPD will die Partei der kleinen Leute sein. Die leben nicht in feinen Vierteln. Die haben Angst vor kriminellen Araber-Banden, vor Pöbeleien: „Scheiß Deutscher!“ Sie wollen nicht, dass Ausländerkinder mit Drogen dealen und die Eltern Hartz IV kassieren.

Das ist womöglich alles richtig und dennoch gefährlicher Unsinn. Haben die „kleinen Leute“ weniger Angst vor kriminellen Deutschen-Banden? Wollen sie, dass die Ausländerkinder das Drogendealen und die Ausländereltern das Sozialschmarotzen den Deutschen überlassen?

Oder kann es sein, dass der „Gründungsintendant des Deutschlandradios“ tatsächlich nicht einmal sehr subtil suggeriert, dass es ohne Ausländer keine Banden-, Drogen-, Sozialmissbrauch-Probleme gebe?

(Im nächsten Absatz schreibt Elitz: „Millionen Ausländer wollen, dass ihre Kinder gutes Deutsch und kein Multikulti-Kauderwelsch in den Schulen lernen. Sie wollen einen Staat, der nicht von Frechen und Faulen ausgenutzt wird. Das hat Sarrazin ausgesprochen.“ Das hat Sarrazin ausgesprochen? Wirklich?)

Eine Woche zuvor hatte Elitz in „Bild“ über Sarrazin schon geschrieben, er sage „unverblümt viele Wahrheiten“ über Deutschland, und diese „Wahrheiten“ so zusammengefasst: „Zu viele Kopftücher, zu viel Hartz IV, zu wenig Leistung.“ Er fügte hinzu: „Wer hier lebt, muss Zwangsheiraten ächten und muslimischen Männern und Frauen in Familie und Moschee die gleichen Rechte zugestehen.“ — Katholischen Männern und Frauen in der katholischen Kirche die gleichen Rechte zuzugestehen, ist offensichtlich optional.

Heute nun betätigt er sich an gleicher Stelle noch einmal als Türsteher Deutschlands. Er schreibt:

Rund vier Millionen Muslime leben bei uns. Aber zwischen „hier sein“ und wirklich „dazugehören“ klafft ein Unterschied — himmelweit.

Nun gehören zum „Dazugehören“ eigentlich immer zwei Seiten. Jemanden, der dazugehören will, und andere, die ihn dazugehören lassen. Bei Elitz geht es aber nur um eine Seite:

Den Frieden schändet, wer Hassvideos verteilt und zum Heiligen Krieg aufruft.

Wer das tut, verletzt das Vertrauen zwischen Deutschen und ihren muslimischen Nachbarn, die das Grundgesetz achten und die dazugehören.

Das ist eine verräterische Formulierung: Dass die muslimischen Nachbarn auch Deutsche sind oder sein können, ist nicht vorgesehen. (Elitz ist damit nicht allein. Ein früherer Kollege, der MDR-Intendant Udo Reiter, hat seine eigene bestürzende Beschränktheit zu demselben Thema gerade erst eindrucksvoll demonstriert.)

Das ist aber auch eine ungewöhnliche Formulierung: Ein militanter Islamist verletzt das Vertrauen zwischen Deutschen und braven Moslems? Was bedeutet das? Dass ich mir Sorgen mache um den türkischen Gemüsehändler an der Ecke, wenn sich irgendwelche Terroristen auf den Islam berufen? Dass man es den „Deutschen“ nicht vorwerfen kann, wenn sie pauschal jedem Moslem misstrauen, auch dem scheinbar netten Nachbarn, weil es ja auch Moslems sind, die die unsere Kultur mit Gewalt vernichten wollen? Das ist ja praktisch.

Elitz fordert:

Integration braucht nicht nur feierliche, sondern auch deutliche Worte:

Wer in deutschen Moscheen betet, muss sich für den Bau christlicher Kirchen auch dort einsetzen, wo bisher nur Minarette erlaubt sind. Wer den Koran in der U-Bahn liest, muss dafür kämpfen, dass in islamischen Staaten der Verkauf von Bibeln und der Übertritt zum christlichen Glauben erlaubt wird.

Das verlangt schon die Fairness.

Das ist die Hürde, die der Gründungsintendant des Deutschlandradios aufbaut, damit ein Ausländer oder ein Moslem „bei uns dazugehören“ darf. Es reicht nicht, dass er selbst tolerant ist, er muss auch dafür sorgen, dass andere tolerant sind. Elitz gewährt das Recht, in einer deutschen Moschee zu beten, nicht einfach so. Er verbindet es mit einer Pflicht. Nicht einmal in der U-Bahn im Koran lesen darf jeder in dem Land, das Elitz als sein Land begreift, und das Ärgerlichste daran ist, dass er sich mit den Bedingungen, die er zum öffentlichen Koran-Lesern aufstellt, auch noch ausdrücklich als Verteidiger des Grundgesetzes geriert.

Es genügt Elitz nicht, wenn ein Moslem vielleicht die religiöse Freiheit, die in diesem Land herrscht und durch das Grundgesetz garantiert wird, zu schätzen lernt, gerade auch als Kontrast zum Fehlen dieser Freiheit in islamischen Ländern. Er fordert von diesem Moslem auch noch, in einem anderen Land zu kämpfen — dass dieses andere Land womöglich für ihn ein fremdes Land ist, weil er zwar Moslem ist, aber hier geboren, Deutscher gar, das kommt Elitz natürlich nicht in den Sinn. Moslems sind für ihn Ausländer.

