Autor: Stefan Niggemeier

Wie der „Focus“ Thilo Sarrazins „Ehre“ rettet

Olaf Wilke ist Redakteur beim „Focus“. Das ist kein Job, um den ihn viele beneiden werden. Aber einer muss ihn ja machen, und Wilke ist immerhin „Redakteur für besondere Aufgaben“ im Berliner Korrespondentenbüro der Illustrierten.

Joachim Baier ist Korrespondent der Nachrichtenagentur dpa in Darmstadt. Er hat keinen schillernden Titel und vermutlich hat er auch noch keine Aufmachergeschichte über den anscheinend zukünftigen Bundeskanzler Karl-Theodor zu Guttenberg geschrieben. Baier schreibt Meldungen wie die, dass ein Mann in Grasellenbach-Wahlen seinen Nachbarn mit einer Motorsäge angegriffen und schwer verletzt hat. Aber er berichtet auch bundesweit über den Prozess gegen die Sängerin Nadja Benaissa, der in Darmstadt stattgefunden hat.

In dieser Woche hat Olaf Wilke einen Artikel über Joachim Baier geschrieben. Er hat ihm eine tragende Nebenrolle in einem Stück über den Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin gegeben. Der „Focus“-Redakteur nennt den dpa-Mann einen „Lokalredakteur“, und vermutlich ist das geringschätzig gemeint. In der süffisanten Schilderung von Wilke ist Baier ein kleiner Schreiberling vom Land, der sonst „acht Zeilen für die bunte Seite“ produziert, und als Sarrazin sich am 10. Juni zu einem Vortrag im „Alten Schalthaus“ einfand — einem „drögen Pädagogentreff in der Provinz“, wie Wilke schreibt — die Chance witterte, mal richtig Schlagzeilen zu machen.

Die großen Schlagzeilen sollte er bekommen. Baier meldete am Abend des 10. Juni, dass Sarrazin bei den Arbeitskreisen Schule-Wirtschaft der Unternehmerverbände Südhessen gesagt habe: „Wir werden auf natürlichem Wege durchschnittlich dümmer.“

Zuwanderer „aus der Türkei, dem Nahen und Mittleren Osten und Afrika“ wiesen weniger Bildung auf als Migranten aus anderen Ländern, dozierte der Bundesbank-Vorstand aus Berlin und bemühte dazu umfangreiche Zahlen.

Einwanderer bekämen auch mehr Kinder als Deutsche. Es gebe „eine unterschiedliche Vermehrung von Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlicher Intelligenz“, sagte Sarrazin. Intelligenz werde von Eltern an Kinder weitergegeben, der Erbanteil liege bei fast 80 Prozent.“

Der „Focus“-Redakteur bezweifelt, dass Sarrazin das so gesagt hat. Er suggeriert, dass der „Lokalreporter“ sich das ausgedacht hat. Sein Artikel beginnt mit dem Satz: „Manche Tage starten gemächlich und geben unversehens Gas, sodass man Gefahr läuft, aus der Kurve zu fliegen.“ Das bezieht sich auf den 10. Juni und Joachim Baier. Später schreibt Wilke:

Es gibt Momente, da werden Lokalreporter zu Helden. Wenn sie eine Exklusivnachricht erbeuten, die zur Spitzenmeldung wird. Wenn sie den Chefs im fernen Berlin zeigen, dass ein Darmstädter Außenposten mehr kann als läppische Berichte über durchgeknallte Sensemänner. In solchen Momenten wäre es fast schade, wenn ein Knurrhahn wie Sarrazin nur einen zahlengespickten Langweilervortrag ablieferte. Baier ist der einzige Journalist im Saal.

Zwischen den letzten beiden, scheinbar harmlosen Sätzen steht unsichtbar, aber unmissverständlich der Vorwurf, der „Lokalredakteur“ Baier habe die Gelegenheit genutzte, sich einen bundesweiten Skandal zurechtzuschnitzen. Der „Focus“ schreibt, Sarrazin habe in einem Brief an „ausgewählte Zeitungsredaktionen“ beteuert, die dpa-Meldung sei falsch.

Die Nachrichtenagentur dpa weist das auf meine Anfrage zurück und hält nachdrücklich an ihrer Darstellung fest: Sarrazin sei korrekt zitiert worden.

Der „Focus“ bietet als Zeugen dagegen Reinhold Stämmler auf, den Gastgeber der Veranstaltung, der sich nicht an ausländerfeindliche Sprüche von Sarrazin erinnern könne, im Gegenteil: Der Bundesbank-Chef habe sich „ausdrücklich wertschätzend über fremde Kulturkreise geäußert“, zitiert der „Focus“ Stämmler.

(Das klingt ein bisschen wie die Beteuerung, nichts gegen Ausländer zu haben, die man doch eher selten von Leuten hört, die tatsächlich nichts gegen Ausländer haben, mal ganz abgesehen davon, dass Sarrazin ganz dezidiert etwas gegen den Islam hat, aber wer weiß, über welche „fremden Kulturkreise“ er sich wertschätzend äußerte, wenn überhaupt.)

Doch „Focus“-Redakteur Wilke geht es mit seinem Artikel in der Illustrierten nicht darum, vor den Gefahren zu warnen, die drohen, wenn kleine Lokaljournalisten über Dinge schreiben, die besser großen „Focus“-Journalisten überlassen blieben. Ihm geht es um die „Medienkultur in unserem Land“, um „politische Korrektheit“ und um die „Medienmühle“, in die Thilo Sarrazin geraten sei, weshalb er nun als „Volksverhetzer“ dastehe.

Zu schreiben, Wilke schätze Sarrazin und seine Ansichten, wäre eine Untertreibung. Der Journalist nennt den Politiker in seinem Artikel in dieser Woche einen Mann „mit Hang zur Provokation, der irrtümlich annimmt, dass seine messerscharfen Argumente allein deshalb jeden Gegner überzeugen, weil sie stimmen“. Wilke hält sich nicht damit auf, das angebliche Zutreffen Sarrazins steiler Thesen in irgendeiner Weise zu belegen, und er stellt nicht die Frage, ob das Problem, das viele Menschen mit seinen Thesen haben, mit der verletzenden, spaltenden Rhetorik zusammenhängen könnte, mit der er sie vorträgt. Wilke stellt fest: Was Sarrazin sagt, stimmt. Wer anderer Meinung ist, muss Unrecht haben.

Schon 2005 beschrieb Wilke Sarrazin im „Focus“ als „Berlins kantiger Finanzsenator mit dem Hang zur unbequemen Wahrheit“. 2008 nannte er ihn „Genosse Tacheles“ und sprach von Sarrazins „Wahrheitsdrang“. Ein Portrait Sarrazins von ihm aus dem April 2010 trug einfach die Überschrift „Der Recht-Haber“.

Dagegen ist selbst die Methode der „Bild“-Zeitung subtil, Sarrazin Recht zu geben. Sie verbrämt seine Rhetorik als „Klartext“ und nennt ihn den „Klartext-Politiker“. Wer dem SPD-Mann öffentlich widerspricht, so ist das wohl zu verstehen, traut sich bloß nicht, die Wahrheit zu sagen. (Der Dienstwahnsinnige Franz Josef Wagner schreibt Sarrazin heute: „Ihr Frevel ist, dass Sie die Wahrheit nicht sanft schreiben.“)

Die „Bild“-Zeitung veröffentlicht in diesen Tagen längere Auszüge aus Sarrazins am Montag erscheinendem Buch „Deutschland schafft sich ab“. Sie tragen Schlagzeilen wie: „Bei keiner anderen Religion ist der Übergang zu Gewalt und Terrorismus so fließend“ (gemeint ist der Islam), „Wir werden Fremde im eigenen Land!“, „Deutschland wird immer ärmer und dümmer!“ Auch das andere deutsche Leitmedium, der „Spiegel“, wirbt für Sarrazins Buch mit einem Vorabdruck. Eine mächtigere Kombination von Medienpartnern ist kaum denkbar.