Und das alles unter dem Banner der „Integration“: Die Menschen sollen sich hier integrieren (und das bedeutet konsequenterweise auch: sich als Deutsche fühlen), indem sie für den gesellschaftlichen Fortschritt in anderen Ländern sorgen?

„Das verlangt schon die Fairness“, schreibt Elitz. Das ist eine Variante von Broders Forderung, bestimmte Rechte für Muslime bei uns auszusetzen, bis sie in moslemischen Ländern für Nicht-Muslime gelten: Moscheen dürfen hier („bei uns“) erst dann gebaut werden, wenn in der Türkei, Ägypten und Pakistan Kirchen gebaut werden dürfen. Claudius Seidl hat das eine „Selbsterniedrigung aufs Niveau orientalischer Verhältnisse“ und einen „Rassismus, der sich seiner selbst nur nicht bewusst ist“ genannt.

Aber bei Broder ist es in seiner Plakativität wenigstens eine Pointe und im Zweifel, wer weiß es, nicht wörtlich, sondern nur als Denkanstoß gedacht. Bei Elitz, dem Gründungsintendanten des Deutschlandradios, wird daraus eine Forderung an jeden einzelnen praktizierenden Moslem in Deutschland — und eine Ausgrenzung unter dem Mantel vorgeblich angestrebter Integration.

Falsche Freunde

Es ist, um das gleich zuzugeben und nicht koketter zu wirken als unvermeidlich, natürlich schmeichelhaft, bei der Geburtstagsfeier einer Journalisten-Akademie zu sein und gleich von zwei Rednern als positives Beispiel erwähnt zu werden. Und selbst wenn einer der beiden Bernd Neumann ist, freut man sich für einen Moment, dass man da wohl etwas richtig gemacht hat, bevor man sich fragt, was man da wohl falsch gemacht hat.

Aber vor allem fühle ich mich missbraucht. Weil hinter dem Lob in Wahrheit keine Anerkennung für meine Arbeit steckt, sondern die Absicht, viele andere zu diskreditieren.

Der Kulturstaatsminister Bernd Neumann sagte:

Wo Informationen endlos vervielfältigt und uneingeschränkt verfügbar sind, wird die Frage immer drängender, auf welche Informationen es ankommt und welches Wissen man für seine Lebensorientierung tatsächlich benötigt. Apologeten der reinen Netzwelt haben auf diese Frage eine systemimmanente Antwort. Unabhängige Blogger und kollektive Schwarmintelligenz sollen professionellen Journalismus zumindest zu weiten Teilen ersetzen. Daran dürften allerdings doch erhebliche Zweifel anzubringen sein.

Der altruistisch souveräne Blogger ist und bleibt – zumindest noch – eine singuläre Erscheinung. Ein Wassertropfen im Ozean des Netzes. Die Intelligenz der vielen mag zwar manches Interessante und Wichtige hervorbringen; ein stets verlässlicher Gradmesser für Relevanz und Validität von Informationen und Bewertungen ist sie aber nach den bisherigen Erkenntnissen zweifellos nicht. (…)

Im soeben veröffentlichten Gutachten von Christoph Neuberger und Frank Lobigs über „Die Bedeutung des Internets im Rahmen der Vielfaltssicherung“ heißt er hierzu kurz und bündig: „Trotz der positiven Selbsteinschätzung der Blogger dürfte die publizistische Leistungsfähigkeit partizipativer Angebote eher gering sein.“ Natürlich gibt es auch bemerkenswerte Ausnahmen. Der heute hier anwesende und mit vielen Auszeichnungen bedachte Stefan Niggemeier gehört dazu. Als profilierter Medienkritiker hat er es mit seinem Blog geschafft, nicht nur die Fachwelt, sondern auch eine Vielzahl von anderen Nutzern anzusprechen. Aber er ist ja auch gelernter Printmedienjournalist. Die Ausbildung zum Printjournalisten ist für mich immer noch so etwas wie die hohe Schule des Journalismus.

Neumann lobt mich als Ausnahme, um die Regel der fehlenden „Leistungsfähigkeit“ von Blogs zu bestätigen, und schafft es sogar, in dem Erfolg dieses Online-Angebotes einen Beweis für die Überlegenheit von Print-Journalismus zu sehen. Was für ein Unsinn, was für ein vergiftetes Lob. Ich habe nicht Print-Journalismus gelernt, sondern Journalismus. Was soll das überhaupt sein, „Print-Journalismus“? Und was würde eine Ausbildung zum „Onlinejournalisten“, falls es das gibt, minderwertig machen? Dass die Texte nicht auf Papier gedruckt werden? Dass der Autor in viel stärkerem Maße erfährt, welche Resonanz seine Texte haben? Oder doch nur, dass seine Artikel nicht von Kulturstaatsministern gelesen werden, weil für die, natürlich, nur zählt, was in der Zeitung steht?

Ich kann nicht glauben, dass man das im Jahr 2010 immer noch hinschreiben muss: Der Print-Journalismus ist dem Online-Journalismus nur insofern überlegen, als der Print-Journalismus jahrzehntelang ein lukratives Geschäftsmodell hatte, das dafür sorgte, dass Redaktionen gut ausgestattet wurden und sich relative hohe Standards entwickeln konnten. Dass auf sueddeutsche.de oder „Welt Online“ Artikel stehen, die es nie in die gedruckte „Süddeutsche Zeitung“ oder „Welt“ schaffen würden, hat nichts mit dem Medium an sich zu tun, sondern allein damit, wie es die Verlage behandeln. Online, glauben sie, muss es nicht so gut sein, weil online ja auch nicht so viel Geld verdient wird. Das „weil“ in diesem Satz ist sinnlos, aber Realität.

Der andere Redner, der mich am Montag bei der Feier zum 40. Geburtstag der „Akademie für Publizistik“ in Hamburg erwähnte, war der scheidende Chefredakteur der „Süddeutschen Zeitung“, Hans Werner Kilz. Er sagte:

Mir geht die Verzagtheit der Journalisten, wenn sie über ihre eigene Zukunft reden, ziemlich auf den Geist. Journalisten reden sehr gerne über ihre eigene Befindlichkeit, sie teilen leichter aus, als sie einstecken, und obwohl sie ständig Ratschläge geben, wie in notleidenden Branchen umstrukturiert und dezentralisiert werden muss, fühlen sich Journalisten, wenn es um sie selber geht, von allem bedroht, was nach Veränderung aussieht, sei es das Internet, ein Newsroom, das iPad oder Free Content. (…)

Bei einigen Blogger-Auftritten – Stefan Niggemeier, ich meine natürlich nicht Sie, Sie schätze ich – aber bei einigen Blogger-Auftritten mitteilsamer Kollegen habe ich das Gefühl, dass es der Therapeut war, der empfohlen hat, via Bildschirm-Präsenz das verkümmerte Ego zu stärken, und was medizinisch geboten sein mag, muss uns journalistisch noch lange nicht weiterbringen. Nein, ich glaube, das Netz wird die klassische Zeitung nicht killen.

Auch Kilz benutzte mich, um umso ungenierter auf andere Blogger einzuprügeln – und wenn ich nicht da gewesen wäre, hätte er vermutlich den Einschub weggelassen und das Bloggen insgesamt als rein therapeutische Beschäftigung für Menschen mit gestörtem Selbstwertgefühl dargestellt, sicher unter dem zustimmenden Nicken von Herrn Neumann. Was für eine Anmaßung.

Ich hatte leider keine Gelegenheit, Kilz hinterher zu fragen, wie viele Blogs (außer angeblich meinem) er kennt, ob er, um nur die bekanntesten zu nennen, die klugen Einwürfe von Udo Vetter liest, die manchmal anstrengenden, gewollt gegen den Strich gebürsteten, aber oft lesenswerten politischen Analysen des „Spiegelfechters“, die beißenden Pharma-Kritiken von „Stationäre Aufnahme“, die Enthüllungen von „Carta“ oder „Netzpolitik“ oder auch nur eines der vielen Blogs, die sich mit den neuen Medien und wie sie unser Leben verändern beschäftigen.

Kilz sagte:

Die Zeitung bleibt die Zeitung, und die Zeitung im Netz ist keine Ergänzung, kein Abfallprodukt und kein Resteverwerter. Es ist ein separates Geschäft und eine völlig eigene Form von Nachrichtenjournalismus. Die Zeitungen haben sich über Jahrzehnte ihre Authentizität erworben, ihren Ruf und ihre Attraktivität. (…)

Die Zeitungen im Netz müssen erst noch lernen, auf eigenen Füßen zustehen, sich die Marke und dazu das Geld verdienen. Die Websites leben bis jetzt weitgehend von den Zeitungsredaktionen, von Auslandsreportern, von unseren Autoren aus der Wissenschaft und aus dem Feuilleton und von investigativ arbeitenden Reportern. 85 Prozent aller Nachrichten, die ins Netz kommen, gehen auf Recherchen von Zeitungsjournalisten zurück. Man muss sich also nicht also als Nostalgiker verhöhnen lassen, wenn man versucht, wie ich hier, die klassische Tageszeitung zu verteidigen. Selbst wenn die Online-Angebote genug Geld einbringen würden, um alles allein produzieren und auch senden zu können, ist doch eines klar: Der Nachrichtenjournalismus im Netz wird nie so in die Tiefe gehen oder den investigativen Journalismus gar ersetzen zu können.

Und Äpfel werden nie Birnen sein.

Man möchte über solche Beiträge ja schon gar nicht mehr diskutieren, aber da ist tatsächlich ein hoch angesehener, führender Journalist dieses Landes, der auch im Jahr 2010 nicht merkt, dass ihm in seinem Vergleich die Kategorien verrutscht sind. Hätte Kilz gesagt: „Comics im Netz werden nie Romane in Buchform ersetzen können“, wäre er ausgelacht worden. Aber wenn es ums Internet geht, lässt man den Leuten das durchgehen, dass sie das Medium mit dem Genre verwechseln.

Eines ist, um die Formulierung von Kilz aufzugreifen, eben nicht klar: Warum Journalismus in digitaler Form nicht genauso, nein: viel mehr in die Tiefe gehen können soll wie auf Papier gedruckt. Und warum investigative Recherchen eine Domäne des Print-Journalismus bleiben soll. Richtig ist: Bislang ermöglicht das Geschäftsmodell der Zeitungen lange, gründliche Recherchen. Richtig ist aber auch: Dieses Geschäftsmodell ist akut bedroht, weil die Menschen und die Werbung ins Internet gehen.