Doch für den „Focus“-Mann Wilke ist Sarrazin ein Opfer der Medien. Sein Artikel trägt die Überschrift „Die verlorene Ehre des Thilo S.“ – eine Anspielung auf Heinrich Bölls Roman über eine Frau, die mit „Bild“-Zeitungs-Methoden zugrunde gerichtet wird. Vielleicht kennt man beim „Focus“ den Inhalt des Buches nicht, vermutlich will Wilke die Rolle Thilo Sarrazins allen Ernstes mit der der Katharina Blum gleichsetzen.

Denn auch Sarrazin werde gejagt, von „Meinungswächtern, die Andersdenkende mit dem politischen Strafrecht würgen“. Wilke meint die Menschen, die aufgrund der dpa-Berichterstattung Sarrazin wegen Volksverhetzung angezeigt haben. Wilke schreibt über sie:

Kein Absender einer Strafanzeige war am 10. Juni in Darmstadt selbst dabei. Jeder von ihnen beruft sich auf die dpa-Meldung oder darauf basierende Medienberichte. Die Anzeigeerstatter empören sich gewissermaßen aus zweiter Hand.

Man kann selbstverständlich darüber streiten, ob und in welchen Fällen eine solche Anzeige eine angemessene Reaktion auf eine Meinungsäußerung ist. Aber ich möchte mir keine Welt vorstellen, in der sich Menschen nur über Unrecht empören, das sie unmittelbar selbst erlebt haben.

Wilke stellt die Menschen, die Sarrazin angezeigt haben, als Querulanten dar. Namentlich erwähnt wird unter anderem Klaus-Henning Bähr, ein Beamter aus Oldenburg. Bähr hatte das Zitat Sarrazins bei „Zeit Online“ gelesen und dort kommentiert:

(Es geht hier) um die Frage, ob es hingenommen werden kann, wenn Sarrazin gegen ethnische Minderheiten mit Argumenten polemisiert, die durchaus in das Konzept nationalsozialistischer Rassenhygiene passen. (…) Was ist aus diesem Geschwurbel anderes herauszulesen als die Behauptung, die fraglichen Migranten seien vergleichsweise geistig minderbemittelt, vererben diesen Mangel an ihren vergleichsweise zahlreichen Nachwuchs, der wegen des genetisch bedingten Mangels an Möglichkeiten, diesem „Nachteil“ durch Bildung abzuhelfen, für den statistischen Zuwachs an Dummheit“ verantwortlich ist. (…) Dieser Mann ist eine wandelnde Zeitbombe für unseren inneren Frieden, den man vermutlich nur noch nicht aus dem Verkehr gezogen hat, weil man sich scheute, ihm zum Märtyrer seiner rechtsradikalen Bewunderer zu machen. Der Preis dafür ist hoch: Er schadet dem Ansehen unseres Landes, dem er als Beamter gesetzestreu zu dienen verpflichtet wäre (…).

Sarrazin hält es nicht für nötig, darauf zu antworten. Der „Focus“ schreibt, seine „Streitlust scheint erlahmt“ und zitiert ihn mit den Worten, er wolle den Absendern der Strafsanzeigen nicht durch eine Stellungnahme „zu viel Ehre“ erweisen.

Sarrazin, wir erinnern uns, der Mann, der laut „Focus“ „irrtümlich annimmt, dass seine messerscharfen Argumente allein deshalb jeden Gegner überzeugen, weil sie stimmen“.

Super-Symbolfotos (81)

Gestern versehentlich das „Rundschau-Magazin“ im Bayerischen Fernsehen gesehen. Ich schwöre, der Moderator hat versucht, mich zu hypnotisieren.

Trotzdem schaffte es eine Frage, zu meinem Bewusstsein durchzudringen. Sie lautete: Hä?

Oder genauer: Was möchte uns die „Rundschau“ mit dieser Grafik sagen? Die FDP lastet als tonnenschweres Gewicht auf Guido Westerwelles Schulter? Der Außenminister hat mit seiner Partei echt richtig was an der Backe? Der kleine Westerwelle scheint dem Moderator jedenfalls mit nachvollziehbarer Genervtheit zuzurufen: Hey, Augen-Man, kannst du mal den Mist hier wegmachen?

Weitere Illustrationen des Themas im folgenden Filmbeitrag waren im Vergleich immerhin von erfrischender Klarheit:


(Natürlich könnte man fragen, warum König Guido ein Ortseingangsschild hält und ob damit Geschwindigkeitsbegrenzungen in der Partei verbunden sind, aber, nun.)

Das „Rundschau-Magazin“ ist die Hauptnachrichtensendung des Bayerischen Fernsehens und läuft um neun Uhr abends.

Schlaf- und Skandalbehörden

Ich hätte die „Funkkorrespondenz“ lesen sollen. Oder mir einen Merkzettel machen mit der Warnung an mich selbst: „Wenn du einen Artikel schreibst, der zum Ergebnis kommt, dass die Medienaufsicht in Deutschland womöglich funktioniert, hast du vermutlich nur nicht gründlich genug recherchiert.“

Am Sonntag habe ich für die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ eine Bilanz der Gewinnspielsatzung gezogen. Seit eineinhalb Jahren drohen 9Live und den anderen Call-TV-Anbietern Bußgelder, wenn sie gegen die Regeln verstoßen, die ein Mindestmaß von Fairness und Transparenz garantieren sollen. Die Landesmedienanstalten haben seitdem über eine halbe Million Euro Bußgeld verhängt und sind der Meinung, das habe Wirkung gezeigt — obwohl noch kein Sender Geld gezahlt habe. (Tatsächlich haben Kabel 1, Super RTL und Das Vierte schon Bußgelder bezahlt. Davon wusste nur der zuständige Sprecher der baden-württembergischen Medienanstalt LfK, den ich gefragt hatte, angeblich nichts.)

Die aufregendere Geschichte stand zwei Tage zuvor im Branchendienst „Funkkorrespondenz“: Einen Teil dieser Summe werden die Sender nämlich nie zahlen müssen, weil die Landesmedienanstalten Fristen versäumt haben und die Verfahren einstellen mussten, weil es verjährt war. 115.000 Euro hat die Bayerische Landesmedienanstalt BLM auf diese Weise dem Sender 9Live geschenkt — weil die Mitarbeiter in den Osterferien waren. Oder im Deutsch der Beamten:

„Die Verjährung kam dadurch zustande, dass durch ein äußerst bedauerliches Büroversehen während der Urlaubszeit die fünf Fälle in der BLM liegengeblieben sind und es so versäumt wurde, die Bescheide der Staatsanwaltschaft fristgerecht zuzustellen.“

Als Konsequenz aus der Schlamperei sei „umgehend eine doppelte Terminkontrolle eingeführt“ worden, teilte die BLM der „Funkkorrespondenz“ mit, verweigerte aber die Auskunft, ob gegen Mitarbeiter dienstrechtliche Maßnahmen eingeleitet wurden.

Die Landesmedienanstalten werden, was viel zu wenig bekannt ist, zum größten Teil von den Rundfunkgebühren bezahlt: Sie bekommen knapp zwei Prozent davon, weit über 100 Millionen Euro jährlich. Wir, die Gebührenzahler, finanzieren also ein — aufgrund der föderalen Struktur der Medienaufsicht — ohnehin außerordentlich aufwändiges Verfahren, das einem Bußgeldbescheid vorausgeht. Und am Ende ist dieser ganze Aufwand für die Katz, weil die Mitarbeiter der BLM vergessen haben, sich die damit verbundene Frist irgendwohin zu schreiben, und sich in den Osterurlaub verabschiedet haben?