Und wir können doch nach all den Jahren der fruchtlosen Diskussion nicht immer noch suggerieren, dass Qualitätsjournalismus und Onlinejournalismus Gegensätze sind oder wenigstens – jenseits der real existierenden Angebote wie sueddeutsche.de – sein müssten. Ich fürchte, Kilz hat keine Ahnung, wie sehr er mit seiner Rede junge Leute frustiert, die sagen: Ich will gar keinen Print-Journalismus machen oder Online-Journalismus. Ich will guten Journalismus machen, egal in welcher Mediengattung oder genau in der, die für ein Thema, eine bestimmte Aufbereitung besonders geeignet ist.

Noch einmal Kilz:

Der Qualitätsjournalismus ist nicht nur im Niedergang begriffen, sagt der britische Reporter und Buchautor Nick Davies, er liegt bereits in den letzten Zügen. Das mag in England, auch in Amerika so sein. Es wäre schlimm, wenn es in Deutschland auch so wäre. Ist es aber nicht.

Ich kann jedem nur dringend Nick Davies‘ Buch „Flat Earth News“ empfehlen. Anders als Kilz hatte beim Lesen ich nicht das Gefühl: Zum Glück ist das bei uns noch nicht so weit, mit dem Churnalism, mit dem Abbau von Kompetenzen in den Redaktionen, mit dem blinden Vertrauen auf Nachrichtenagenturen, mit Boulevardmedien als Leitmedien, mit dem zunehmenden Ungleichgewicht zwischen PR, Lobbyisten und gezielten Manipulatoren auf der einen Seite und Journalisten auf der anderen. Ich hatte beim Lesen im Gegenteil das Gefühl: Bei uns ist es ganz genauso. Und einen winzigen Teil der Abgründe dokumentieren wir jeden Tag auf BILDblog.

Ich habe eine Bitte, liebe Kulturstaatsminister, Chefredakteure und Apologeten der reinen Print-Welt. Wenn Ihr die neuen Publikationsformen im Internet verächtlich macht, die Qualität von Journalismus an dem Medium messt, in dem er stattfindet und die ewige Überlegenheit von Papier beschwört, könntet Ihr darauf verzichten, mich zu erwähnen und zu einer Ausnahme der Regel und damit einer Art paradoxem Kronzeugen für Eure Thesen zu stilisieren? Vielen Dank!

Mit Googles Riesenfröschen durch Raum & Zeit

Kann es sein, dass es einen heimlichen Journalistenwettbewerb um den abwegigsten Zeitungsartikel über Google Street View gibt? Falls ja, ist die „Welt“ am vergangenen Samstag uneinholbar in Führung gegangen.

Feuilletonkorrespondent Paul Jandl hat etwas entdeckt, das Google Street View noch kaputt macht (außer allem anderen): die Literatur. Nämlich dadurch, dass man sich jetzt die realen Schauplätze großer Romane einfach im Internet angucken kann und dabei feststellt, dass es sich in Wirklichkeit um schnöde Orte handelt.

Montauk, zum Beispiel, ist auf Street View nur ein Ort, „Montauk“ bei Max Frisch hingegen ein Sehnsuchtsort. Jandl schreibt:

Die autobiografische Erzählung ist Literatur mit Schauplatz. Google ist bloßer Schauplatz. Ohne Aura, reine Plattheit! Will man rufen und Datenschutz fordern.

Ich will rufen: Was haben Sie denn gedacht? Das eine ist ein realer Ort, das andere seine literarische Überhöhung. Wäre beides dasselbe, würden die Menschen Ansichtskarten sammeln statt Bücher zu lesen. Und wenn Sie das nicht sehen wollen, will ich weiter rufen, wenn Sie sich das Bild von Montauk bewahren wollen, das Max Frisch in Ihnen geweckt hat, dann gehen Sie doch einfach nicht auf Google Street View, statt es gleich verbieten zu wollen.

Vielleicht ist Paul Jandl jemand, der abends verzweifelt zu seiner Frau sagt: „Verdammt, Schatz, Bauer hat einen neuen Fruchtjoghurt mit Kirsch-Kiwi-Geschmack rausgebracht, jetzt muss ich den auch noch essen.“ Vielleicht macht er den Kurzschluss aber auch nur im Internet, dass er jedes neue Angebot nicht als Angebot, sondern als Pflicht wahrnimmt.

Jandl meint ernsthaft, dass Google Street View nicht nur den Literaturgenuss von ihm, den Zwangs-Google-Street-View-Nutzer, bedroht, sondern die Literatur an sich. Er schreibt: „Solange der Streit um Street View dauert, ist die Literatur noch halbwegs aus dem Schneider.“ Und dann formuliert er diesen Satz:

(…) die topografische Wahrheit des Unternehmens Google Street View ist auch ein Eingriff in die Privatsphäre der Literatur.

Das ist in einem Maße prätentiöser Unsinn, in sprachlicher wie in logischer Hinsicht, dass es schwer fällt, sich damit überhaupt auseinanderzusetzen, weshalb ich einfach darauf verzichte.

Jandl fährt fort:

Will der Leser denn wirklich wissen, wie die Froschperspektive der Google-Kameras Joyces Dublin sieht?