Es ist nicht so, dass es sich um Ausnahmen in einem sonst funktionierenden System handelte. Die „Funkkorrespondenz“ berichtet von zwei weiteren Fällen, in denen durch Schlamperei in der BLM die Verfahren verjährten. Auch bei der Medienanstalt Berlin-Brandenburg MABB musste ein Bußgeldverfahren wegen abgelaufener Fristen eingestellt werden, weil — wie die Behörde mitteilte — „die Weihnachtszeit dazwischen kam“.

Bei den Landesmedienanstalten — und insbesondere den beiden genannten — verbindet sich in einzigartiger Weise der ganze Albtraum einer föderalen Bürokratie mit Inkompetenz und schlichtem Unwillen. Ich bin überzeugt davon, dass die Bayerische Landesmedienanstalt unter Wolf-Dieter Ring (seit 21 Jahren im Amt) kein Interesse daran hat, die von ihr lizensierten (und im Land angesiedelten) Sender wirkungsvoll zu kontrollieren. Und der Aufsichts- und Auskunftswiderwille der MABB unter Hans Hege (seit 19 Jahren im Amt), die theoretisch für Pro Sieben zuständig wäre, ist ein fortdauernder Skandal.

Ich habe vor fünf Jahren zusammen mit Peer Schader für die „Sonntagszeitung“ einen Text über das Elend der Medienaufsicht in Deutschland geschrieben. Dessen Überschrift „Schafft die Landesmedienanstalten ab!“ wurde leider gelegentlich als bloße Polemik missverstanden.

Die geheimnisvolle Fionnghuala

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Seit Anrufsendern, die gutgläubige Zuschauer in die Irre führen, Bußgelder drohen, ist das Geschäft fairer geworden – und schlechter. Dabei hat noch keiner bezahlt.

Heute würde es Schlag auf Schlag gehen. Kein Gerede, keine Verzögerungen, garantiert zwanzig Gewinner in fünfzehn Minuten. Dirk Löbling, der Animateur, der an diesem späten Donnerstagabend Dienst hat bei 9Live, scheint angemessen aufgeregt. So ein „Gewinner-Countdown“, erklärt er, sei „sehr speziell“. Und weil er von der Regie vorgegeben werde, könne man sich darauf verlassen, dass das damit verbundene Versprechen eingehalten werde.

Vierzehneinhalb Minuten später ist ein Gewinner gefunden. Es stehen noch 25 Sekunden auf der Uhr, es fehlen noch 19 Gewinner, und Löbling macht Geräusche und Gesten, die seine Fassungslosigkeit ausdrücken sollen. Wie soll das zu schaffen sein?

Es ging dann doch recht entspannt. Es stellte sich nämlich heraus, dass der Anrufsender bei seinem „Gewinner-Countdown“ nur die Zeit zählt, die er zählt. Bis die nächsten zwanzig Sekunden Spielzeit abgelaufen waren, verging eine Dreiviertelstunde, in der der Moderator sich zeitweise mit einem Menschen in seinem Ohr über die Blumen in der Studiodekoration unterhielt. Nach endlosen Minuten erbarmte er sich, zählte einen Countdown runter, dann lief der „Gewinner-Countdown“ wieder weiter, jemand wurde durchgestellt, nannte einen Beruf, der auf „-er“ endet, und gewann einen zweistelligen Eurobetrag. Es schien, als müsse man sofort anrufen, weil das Spiel sofort vorbei sei. Aber 9Live könnte im Notfall einen solchen „Gewinner-Countdown“ von wenigen Sekunden über Jahre strecken.
Sie machen sich immer noch einen Spaß – und vor allem natürlich: ein Geschäft – daraus, die Zuschauer in die Irre zu führen. Aber die Hoch-Zeiten des Call-TV sind vorbei, im Guten wie im Schlechten. Die Tricks, die 9Live heute einsetzt, sind vergleichsweise harmlos. Aber auch die Erlöse sind nicht mehr, was sie mal waren. Der Marktanteil des Senders liegt bei nur noch 0,1 Prozent – bei jüngeren Zuschauern ist er nicht mehr messbar. Für die Schwestersender Sat.1, Pro Sieben und Kabel 1 produziert 9Live noch Anrufsendungen tief in der Nacht; eine Sendung wie „Quiz Night“ auf Sat.1 läuft regelmäßig vor immerhin ein- bis zweihunderttausend Zuschauern – aber wer weiß, wie viele von denen wach sind.

Auch der Spartenkanal Sport 1 bessert sein Einkommen mit den Telefongebühren dummer Zuschauer auf und lässt werktags nachmittags zum Beispiel weibliche Vornamen mit „A“ am Ende raten (gesucht waren am Freitag: „Notburga, Immacolata, Inmaculada, Fatoumata, Fearchara, Femmechina, Fionnghuala, Flordeliza, Rizalia, Boglarka“). Aber Sender wie Super-RTL, MTV, Viva, Nickelodeon, Tele 5 und Das Vierte haben sich inzwischen von dem zwielichtigen Geschäft verabschiedet; in der Schweiz sorgte ein Gerichtsurteil für das abrupte Ende der Branche.

Warum das Geschäft nicht mehr so läuft? Die einfachste Erklärung ist, dass die Teilnehmer im Laufe der Zeit entweder zu klug oder zu arm geworden sind, um noch mitzumachen. Pro-Sieben-Sat.1 nennt in seinem Geschäftsbericht als Grund für die sinkenden Anruferzahlen und Erlöse „die Einführung einer neuen Gewinnspielsatzung der Landesmedienanstalten“. Neu daran waren weniger die Regeln, die Mindeststandards an Fairness und Transparenz sicherstellen sollen und in ähnlicher Form schon vorher galten; neu war die Möglichkeit, Bußgeld gegen Sender zu verhängen, die sich nicht an sie hielten.

Seit die Satzung vor eineinhalb Jahren in Kraft getreten ist, hat die Kommission für Zulassung und Aufsicht (ZAK) der Medienanstalten 54 Beanstandungen ausgesprochen und Bußgeld in Höhe von 575 500 Euro verhängt, den größten Teil gegen 9Live. Die Mängel sind fast immer dieselben: Es sei unzulässig Zeitdruck aufgebaut, über die Auswahlverfahren und Einwahlchancen in die Irre geführt oder über den Schwierigkeitsgrad einer Aufgabe getäuscht worden.

Dem 9Live-Animateur Jürgen Milski, der als „Big Brother“-Kandidat und Kumpel des selig vergessenen Ztlatko aufgefallen war, wurde jetzt eine besondere Ehre zuteil: Erstmals sprach die ZAK ein Bußgeld nicht nur gegen den Sender, sondern auch den Moderator persönlich aus. Gesucht waren: „Tiere mit Doppelbedeutung“. Keine einzige der achtzehn 9Live-Lösungen (darunter Holzbohrer, Feuerwalze, Perlhuhn, Rammbock) wurde erraten. Inwiefern es sich zum Beispiel beim Rammbock überhaupt um ein Tier handele, ließ der Sender offen. Milski erweckte dafür wiederholt den Eindruck, es handle sich um ein leichtes Spiel. „Normalerweise halten wir uns an die Geschäftsführung und den Sender, weil es um strukturelle Probleme oder seine Aufsichtspflicht geht“, sagt Axel Dürr, Sprecher der in der ZAK geschäftsführenden baden-württembergischen Landesmedienanstalt LfK. In diesem Fall aber habe es den Eindruck gegeben, dass Milski besonders eigenmächtig die Regeln brach.

Jeder dieser Bußgeldbescheide ist ein kleines Wunder, denn er ist das Ergebnis eines bürokratischen Kraftaktes: Die zuständige Landesmedienanstalt stellt einen Verstoß fest, gibt dem Sender Gelegenheit zur Stellungnahme, wertet sie und gibt den Fall an die Prüfgruppe der ZAK, die ihn an die eigentliche Kommission aus den 14 Direktoren der Medienanstalten weiterleitet, die über den Bußgeldbescheid entscheidet, dessen Ausstellung dann wieder der zuständigen Medienanstalt obliegt. Gegen den Bescheid kann der Sender Beschwerde einlegen, womit sich wiederum die Medienanstalt beschäftigt und dann erneut die ZAK.

Am Ende, wenn die Sender das Bußgeld nicht akzeptieren, geht es vor Gericht. Und weil das dauert und die Sender bislang gegen jede Beanstandung Beschwerde eingelegt haben, ist nach Auskunft von Dürr bislang kein Cent tatsächlich bezahlt worden. Gegen verschiedene Pflichten, die Spiele transparent und fair zu veranstalten, wehrt sich 9Live zudem mit einer Klage und bestreitet die Rechtmäßigkeit der Satzung insgesamt. In einzelnen Punkten gab ihm das Verwaltungsgericht München im vergangenen Jahr Recht, beide Seiten sind in Revision gegangen.

Trotz des langen, schwierigen Prozesses meint Dürr, dass die Satzung und die Bußgelder Wirkung gezeigt hätten. Neben den drohenden Kosten schmerze die Sender vor allem, dass die ZAK ihre Beanstandungen konsequent öffentlich macht. „Es ist immer noch nicht alles Gold, und wir lehnen uns nicht zurück, aber es hat sich einiges getan. Ein Großteil der Beanstandungen ist abgestellt worden.“ Tatsächlich warnt 9Live zum Beispiel regelmäßig, dass die Zuschauer auf ihr „Telefonverhalten“ achten sollen. Es läuft sogar immer wieder der Hinweis durchs Bild, dass die Chance, durchgestellt zu werden, nicht von der Zahl der angeblich offenen „Telefonleitungen“ abhänge – diesen Eindruck haben die Produzenten sonst immer gerne erweckt.

Auch Marc Doehler meint, es gebe „definitiv Fortschritte“. Er verfolgt mit anderen Verrückten seit Jahren die Call-TV-Programme und protokolliert den Ablauf in einem Forum (citv.nl). Es sind ausführliche und erschütternde Dokumente der Täuschungen und Lügen, die wohl einen wesentlichen Beitrag geleistet haben, die schlimmsten Auswüchse abzustellen. Viel weniger Regelverstöße entdeckt Doehler heute im Programm, auch weil nur noch eine Handvoll einfacher Spiele immer wieder wiederholt werde. Teilweise würden die Zuschauer zwar mit ausgeklügelten Tricks noch in die Irre geführt. Aber wer auf die idiotischen Aussagen der Moderatorinnen hereinfalle, die die Aufgabe, eine deutsche Stadt mit A an zweiter Stelle zu finden, als „ziemlich schwer“ bezeichnen, sei schon selbst schuld. Warum er trotzdem noch guckt? „Der Unterhaltungsfaktor ist immer noch groß“, gibt Doehler zu. „Und ehe ich mir ‚Frauentausch‘ ansehe…“

9Live möchte sich zu alldem nicht äußern, weil man „derzeit konstruktive Gespräche mit der ZAK“ führe. Deren Sprecher Dürr bestätigt, dass geredet wird: „Da ist Bewegung drin.“ Im September werde die ZAK eine Bilanz der Gewinnspielsatzung vorlegen, womöglich gäbe es bis dahin auch eine Absprache mit 9Live, die die endlosen Verfahren unnötig mache. Das Ziel beider Seiten sei dasselbe: dass weniger Bußgelder verhängt werden müssen.

Eine andere Auseinandersetzung mit Call-TV-Veranstaltern eskaliert dagegen gerade: Es geht um die Firmen Mass Response und Primavera, die mit besonders dubiosen Methoden unter anderem im Schweizer Fernsehen auffielen. Zu den Unregelmäßigkeiten, die von Beobachtern wie Doehler und der Seite fernsehkritik.tv dokumentiert wurden, gehört, dass Umschläge mit den Lösungen in der Live-Sendung plötzlich verschwanden und an anderer Stelle wieder auftauchten, was den Verdacht von Manipulationen nährte. Die Firmen bestreiten dies und gehen juristisch gegen die Kritiker vor. Einiges deutet darauf hin, dass es in den anstehenden Prozessen endlich nicht mehr um Formalien geht oder sich die Firmen mit einem Verwirrspiel um die Verantwortlichkeiten herausreden können, sondern sich die Gerichte in der Sache mit den Betrugsvorwürfen auseinandersetzen werden. [Nachtrag, 26. September: Bislang sind gerichtliche Verfahren, die von Primavera gegen diese Vorwürfe eingeleitet hat, zu Gunsten der Call-TV-Firma ausgegangen oder noch nicht rechtskräftig beendet.] Als Zeugen sind auch viele Producer und Moderatoren benannt, die die unwahrscheinlich klingenden Erklärungen der Produktionsfirmen plausibel machen sollen.

Der Countdown läuft.

Neu: RTL 2 macht das Gespür für Mitgefühl täglich erlebbar

„Trash“ nennen Kritiker das, was RTL 2 zeigt. Eigentlich tun sie das fast immer schon, angesichts der Menschen-, Tier- und vor allem Zuschauer-verachtenden neuen Programme, die der Sender in diesen Tagen gestartet hat, aber gerade wieder besonders intensiv.

Heute hat RTL 2 in einer erstaunlichen (und bislang nicht als Fake enttarnten) Pressemitteilung seinen Kritikern recht gegeben und Besserung gelobt. Natürlich ist darin nicht von „Trash“ die Rede. Aber unter einer dünnglänzenden Oberfläche aus PR-Deutsch ist der Vorwurf unschwer zu erkennen. Indirekt räumt der mysteriös mit dem Chefsessel verwachsene, öffentlichkeitsscheue Geschäftsführer Jochen Starke sogar ein, dass es seinem Programm an Mitgefühl und gesellschaftlicher Verantwortung fehlte. Starke lässt sich mit den Worten zitieren:

„Wir legen Wert darauf, dass RTL II als ein Sender wahrgenommen wird, der Unterhaltung und innovative, auch kontroverse Formate mit einem Gespür für Mitgefühl und gesellschaftliche Verantwortung verbindet. Unser neues Qualitätsmanagement wird uns dabei helfen, dieses Bewusstsein im Programm täglich erlebbar zu machen.“

Neue Formate sollen künftig einen „standadisierten Evaluationsprozess“ durchlaufen, der den gesamten Sender, von der Redaktion über das Marketing und die Werbevermarktung bis zur Geschäftsführung, einbezieht. „Auf diese Weise wird sichergestellt“, formuliert der Sender weiter, „dass die Programme von RTL II künftig in größerem Maße als bisher den qualitativen Ansprüchen gerecht werden, die der TV-Sender mit dem Start seiner neuen Markenpositionierung ‚it’s fun.‘ im vergangenen Jahr Zuschauern und Werbekunden versprochen hat.“ So deutlich hat selten ein Sender formuliert, dass seine gegenwärtigen Programme erbärmlich sind.

Überhaupt ist von „qualitativen Ansprüchen“ im deutschen Fernsehen selten die Rede, und vermutlich wäre es auch zu dieser plötzlichen Erkenntnis nicht gekommen, wenn viele der neuen Sendungen nicht vor allem den quantitativen Ansprüchen der Werbekunden und der Gesellschafter nicht genügt hätten. Nur eine sympathisch überschaubare Zahl von Menschen wollte zusehen, wie sich RTL 2 auf bösartigste Weise über einfache, dicke Menschen lustig machte, die der Sender zu diesem Zweck ins „Abenteuer Afrika“ geschickt hatte, und auch der Versuch der Drag-Queen Olivia Jones, mithilfe von Plüschohren und einer Ganzkörpermaske aus Kamel-Dung unerkannt unter Dromedare leben zu können („Das Tier in mir“) stieß auf nachvollziehbar wenig Interesse.