Gute Frage, deren Antwort vermutlich seine ganze Kolumne überflüssig machen würde. Andere Frage: Wo fände der Leser, der Joyces Dublin sehen wollte, auf Google Street View Aufnahmen der irischen Stadt von der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts? Und was ist das für ein drei Meter großer Frosch?

Am Ende kommt Marcel Proust zu Wort:

„Hätten meine Eltern mir erlaubt, den Schauplatz eines Buches, das ich las, selber aufzusuchen, so hätte das meiner Meinung nach einen unschätzbaren Fortschritt in der Eroberung der Wahrheit bedeutet.“

Warum Jandl diesen Satz zitiert, ist unklar, denn dem „Welt“-Journalisten geht es ja nicht um die Eroberung der Wahrheit, sondern die Bewahrung der Fiktion. Aber Proust war, wenn ich Jandl richtig verstehe, ein glücklicher Mensch, weil er in einer Zeit lebte, als es das noch nicht gab, was er sich wünschte. Er wusste nicht, „was auf die Welt noch zukommt“.

Und aus der „Welt“, möchte ich hinzufügen.

Peter Hahne ist gegen Kinderpornographie und lästige Details

Peter Hahne ist nicht unbedingt der Mann, den man sich in der ersten Reihe eines Mobs vorstellt, wie er mit der Mistgabel droht. Ich sehe ihn eher so am Ende der Menge, wie er wütend die Faust schüttelt, die aufgebrachten Menschen mit seiner Forke anstachelt und dabei mit schriller Stimme Sätze ruft wie: „Denkt denn keiner an die Kinder?“, „Wo kämen wir da hin!“, „Das lassen wir uns nicht mehr bieten!“ oder: „Warum tut denn keiner was?!“

Irgendjemand muss zum Beispiel jetzt endlich mal irgendwas gegen diese ganze Kinderpornographie im Internet tun. Peter Hahne findet, sowas müsste verboten sein. Gut, es ist verboten, aber das ist ja nicht der Punkt. Es soll weg sein. Sofort.

Peter Hahne ist für Netzsperren, wie sie die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen im vergangenen Jahr durchsetzen wollte, die aber aufgrund erheblicher Bedenken, was ihre Wirksamkeit und ihre Verfassungsmäßigkeit angeht, vorerst nicht verwirklicht wurden. Aber schon das Wort „Netzsperren“ geht dem ZDF-Mann Peter Hahne nicht über die Lippen. Er sagt stattdessen:

Und der Staat muss auch handeln, kann auch handeln in Sachen Eingriff in das Internet. Also Verbot. Ursula von der Leyen hat das ja versucht, im letzten Jahr, 2009, hat gesagt, wir verbieten das einfach im Internet. Das hat sich irgendwie nicht so verwirklichen lassen. Und jetzt hat man so einen typisch faulen Kompromiss gemacht. Wir schauen uns das erstmal ein Jahr an, ob das auch freiwillig geht und dann müssen wir vielleicht eingreifen.

So spricht ein Mann, der bis vor kurzem in leitender Position beim ZDF war und jetzt eine eigene Talkshow hat.

Ich glaube nicht, dass es ein Versehen war, Ausdruck bloßer Unkonzentriertheit, die Hahne jede konkrete Formulierung vermeiden und sich in Sätze wie „Das hat sich irgendwie nicht so verwirklichen lassen“ flüchten ließ. Die ganze Sendung zum Thema Kindesmissbrauch, die er am heutigen Sonntag ausstrahlte, war geprägt von dem Versuch, jede auf Argumente oder Tatsachen gestützte Auseinandersetzung zu vermeiden und allein an das Gefühl der Zuschauer zu appellieren, dass da Kinder missbraucht werden, und keiner tut was.

Von der ersten Sekunde an sprach er die Zuschauer allein auf dieser Ebene an. Mühsam unterdrückte er sein übliches Grinsen, während er in die Kamera fragte:

Geht es Ihnen auch so, dass Sie erschüttert sind, wenn Kinder tot aufgefunden und missbraucht worden sind?

Nein, rufen wir da natürlich alle im Chor, uns lässt das völlig kalt.

Der Satz ist scheinbar sinnlos und unnötig, in Wahrheit aber setzte Hahne mit ihm schon die Grundlage für die Logik der ganzen Sendung: Wer auch erschüttert ist, muss seine bildliche Mistgabel aus dem Schuppen holen und fäusteschüttelnd die Politik auffordern, irgendetwas, nein: alles Mögliche, nein: alles zu tun.

Peter Hahne hatte in seiner Sonntags-Talkshow „Peter Hahne“ Stephanie zu Guttenberg zu Gast, die Präsidentin des Vereins „Innocence in Danger“, der gegen Kinderpornographie kämpft, und Ehefrau des Verteidigungsministers, die gerade ein Buch zum Thema Kindesmissbrauch geschrieben hat. Kindesmissbrauch ist laut „Peter Hahne“ ein Tabuthema:

– vermutlich in dem aus der Sarrazin-Diskussion bekannten Sinne, dass ununterbrochen darüber geredet wird. Die Zahlen, die Frau Guttenberg zum Thema Kinderpornographie im Internet nannte, waren jedenfalls dieselben, die die frühere Familienministerin von der Leyen schon genannt hatte, als sie das Thema publikumswirksam für sich entdeckte.