Hinter den Erwartungen zurück blieb auch die Quote der Aufklärungs-Doku-Soap „Generation Ahnungslos“; die harmlos-doofe Mittelmeer-Game-Show „Der Kreuzfahrt-König“ ist nach nur drei Folgen aus dem Programm genommen worden. Die tägliche Vorabend-Fake-Dokumentation „X-Diaries“ hat zwar einige Zuschauer – ihre Zahl steht aber in keinem Verhältnis zur Blödheit der schlecht erfundenen Sex-Geschichten aus dem Urlaub.

Nun kann es natürlich sein, dass der Trash einfach nicht trashig genug war – andererseits müsste man dann angesichts des RTL-2-Programms die unter Wissenschaftlern noch umstrittene Frage klären, ob es nicht selbst bei Fernsehqualität einen absoluten Nullpunkt gibt oder es sich um ein tatsächlich bodenloses Phänomen handelt.

Zumindest für den Moment scheint RTL 2 die Antwort nicht herausfinden zu wollen. Zum „neuen“ „Qualitätsmanagement“ scheint auch zu gehören, dass man sich von der Unterhaltungschefin getrennt hat – „im gegenseitigen, freundschaftlichen Einvernehmen“ natürlich, aber offenbar doch mit Differenzen, was die Erlebbarkeit des „Gespürs für Mitgefühl und gesellschaftliche Verantwortung“ im Programm angeht.

Der Name von Programmdirektor Holger Andersen, der vor nicht einmal einem Jahr von RTL zum kleineren Halbschwestersender gewechselt ist, taucht in der Pressemitteilung nicht auf. Vor einem Monat hatte er in einem Interview gesagt: „Wir wollen auffallen, aber mit Qualität.“ Das klang damals schon irgendwie falsch.

Burkhardt Müller-Sönksen in Wort und „Bild“

Ich weiß das natürlich nicht, aber ich würde vermuten, dass sie in der „Bild“-Zeitung die Nummer von Burkhardt Müller-Sönksen auf Kurzwahl haben. Für diese Tage, wenn man zu einem aktuellen Thema noch ein richtig markiges Politiker-Statement braucht. Oder eine neue Schlagzeile, um eine alte Kampagne weiterdrehen zu können.

Müller-Sönksen sitzt für die Hamburger FDP im Bundestag. In der „Bild“-Zeitung war er schon „Medienexperte“, „Rechtsexperte“, „Verteidigungsexperte“, „Verkehrsexperte“ und „Menschenrechtsexperte“. Aber vor allem ist er wohl Medienexperte (und damit meine ich nicht, dass er sich mit dem Thema besonders gut auskennt).

In der vergangenen Woche hat er der „Bild“-Zeitung erzählt, dass ARD und ZDF nach dem neuen Rundfunkgebührenmodell 1,2 bis 1,6 Milliarden Euro zusätzlich einnehmen werden. Das kann man zwar noch nicht wissen, weil die Details noch gar nicht feststehen, und es spricht alles dagegen, dass es auch nur annähernd stimmt, und selbst wenn es stimmen sollte, würden ARD und ZDF diese Mehreinnahmen nicht bleiben, weil die Gebühr dann später entsprechend gesenkt würde. Aber die „Bild“-Zeitung nimmt’s da nicht so genau, schon gar nicht wenn es gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk geht.

Über „Bild“ und die Nachrichtenagentur AFP fand Müller-Sönksen und seine Quatschrechnung den Weg auch in andere Medien. Selbst die sonst so seriösen Kollegen von epd übernahmen zunächst ohne weitere Recherche die „Bild“-Vorabmeldung und berichteten: „FDP-Politiker: GEZ-Reform bringt Sendern Plus bis zu 1,6 Milliarden.“ Später verschickten sie immerhin eine weitere Fassung mit einem Dementi der rheinland-pfälzischen Landesregierung.

Meine Bitte an Müller-Sönksen, mir (für die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“) seine Rechnung zu erläutern, blieb leider letztlich ohne Antwort. Aber vermutlich ist der Mann zu beschäftigt, an seiner nächsten Schlagzeile zu arbeiten. Der Mann, den die FDP-Fraktion allen Ernstes zu ihrem medienpolitischen Sprecher gemacht hat, ist ein Musterbeispiel für den Typ Politiker, dem keine Forderung zu billig, blöd oder populistisch ist, um in die Medien zu kommen.

Eine Politikerkarriere in „Bild“-Auftritten:

  • 27. Juni 2000: Müller-Sönksen fordert ein Kampfhunde-Verbot: „Tränen in den Augen von Kampfhundebesitzern können die Hamburger ertragen. Tränen in den Augen von Eltern und Klassenkameraden darf es so nie wieder geben.“
  • 30. April 2003: „TÜV für ältere Autofahrer!“ („Bild“): FDP-Fraktionschef Müller-Sönksen fordert eine Überprüfung von Seh- und Reaktionsfähigkeit ab dem 60. Lebensjahr alle fünf Jahre und „ab 80 Jahren dann häufiger“.
  • 7. Juni 2004: FDP-Verkehrsexperte Burkhardt Müller-Sönksen fordert nach einer „Todesfahrt des Geister-Opas“ („Bild“) eine Überprüfung von Seh- und Reaktionsfähigkeit bei Senioren: „Auch wir müssen diese regelmäßigen Untersuchungen einführen. Außerdem könnten kostenlose Nahverkehr-Tickets für Senioren ein Anreiz und Ausgleich sein, den Führerschein im Alter abzugeben.“
  • 17. März 2006: Müller-Sönksen unterstützt den „Nackt-Test“ („Bild“) für Ausländer: Sie sollen sich vor der Einbürgerung eine DVD ansehen müssen, auf der küssende Schwule und nackte Badende zu sehen sind. „Ausländer müssen die Lebenswirklichkeit in Deutschland akzeptieren! Die DVD ist dazu notwendig.“
  • 1. September 2006: „Für 2700 Euro Jung-Ganoven mit Taxi ins Heim chauffiert / RIESEN-EMPÖRUNG ÜBER BEHÖRDEN-IRRSINN“ („Bild“). Müller-Sönksen sagt: „Ein krasser Fall von Verschwendung!“
  • 21. Oktober 2006: Müller-Sönksen fordert Strafen für Schuldenmacher: „Kanzler, Ministerpräsidenten und Minister sollten mit Teilen ihrer Rentenansprüche für rote Zahlen im Haushalt haften. Dann würden sie sich so um die Staatsfinanzen kümmern, als sei es ihr eigenes Geld!“
  • 4. August 2007. Müller-Sönksen protestiert gegen eine Hinrichtungswelle im Iran: „Ich halte es für menschlich völlig pervers, die Hinrichtung als öffentliches Schauspiel zu inszenieren. So ein Iran befindet sich gesellschaftlich noch im tiefen Mittelalter.“
  • 27. August 2007. Müller-Sönksen fordert, zum Schutz vor ausländerfeindlichen Übergriffen die Bundespolizei bei Volksfesten einzusetzen: „Wenn Ortskräfte und Landespolizei nicht ausreichen, sollte auf Bundespolizei zurückgegriffen werden.“
  • 24. Dezember 2009. Müller-Sönksen protestiert gegen die geplante „Tagesschau“-Anwendung fürs iPhone: „Die ARD sollte sich auf die im Staatsvertrag verankerte Grundversorgung beschränken und die Gebühren für Inhalte und nicht für Vertriebswege ausgeben.“
  • 29. Dezember 2009. Müller-Sönksen ist mit der Gesamtsituation unzufrieden: „Wir brauchen nicht nur eine neue Gebührenregelung, sondern auch eine klare Definition für die Grenzen des öffentlichen Rundfunks.“
  • 31. Dezember 2009. Immer noch: „Wir werden die Frage der Gebührenfinanzierung zu einem Schwerpunktthema 2010 machen.
  • 9. Januar 2010. Müller-Sönksen unterstützt die Klage eines Anwaltes, der keine „Zwangsgebühren“ zahlen will, gegen den NDR: „Diese Klage zeigt, wie wenig Akzeptanz die GEZ-Gebühren noch haben. Vor allem dann, wenn das Geld jetzt auch noch im Internet verschwendet wird.“
  • 2. Februar 2010. Müller-Sönksen beschwert sich, dass sich eine Figur in der „Lindenstraße“ abfällig über die FDP geäußert hat. „Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat überparteilich zu sein“, sagt Müller-Sönksen, „gerade in Unterhaltungssendungen.“
  • 15. Februar 2010. Müller-Sönksen kündigt Schritte gegen die geplante „Tagesschau“-Anwendung fürs iPhone an: Wir werden jetzt zusammen mit den Ministerpräsidenten an einer Änderung des Rundfunkvertrags arbeiten, damit dieses App nicht umgesetzt wird.“
  • 8. April 2010. Müller-Sönksen hat eine Meinung zu der Frage, wer an der Trauerfeier für drei in Afghanistan getötete Bundeswehrsoldaten teilnehmen soll: „Alle Abgeordneten, die dem Afghanistan-Einsatz zugestimmt haben, sollten darüber nachdenken, ob sie den Familien der getöteten Soldaten in diesen schweren Stunden bei der Trauerfeier solidarisch beistehen können.“
  • 10. Juni 2010. Müller-Sönksen ist gegen das neue Verfahren, um die Rundfunkgebühren zu erheben: „Es ist der saure alte Wein Marke GEZ in neuen Schläuchen. Es gibt kein Ende der Schnüffelei, sondern Schnüffelei ohne Ende.“
  • 11. Juni 2010. Müller-Sönksen fordert, die Rundfunkgebühr zu senken: „Wenn in Zukunft viel mehr Beitragszahler herangezogen werden, ist das Mindeste eine Senkung der Gebühr.“
  • 29. Juli 2010. Müller-Sönksen protestiert gegen die Berichterstattung von ARD und ZDF über die Leichtathletik-EM: „Es ist nicht nachvollziehbar, warum die Deutschen bei solchen Großereignissen jeweils das größte Aufgebot stellen. Wenn auf einen deutschen Teilnehmer fast drei Mitarbeiter von ARD und ZDF kommen, dann gibt es aus Sicht der Gebührenzahler dafür nur ein Wort: Geldverschwendung.“
  • 12. August 2010. Müller-Sönksen errechnet Mehreinnahmen für ARD und ZDF durch neues Gebührenverfahren in Fantastillionenhöhe und droht: „Sollte es zu unbilligen Mehrfachbelastungen kommen, prüfen wir eine Klage beim Bundesverfassungsgericht.“
  • 13. August 2010. Müller-Sönksen fordert auf der Grundlage seiner Fantasierechnung, die Rundfunkgebühr zu senken: „Die Abgabe sollte statt 17,98 Euro bei 15 Euro im Monat liegen.“

Burkhardt Müller-Sönksen. So macht man sich in den Medien einen Namen.

Flausch am Sonntag (26)

„Mongrels“ funktioniert nach dem Prinzip: Wenn man schon eine Puppenserie für Erwachsene macht, sollte man auch das meiste draus machen und keine Rücksicht auf Tabus oder irgendwelche Grenzen des guten Geschmacks nehmen. So gesehen ist die Serie mit ihren Witzen über Anne Frank, Serienkiller und tote Showmaster natürlich außerordentlich pubertär. Aber sie ist auch klug, anspielungsreich, originell, witzig und ambitioniert. Ich habe jede Folge mit offenem Mund angesehen. Und dann noch einmal.

„Mongrels“ spielt im Londoner East End, hinter einem Pub. Die Haupt-Protagonisten sind zwei Füchse, eine Katze und eine Taube, die sich hier herumtreiben, sowie die eitle Hündin des Besitzers. Zu den cleveren Ideen gehört es, die Tiere nicht nur, wie üblich, zu vermenschlichen, sondern umgekehrt auch immer wieder auf ihre tierischen Reflexe zu reduzieren.

Hinzu kommt der reizvolle Kontrast zwischen den niedlichen Figuren und den obszönen Situationen und drastischen Geschichten. Die Macher sind zum Beispiel auf eine beunruhigende Art besessen vom Thema Tod. Ich glaube, es gibt keine Folge, in der nicht ein gerade gestorbenes Lebewesen, sei es Tier oder Mensch, von anderen Mitwirkenden aufgefressen wird. Es geht um Terroranschläge, Sex mit Minderjährigen (Katzen), Tollwut, Kastration, Kannibalismus, versehentlichen Lesbianismus, die Existenz von Gott, Facebook-Blind-Dates und die Frage der Möglichkeit der Liebe zwischen einem Fuchs und einem Huhn.

In jeder Folge gibt es einen Musical-Song — dieser hier handelt in anschaulichen Worten von Hühnerfeindlichkeit:

„Mongrels“ ist voller popkultureller und selbstreferentieller Anspielungen, gespielt von fantastisch lebendigen Figuren. In dieser Woche lief vor dem überschaubaren Publikum des Digitalsenders BBC 3 die achte und vorerst letzte Folge. Ich sehne mich jetzt schon nach einer Fortsetzung. Am Montag erscheint die DVD.

Lothar Matthäus

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Bei jedem anderen würde man sich fragen, warum er sich das jetzt noch wieder antut, aber wir reden hier von Lothar Matthäus, und da hat diese Frage irgendwann bei den letzten hundert Malen ihren Sinn verloren. So sitzt er am Donnerstag bei „Markus Lanz“ und sagt: „Es gibt eigentlich gar nichts mehr zu erzählen, weil ich mit meiner Frau vor ein paar Tagen eine dolle Aussprache gemacht habe“.

Es ist nicht leicht, in der Dramaturgie einer solchen Boulevardschlacht noch einen drunterzusetzen unter die Fotos, auf denen man sieht, wie Matthäus die Fotos von der Affäre seiner jungen Frau sieht, unter deren tränenersticktes Bekenntnis, sie habe „mit ihm auch ihre Jungfräulichkeit geschenkt“, unter die Diskussion, wer ihre Brust-Verkleinerung nun bezahlen soll. Matthäus hält es tatsächlich durch, in der ZDF-Show keine schmutzige Wäsche zu waschen. Er verrät nur, dass er ein sehr ordentlicher Mensch sei und im Hotelzimmer Stehlampen, die zu nah an der Wand stehen, immer sofort verrückt, denn sonst hätte man da ja gleich eine Wandlampe hinmachen können.

Dass Matthäus sich auch noch diesen Auftritt antut, hat eine Logik: Die öffentliche Demütigung, der sich der frühere Nationalspieler seit Wochen ausgesetzt sieht und aussetzt, wäre nicht komplett ohne die Erbärmlichkeit, die es bedeutet, sich den Zudringlichkeiten von Markus Lanz auszusetzen. Beste Motoröle neiden dem ZDF-Moderator inzwischen seine Schmierigkeit, und das Gespräch mit Matthäus hat er als Psycho-Verhör angelegt. Er fragt: „Wenn Sie morgens in den Spiegel schauen, mögen Sie sich dann?“ Er setzt nach: „Was mögen Sie an sich?“, und lässt ihm den Ausfluchtversuch, das sollten andere entscheiden, nicht durchgehen: „Sie haben doch ein Bild von sich!“, fordert er streng. Die anderen Gäste, die Moderatorinnen Vera Int-Veen und Sonja Zietlow, schlagen mit grausamer Hilfsbereitschaft Matthäus‘ Ohren und „Super-Haare“ als attraktive Elemente vor. Matthäus lässt sich schließlich dazu hinreißen, seine „sportliche Figur“, die er noch „im hohen Alter“ habe, zu loben. Lanz belohnt ihn mit dem Satz: „Er hat sich unheimlich entwickelt, ist ein Weltenbürger geworden: perfekte Schuhe, perfekte Uhr, perfekt sitzender Anzug.“