Man darf sicher nicht zuviel in den begrenzt variablen Gesichtsausdruck von Peter Hahne interpretieren, aber es schien doch, als sitze Frau Guttenberg ein glühender Fan gegenüber, ein Verehrer. Er hatte aus seiner Sendung eine Werbesendung für ihr Buch, ihr Anliegen, sie selbst gemacht, nickte eifrig und, nun ja, grinste. Er hatte keine kritischen Nachfragen, als sie behauptete, dass das Geschäft mit Kinderpornographie ein „lukratives Geschäft“ sei, obwohl viel dagegen spricht. Und er schaffte es, auf ganz eigene Art das Internet als Wurzel allen Übels auszumachen. Dass sich Pädophile zum Beispiel so leicht an Kinder ranmachen können, liegt daran, dass die „keine Briefe und Postkarten mehr schreiben; es geht alles über Chat“. Postkarten! Und ein anscheinend gefährliches Vorbild wie Lady Gaga beschrieb Hahne als „eine Frau, die von vielen Kindern und Jugendlichen angeklickt wird im Internet“. (Sie bei „Wetten dass“ zu sehen, ist offenbar ungefährlich.)

Doch zurück zu den Netzsperren. Hahnes wirrer Dialog mit Guttenberg muss für Laien komplett unverständlich gewesen sein, und enthielt doch eine klare Botschaft. „Sie waren ja für die harte Lösung“, rief er Guttenberg zu und ergänzte selbst: „Die wäre ja auch konsequenter.“ (Die „harte Lösung“ ist, nur zur Erinnerung, das Aufstellen von Stopp-Schildern vor kinderpornographischen Seiten, die selbst aber erhalten und mit Tricks zugänglich bleiben. Stattdessen versucht man nun, sie zu löschen.)

Nun ist Hahne beim „Man muss aber doch was tun“, was konkret bei ihm lautet „Aber ohnmächtig geschlagen geben möchte man sich ja nicht“. Und weil ihn Argumente ohnehin nicht interessieren, begibt er sich in die Rolle des kleinen Peterchens, der zu der berühmten Tante sagt, dass sie doch supereinflussreich ist und diesen tollen Mann habe, der noch superereinflussreich ist, und da doch mehr machen kann als, sagen wir, Peter Hahne, dem nur das Fäusteschütteln bleibt:

Ihr Mann hat ja auch mal gesagt: Also meine Frau mischt sich da ganz schön auch mal ein. Sie haben ja viel mit Politikern zu tun, nicht nur zu hause mit ihrem Mann. Sagen Sie da auch mal, “Mensch, ihr müsst euch darum kümmern!”, auch was die Gesetze angeht? (…) Aber Frau Schröder, da müssen Sie doch jetzt – Sie haben doch schon ’n bisschen Einfluss – sagen: „Ich stehe hier gerade als Frau eines prominenten Politikers, die auch sehr engagiert ist in diesem Thema. Ich setze das jetzt auf die Schiene. Frau von der Leyen, machen Sie das. Frau Schröder jetzt.“

Er hat, wie gesagt, das Wort Netzsperren nie erwähnt, und zu diesem Zeitpunkt ist längst nicht mehr klar, was Frau Guttenberg denn genau zu Frau Schröder sagen soll. Hahne würde es reichen, wenn irgendetwas geschähe, das den Eindruck erweckte, dass irgendetwas geschehe. Dass es vielleicht gar nicht an fehlendem Druck von Frau Guttenberg liegt oder an fehlendem Willen von Frau Schröder, sondern an etwas, das sich „Koalitionspartner“ nennt und in diesem Fall FDP heißt und sich zum Beispiel in Gestalt einer Justizministerin mit guten Gründen gegen Sperren sperrt… das ist kein Bestandteil des Edelkitsches, den Hahne anstelle eines politischen Gesprächs produziert.

Ganz abgesehen davon, dass es keine gute Voraussetzung für ein Fernsehgespräch ist, wenn der Moderator in der Rolle eines Jubelpersers auftritt (lustigerweise nicht nur bei Guttenberg: Günter Schabowski kündigte er für die nächste Sendung zum 20. Jahrestag der Wiedervereinigung als „den Mann, der das alles möglich gemacht hat“): Hahne hat in der Sendung systematisch fast jede Gelegenheit gemieden, die Zuschauer aufzuklären, klüger zu machen. Er hat sie nur in ihren Gefühlen bestärkt. Dass ein Mann wie Peter Hahne mit seiner Ratiophobie vom ZDF als Journalist eingesetzt wird, ist ein fortdauerndes Ärgernis.

(via netzpolitik.org; Screenshots: ZDF)

Observationen am offenen Herzen

Manches ethische Dilemma löst sich in der praktischen journalistischen Arbeit wie von selbst. Als der „Stern“ im Juni vergangenen Jahres die über 200 Opfer des abgestürzten Airbus 447 im Bild zeigte, konnte das Blatt nach den Worten von Chefredakteur Andreas Petzold schon deshalb nicht die Genehmigung von Angehörigen oder Urhebern einholen, weil die Zeit dafür bis zum Redaktionsschluss viel zu knapp war. Und zeigen musste der „Stern“ die ganzen Opfer im Bild, weil er seinen Lesern laut Petzold nur so das ganze Ausmaß der Tragödie deutlich machen konnte.