Es ist schwer zu beurteilen, ob Matthäus diese Aufmerksamkeit wie alle Aufmerksamkeit genießt. Er wirkt eher wie jemand, der keine Wahl hat, als so lange in allen Medien über sein Privatleben zu reden, bis die Menschen endlich verstanden haben, dass er keiner ist, der in allen Medien über sein Privatleben redet. Lanz beendet das Gespräch mit dem Hinweis, Matthäus sei das ein oder andere Mal enttäuscht worden, „deshalb an Sonja Zietlow die Frage: Sind Hunde die besseren Menschen?“

Spökes, Späßchen, Spiegel Online

Neulich erschien auf „Spiegel Online“ ein Artikel über die Spieler-Transfers in der Bundesliga. Es ging, wenn ich es richtig verstanden habe, darum, dass die Vereine irgendwie bislang gespart haben, was aber nicht unbedingt etwas zu sagen hat; dass noch Geld da ist, das irgendwann weg sein könnte, aber noch nicht so bald; und um den Trend, dass daraus kein Trend abzulesen sei.

Es muss die Hölle gewesen sein, dafür eine Überschrift zu finden. Man kann ja nicht „Irgendwas mit Geld“ oder etwas ähnlich Sinnloses über den Text schreiben.

Natürlich kann man. Es müssen nur genügend Silben mit demselben Buchstaben anfangen. Bitte schön:

Bundesliga-Transfers / Magie des Pinkepinke-Plans

Bei „Spiegel Online“ wird sie noch gepflegt, die alte journalistische Untugend des Überschriften-Stabreims. Mit diesem Eintrag möchte ich dem unbekannten Alliteraten in der Redaktion ein Denkmal setzen.

Die einfachste Form der Überschriften-Alliteration ist die Aufzählung. Man reihe mindestens zwei, besser drei Begriffe aneinander. Die einzelnen Wörter können etwas miteinander zu tun haben, müssen es aber nicht. Auch schmucklosesten Wortkombinationen verleiht der gemeinsame Anfangsbuchstabe billigen Glanz:

Reaktionen auf Volksentscheid / Begeistert, beflügelt, bedröppelt

Geht auch bei ernsten Themen:

Taliban-Offensive nahe Kabul / Herausfordern, hinrichten, herrschen

Schön ist, wenn nicht nur die Anfangslaute stimmen, sondern auch die Zahl der Silben harmoniert und einen schönen Rhythmus ergibt:

Namibia-Fotoblog / Flieger, Forscher und Flamingos

Das ist weniger wichtig, je ungewöhnlicher die verwendeten Wörter sind:

Punks im Comic / Siff, Suff und Selbstauflösung

Ein fehlendes drittes Wort derselben Gattung ist kein Grund zur Verzweiflung:

San Fermin in Pamplona / Wein, Weib und wilde Stiere

Je mehr Wörter mit dem selben Anfangsbuchstaben aneinander gereiht werden können, umso geringer sind die Ansprüche an irgendeinen Sinn der Kombination:

Englands 1:4-Pleite / Rage, Rooney und die Radikal-Rasur

Bonuspunkte gibt es für aufwändige Alliterationsarrangements, die die Dachzeile einbeziehen:

Kriselnde Kanzlerin / Angezählt, allein, aufrecht

Im folgenden Beispiel darf man deshalb davon ausgehen, dass der Stabreimer vom Dienst es verfluchte, dass Frau Cole mit Vornamen nicht Caroline, Christine oder wenigstens Karla heißt:

Cheryl Coles Kollaps / Reiselust, Romantik, Riesenaufregung

Winiwalistisch wirkt hingegen dieses Kleinod:

Weltnaturerbe Wattenmeer / Wiege des Wurms

Wenn ein Geräusch „rätselhaft“ ist, kann es kein Knall sein:

Alarm auf Supertanker / Rätselhafter Rumms auf hoher See

Und wenn es Streit um einen „Hitzestau“ gibt, kann das kein Durcheinander sein:

Bahn-Streit mit ZDF / Hickhack im Hitzestau

Als Alternative zum klassischen Dreiklang bietet sich das Doppelpaar an:

Mexikos Drogenkrieg / Tödlicher Terror im Reich des Rauschs
DVD-Filmbeileger / Scharfe Schwerter, windige Weihnachtsmänner
Gerüchte über Sarkozys Ehekrise / Power-Paar im Tratsch-Tsunami
FDP-Generalsekretär Lindner / Diener, Denker, Liberalen-Lenker
WM-Bilanz / Rasen auf dem Rasen, Pfeifen an den Pfeifen

Das Wort „Stabreim“ geht übrigens auf Snorri Sturluson (1178-1241), den Verfasser der Snorra-Edda (Prosa-Edda oder auch Jüngere Edda) zurück, aber das wussten Sie sicher.

Neonazi-Schutz für Kitas / Bastion gegen braune Brut
Trainer in der Bundesliga / Dominanz der Dauerdirigenten
Zeitlupen-Diskussion / Fandels Fabel-Forderungen
Videogame-Pianist Nuss /
'Final Fantasy' für Feingeister

Sie merken schon, mir fällt dazu nichts mehr ein. Dafür habe ich die Alliterationen hier unten wenigstens alphabetisch sortiert.

Familie und Beruf / Karrierekiller Kind
Comics aus China / Knallbunter Kitsch gegen Kadertreue
EM-Bilanz von Barcelona / Leichtathleten lieben den Löw-Effekt

Kennen Sie die Sendungsreihe „Mumien, Monstren, Mutationen“, die früher im Nord-Dritten lief?

Von der Leyens Hartz-IV-Reform / Meisterprüfung für Merkels Musterministerin
Neuer Truppenchef in Afghanistan / Petraeus predigt permanenten Kampf
Taschenbuch-Bestseller / Preußen, Prunk und Prostitution
Küstenlandschaft in Brasilien / Wind, Wasser, Wunderwelt

Das selbsterklärte Standardwerk „Stilistik für Journalisten“ nennt die Alliteration „eines der reizvollsten Stilmittel“, warnt aber auch (konkret im Zusammenhang mit einer Fünffach-Alliteration), dass ein „Zuviel nicht nur gewollt oder verkrampft, sondern eher parodistisch“ wirkt — schon anhand der Kolumnentitel lässt sich erkennen, dass „Spiegel Online“ gerne bereit ist, diese Risiko in Kauf zu nehmen (falls man nicht realistischerweise bereits vom Verlust von Hopfen und Malz ausgeht):

Achilles' Verse / Rechnen am Riegel-Regal

(Hajo Schumacher nennt sich für seine Lauf-Kolumne Achim Achilles. Sie können sich selbst einen Reim drauf machen, müssen es aber nicht.)

Ganz unumstritten scheint die Alliteratitis auch redaktionsintern allerdings nicht zu sein. In mehreren Fällen ist die Überschrift nachträglich geändert und der Stabreim entfernt worden. Dieses Stück, das jetzt den Titel „Apollo Edgar“ trägt, hatte ursprünglich die Überschrift:

Tante, Transrapid, Transferleistungsempfänger

Wolf Schneider sagt: Wer reimt, opfert fast immer Sinn und stellt die Form über den Inhalt. Und irgendeine Frau hat in irgendeiner Studienarbeit über Überschriften in deutschen und italienischen Zeitungen geschrieben: „Fast scheint die Alliteration als die einfachste kreative Variante und immer einsetzbare Titel-Idee, um noch schnell ein bisschen Witz in den Text zu bringen.“ (Leider disqualifiziert sie sich als Sprach-Expertin mit dem Unfall im nächsten Satz: „Als ob dem stressgeplagten Journalisten, selbst wenn ihm kurz vor Redaktionsschluss gar nichts mehr einfällt, er diese Art von spielerischer Kreativität immer noch aus dem Ärmel zaubern kann.“)

All denen, die im Alliterationswahn von „Spiegel Online“ keinen Beweis von Kreativität, sondern von Schmerzfreiheit sehen, wird es die Redaktion noch zeigen. Spätestens, wenn es eine ihrer Überschriften geschafft hat, ins Allgemeingut überzugehen und eine zeitgemäße Alternative zu Brautkleid, Blaukraut und Fischers Fritz zu werden:

Belastungsprobe für Europas Institute / Stresstest stresst spanische Sparkassen

Nachtrag, 11. August. Zwei tapfere Menschen haben hier schon länger die Gaga-Gags aus den „Spiegel Online“-Überschriften gesammelt — ich habe daraus noch ein paar schöne Stabreimbeispiele oben ergänzt.

Olle Geschichten & journalistische Reflexe

Man müsste mal ausrechnen können, wie hoch der Anteil der journalistischen Inhalte ist, die automatisch generiert werden. Und ich meine damit nicht nur die massenhafte maschinelle Übernahme von Agenturmeldungen in den Online-Medien. Sondern auch Texte, die unreflektiert durch einen schlichten Reflex entstehen.

Ein kleines Beispiel dafür ist die Information, dass der Lobby-Verband der Privatsender VPRT fordert, dass ARD und ZDF weniger Geld ausgeben. Das ist nach ungefähr allen journalistischen Kriterien keine Nachricht. Der VPRT fordert seit Jahren, dass ARD und ZDF weniger Geld ausgeben. Dafür ist der Verband ja da. Er wird auch in Zukunft fordern, dass ARD und ZDF weniger Geld ausgeben, vermutlich unabhängig davon, ob und wieviel ARD und ZDF bis dahin gespart haben.

Weil auch der VPRT weiß, dass es auf Dauer langweilig wird, wenn man immer dasselbe fordert, hat er die Sache in diesem Jahr etwas konkretisiert. „Gigantische Einsparpotentiale“ von mindestens einer Milliarde Euro seien bei ARD und ZDF vorhanden:

So könnte der öffentlich-rechtliche Rundfunk ganz auf Werbung verzichten, ohne dass die Programmqualität leide, unterstrich Verbandspräsident Jürgen Doetz erneut die Lieblingsforderung des VPRT. Der Verband empfahl ARD und ZDF, Digitalkanäle und Radioprogramme einzustellen oder zusammenzulegen sowie die Ausgaben für Sportrechte und Spielfilme zu reduzieren. So ließen sich rund 600 Millionen Euro sparen. Hinzu kämen 300 Millionen Euro Einsparmöglichkeiten bei Übertragungskosten, zum Beispiel von Regionalprogrammen in landesfremden Sendegebieten sowie 145 Millionen Euro Kürzungen bei Personalkosten.

So berichtete die Nachrichtenagentur dpa am 22. Juli (und aus den Formulierungen „erneut“ und „Lieblingsforderung“ kann man fast eine gewisse Müdigkeit des Autors lesen, dem langjährigen Medienredakteur Carsten Rave).

Eine größere Welle entstand damals nicht. Warum auch?

Am Samstag veröffentlichte der „Spiegel“, wie jeden Samstag, seine „Vorabmeldungen“ mit vermeintlich exklusiven Nachrichten aus dem neuen Heft – und damit sind wir beim Thema Reflexe. Was der „Spiegel“ vorab veröffentlicht, gilt automatisch als Nachricht. (Zu Recht, wie „Meedia“-Chefredakteur Georg Altrogge sagen würde, denn der „Spiegel“ ist ein Leitmedium, und wer heute die Qualität von Leitmedien in Frage stellt, isst morgen kleine Kinder.)

Jedenfalls war unter den Vorabmeldungen auch diese mit der Überschrift: „Privatsender sehen bei ARD und ZDF eine Milliarde Euro Sparpotential“. Neu daran war die Information, dass der VRPT seine „Sparvorschläge“ als „zehnseitiges Schreiben an eine neue Arbeitsgruppe der Unionsländer unter dem Vorsitz der Sächsischen Staatskanzlei“ geschickt habe. Der Rest wiederholte im Wesentlichen, was dpa vor zwei Wochen gemeldet hatte.

(Auf meine Frage, warum das trotzdem zur (Vorab-)Meldung des „Spiegel“ taugte, schrieb mir Medienredakteur Markus Brauck: „Neu ist, dass der Verband am 27. Juli  diesen Brief an die Arbeitsgruppe der Länder geschrieben hat, der uns vorlag. Wenn die Arbeitsgruppe demnächst mit Ergebnissen an die Öffentlichkeit kommt, ist es doch gut zu wissen, aus welchen Quellen interessierter Seite sich deren Arbeit gespeist hat.“ – Als ob sich auch nur ein Journalist dann daran erinnern würde!)

Wie wenig selbst der „Spiegel“, der sonst auf alles mitschießt, was öffentlich-rechtlich ist, die VPRT-Forderung für eine echte Nachricht hielt, kann man daran erkennen, dass er die Kürzungsvorschläge sogar in der Vorabmeldung selbst als „relativ willkürlich“ kommentiert und dem Verband die Prämisse, dass die Programmqualität nicht leide, nicht abnimmt.

Aber „Spiegel“-Vorabmeldung ist „Spiegel“-Vorabmeldung und Reflex ist Reflex, und so fand die olle VPRT-Forderung plötzlich weite Verbreitung. Die Nachrichtenagentur AP übernahm sie („Privatsender fordern Milliardeneinsparung von ARD und ZDF“), die Branchendienste „Meedia“, „Kress“, „Turi2“, „DWDL“, „Horizont.net“ und viele andere behandelten sie als aufregende Neuigkeit, der Medienredakteur des „Handelsblattes“ verbrämte die Pi-mal-Daumen-Rechnung gleich zur „Finanzanalyse“.

Besonders anschaulich zeigt der Berliner „Tagesspiegel“, wie willenlos und reflexhaft Medien oft auf das reagieren, was ihren Posteingang erreicht und alle äußerlichen Zutaten einer meldenswerten Nachricht hat („‚Spiegel‘-Vorabmeldung“!!!). Der „Tagesspiegel“ hatte nämlich am 23. Juli schon ausführlich über die aktuelle Strategie des VPRT im Kampf gegen ARD und ZDF berichtet und geschrieben:

Der Verband empfiehlt ARD und ZDF, Digitalkanäle und Radioprogramme einzustellen oder zusammenzulegen und die Ausgaben für Sportrechte und Spielfilme zu reduzieren. So ließen sich rund 600 Millionen Euro an Ausgaben vermeiden. Aus diesen und weiteren Maßnahmen wird ein Sparpotenzial von einer Milliarde errechnet.

Als die Nachricht jetzt noch einmal die Runde machte, meldete er stumpf noch einmal:

In einem zehnseitigen Schreiben an eine neue Arbeitsgruppe der Unionsländer unter dem Vorsitz der Sächsischen Staatskanzlei sieht der PrivatsenderverbandVPRT laut Spiegel online bei den öffentlich-rechtlichen Sendern Einsparpotenziale „von mindestens einer Milliarde Euro“, sogar „unter der Prämisse, dass die Programmqualität nicht leidet“. In dem Hintergrundpapier schlagen die Privatsender zudem die radikale Einstellung aller sechs Digitalkanäle vor, was gut 220 Millionen Euro brächte.

Vielleicht verschickt der VPRT angesichts des großen PR-Erfolges seine Forderungen in Zukunft gar nicht mehr an Journalisten, sondern gleich an die Politik, damit der „Spiegel“ das dann groß aufdecken kann.

(In der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, in der ich auch kurz darüber berichtet habe, habe ich übrigens behauptet, dpa hätte die VPRT-Forderung im Juli gleich zweimal als Neuigkeit verkauft. Das ist falsch.)