Es ist vermutlich ein Fortschritt, dass der „Stern“-Chefredakteur sich überhaupt zu solchen Themen äußert. Im Zusammenhang mit dem Amoklauf von Winnenden hatte das Magazin Fragen nach der Herkunft der gezeigten Opferbilder und dem Einverständnis der Angehörigen noch mit dem Hinweis abgebügelt: „Zu Redaktions-Interna erteilen wir keine Auskunft.“

Aber seit der „Stern“ im Frühjahr berichtet hat, mit welchen Methoden eine Agentur für die „Bunte“ das Privatleben von Politikern ausgespäht hat, ist das Magazin in der unwahrscheinlichen Rolle des Verteidigers journalistischer Standards. Und so ritt Petzold auf einem sehr hohen Ross in eine Diskussion über „Grenzen der Recherche im People-Journalismus — Anforderungen an eine ‚lautere‘ Recherche“, zu der der Deutsche Presserat am Mittwoch in Berlin geladen hatte.

Es war ein Gipfel der Heuchler.

Patricia Riekel erklärte noch einmal, warum es ein öffentliches Interesse daran gegeben habe, Franz Müntefering auszuspionieren. (Das Wort „ausspionieren“, das Petzold benutzt hatte, verbat sich Riekel empört. Sie hätten „recherchiert“.) Dass der SPD-Politiker mit einer vierzig Jahre jüngeren Frau zusammen sei, mache „veränderte Akzeptanzen über Partnerschaften deutlich“, das seien Fragen, die „gesellschaftspolitisch relevant“ seien. Außerdem erinnerte sie daran, dass Müntefering sich zuvor aus der Politik zurückgezogen hatte, um seine schwer kranke Frau zu pflegen. „Wenn ein Spitzenpolitiker mit einer so emotionalen Entscheidung an die Öffentlichkeit geht, öffnet er auch sein Herz, und das Publikum schaut hinein“, sagte Riekel. „Und dieses Interesse bleibt bestehen.“

Riekel forderte zu unterscheiden zwischen dem, was man recherchieren darf, und dem, was man veröffentlich darf. Sie betonte, dass die „Bunte“ die bereits vorher ausgekundschaftete Beziehung von Müntefering erst öffentlich gemacht habe, als er selbst mit der Frau öffentlich aufgetreten sei. „Es darf keine Vorzensur geben, wenn einer Redaktion ein Verdacht oder ein Gerücht bekannt wird.“

Die Richtlinien zur Ziffer 4 des Pressekodex, auf die sich Riekel berief, erlaubt die „verdeckte Recherche“ nur im Einzelfall, „wenn damit Informationen von besonderem öffentlichen Interesse beschafft werden, die auf andere Weise nicht zugänglich sind“. Aber was sind Informationen von besonderem öffentlichen Interesse? Hans Leyendecker von der „Süddeutschen Zeitung“ nannte als Beispiel das Thema Tiertransporte, bei dem anders als durch Undercover-Recherche die wichtigen Informationen nicht beschafft werden könnten. Riekel erwiderte, sie persönlich interessiere sich auch sehr für Tiertransporte, „aber es gibt Menschen, die interessieren sich nun mal für andere Menschen. Das sei eine Frage des Standpunktes.“

Sie blieb dabei: Eine „Vorrecherche“ bei Gerüchten müsse in jedem Fall möglich sein. (Auf spätere Nachfrage stellte sich heraus, dass sich eine „Vorrecherche“ von einer „Recherche“ dadurch unterscheidet, dass sie bei der „Bunten“ so genannt wird.)

Nicolaus Fest aus der „Bild“-Chefredaktion überraschte Riekel und Publikum mit der Aussage, sein Blatt wäre Müntefering nicht wegen seiner neuen Liebe nachgestiegen. „Ich weiß nicht, was die politische Dimension dieser Geschichte sein soll. Es gab keine Protektion, es ist reine Privatsache.“ Die Rede kam auch auf den Fall des CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer: Die Diskussionsteilnehmer waren sich einig, dass es erlaubt war, seine Verhältnis zu einer Freundin, die auch ein Kind von ihm erwartete, öffentlich zu machen, weil Seehofer mit seinem intakten Familienleben Wahlkampf gemacht hatte und der Lebenswandel den Ansprüchen einer christlichen Partei widersprach. „Würden wir das auch bei einem Politiker machen, der freie Liebe propagiert“, fragte Fest und antwortete mit Nein.

Ein besonders bizarrer Nebenstrang der Diskussion beschäftigte sich mit freien Mitarbeitern. Die Diskussion um die Frage, welche Grenzen bei der Recherche des Privatlebens von Politikern im Auftrag von „Bunte“ überschritten wurden, wird nämlich dadurch erschwert, dass die Illustrierte die Recherche (oder, wie sie sagen würde: „Vorrecherche“) an eine dubiose Agentur outgesourct hatte. Deshalb ist umstritten: Was die „Bunte“ genau gewusst hat über das Vorgehen der Agenturleute, inwieweit sie dafür verantwortlich ist, aber auch, inwiefern schon die Auslagerung der Recherche ein Problem ist.

Riekel betonte, auf Outsourcing könne heute generell nicht verzichtet werden, aber die Freien müssten sorgfältig ausgesucht und kontrolliert werden. Die „Bunte“ erarbeite gerade eine Art Verhaltenskodex, in dem sich die Freien zu „korrekten Recherchemethoden“ verpflichten. Riekel hielt schon in ihrem Einführungsstatement ein ebenso flammendes wie rätselhaftes Plädoyer für die „30.000 Freelancer“, die „nicht besser oder schlechter“ arbeiteten als festangestellte Journalisten. „Der Status entscheidet nicht über die Qualität eines Journalisten“.

Beim „Stern“ sieht man das anders. „Das Kerngeschäft darf man nicht outsourcen“, forderte Petzold. In Bezug auf investigative Recherchen sagte er: „Jeder freie Mitarbeiter, den ich beschäftige, erhöht das Risiko.“

Nicolaus Fest hatte in der Diskussion neben Riekel und Petzold lange Zeit fast vernünftig und seriös gewirkt (er wies Petzold darauf hin, dass Freie vor allem bei Spezialthemen oft über Kontakte verfügten, die die Redaktion nicht habe, und formulierte in Bezug auf Recherchemethoden: „Der Zweck heiligt das Mittel, aber der Zweck muss stimmen“). Sein seinem Wesen eher entsprechende Einsatz kam erst, als es um Nicht-Prominente ging, um Menschen, deren Fotos Medien veröffentlichen, weil sie Opfer von Unglücken oder Verbrechen geworden sind. Zur „Love Parade“ sagte er: „Die Leute, die dahin gingen, sind zu einem hohen Teil von Exhibitionismus oder Voyeurismus getrieben.“ Er verstehe nicht das „merkwürdige Missverhältnis“, dass Menschen, die kein Problem haben, fotografiert zu werden, wenn sie dort ihre Brüste entblößen, andererseits nicht gezeigt werden wollen, wenn der Anlass ein „journalistischer“ ist, weil sie nämlich zum Opfer des Unglücks wurden. Er beklagte hier eine „Instrumentalisierung des Persönlichkeitsrechtes wie bei Prominenten“: Man sei mit der Veröffentlichung von Fotos einverstanden, „solange es schöne Fotos sind“.

Den Leitfaden, den der Presserat gerade zur Berichterstattung über Amokläufe vorgelegt hat [pdf], nannte Fest „außerordentlich problematisch“. Er stößt sich schon am ersten Satz in der ersten Empfehlung, wonach die Redaktion „sorgfältig zwischen dem öffentlichen Interesse an dem Geschehen und den Persönlichkeitsrechten des Täters abwägen“ müsse. Fest hält eine solche Abwägung für absurd: Der Amoklauf bringe ein öffentliches Interesse mit sich wie kein anderes Verbrechen. Über den Täter soll man teilweise nur anonymisiert berichten dürfen, auf die Nennung von persönlichen Details über die Opfer soll ganz verzichtet werden: „Das ist ein massiver Eingriff in das Berichterstattungsrecht“, sagte Fest.

Bei allen Meinungsunteschieden — die Argumentationsmuster von Riekel, Fest und Petzold ähnelten sich frappierend: Wenn ihre spezielle Form der Sensationsberichterstattung nicht erlaubt sei, könne man gar nicht berichten und der Journalismus sei insgesamt bedroht. Natürlich konnte sich auch keiner von ihnen zu einem klaren Bekenntnis dazu durchringen, auf die ungenehmigte Verwendung von Privatfotos aus sozialen Netzwerken zu verzichten. Nach zwei Stunden Diskussion blieb der Eindruck: Journalistische Ethik ist für sie nicht mehr als der nachträgliche Versuch, Entscheidungen zu rechtfertigen, die man unter dem Druck von Zeit und Konkurrenz und nach dem Kalkül der Steigerung von Auflage und Aufmerksamkeit trifft.

Zum Glück war dann da aber noch Jürgen Christ, ein freier Fotograf aus Köln und ein Mann, dem Sonntagsreden fremd zu sein scheinen. Er achte „peinlich genau“ darauf, die Gesetze einzuhalten — „aber nur aus praktischen Gründen“, um keinen Ärger mit der Justiz zu bekommen. „Jemandem mit dem Auto zu verfolgen, ist doch nichts verwerfliches“, sagte er, und auch am Anmieten einer gegenüberliegenden Wohnung zur Observation konnte er nichts verwerfliches finden — ob der Pressekodex solche „verdeckte Recherche“ nun in der Regel untersagt oder nicht. Dass die Beschatter von Müntefering einen Bewegungsmelder in die Fußmatte einbauen wollten, fände er hingegen „nicht gut“: Es gebe doch praktische Kameras mit Bewegungsmelder!

Fröhlich erzählte er, wie er versucht hatte, ein Foto von dem Chefs eines Spendenvereins mit dessen Luxuswagen zu bekommen. Als tagelanges Observieren nicht half, bat er einen Taxifahrer, ganz dicht am Wagen vorbeizufahren, dann an der Tür zu klingeln und zu sagen, er habe da vielleicht eine Schramme verursacht. Der Mann hat zwar nur seinen Assistenten nach unten geschickt. Aber er hat aus dem Fenster geguckt, und Christ hatte sein Foto.

„Für wen arbeiten Sie so“, fragte Patricia Riekel ihn und kannte die Antwort natürlich. „‚Spiegel‘, ‚Focus‘, ‚Stern‘, ‚Bunte’…“