Autor: Stefan Niggemeier

Loveparade

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Ein einziger Blick in die Zukunft hätte doch gezeigt… Wie Journalisten nach dem Unglück auf der Duisburger Loveparade zu selbstgerechten Propheten der Rückschau wurden.

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Wenn Journalisten diese Loveparade organisiert hätten, wäre das nicht passiert.

Ungefähr in der Sekunde, in der am Samstag voriger Woche bekannt wurde, was für eine Katastrophe sich in Duisburg ereignet hatte, schlich sich in die Berichterstattung der Gedanke ein, dass genau eine solche Katastrophe absehbar gewesen sei. Bereits in der Live-Berichterstattung des WDR am frühen Abend, als die Moderatoren im Studio und die Reporter vor Ort noch so gut wie nichts wussten, fielen angesichts von Meldungen von Absperrungen erste Formulierungen wie: „Man fragt sich natürlich: Was war das für eine Idee? Das musste doch schiefgehen!“

Später empörten sich Journalisten, dass das doch klar war, dass 1,4 Millionen Menschen nicht auf diesen Platz passen würden (das war, bevor sich herausstellte, dass es viel weniger waren, wobei die Journalisten dann natürlich auch wussten, dass Veranstalter diese Zahlen immer übertreiben). Und schließlich reichte angeblich ein Blick auf eine Karte der Örtlichkeiten, um zu wissen, dass das nicht gutgehen konnte.

Jeder Laie schreibt und sendet, dass jeder Laie das unausweichliche Unglück hätte erkennen können, und die Laien, die als Journalisten arbeiten, fragten schnell, warum das niemand von den Verantwortlichen erkannt hat. Weitgehend ungestellt blieb die Frage, warum, wenn die Mängel so unübersehbar waren, all die Journalisten sie vorher übersehen hatten. Und ob man zu den vielen, die ihrer Verantwortung nicht gerecht wurden, nicht auch die Medien zählen muss.

Ausgenommen natürlich Götz Middeldorf, den Duisburger Lokalchef der „Neuen Ruhr Zeitung“ (NRZ). Die „International Herald Tribune“ zitierte ihn mit den Worten: „Wir waren die einzige Zeitung, die gesagt hat: Nein. Stoppt das. Die Stadt ist nicht vorbereitet. Wir können nicht mit diesen ganzen Leuten fertigwerden.“

Fragt man Middeldorf nach dem entsprechenden Artikel, faxt er einem tatsächlich einen Kommentar vom 3. Dezember 2009 mit der Überschrift: „Stoppt die Loveparade!“ In dem geht es aber mit keinem Wort um die Frage, ob die Stadt für so viele Besucher gerüstet ist. Es geht ausschließlich ums Geld. „Es ist grotesk, ja geradezu pervers“, empörte sich Middeldorf damals, „den Duisburgern über Jahre millionenschwere Kürzungen im Bildungs- und Kulturbereich zuzumuten und zumeist ortsfremden, feierwütigen Jugendlichen einen Tag zum Abfeiern zu bieten.“

Auf Nachfrage räumt Middeldorf ein, dass Sicherheitsbedenken nicht das Thema waren. „Wir waren immer gegen die Loveparade, aber aus anderen Gründen.“ Dann muss die „International Herald Tribune“ ihn mit seinem Lob für die eigene, einzigartige Weitsichtigkeit wohl falsch verstanden haben? „Das vermute ich mal“, antwortet Middeldorf. „Das ist nicht ganz richtig.“ Er klingt nicht zerknirscht.

Er findet dann immerhin noch den Kommentar eines Kollegen, der „eine Party mit Millionen-Publikum neben einer Hauptverkehrsstrecke der Deutschen Bahn“ als „ein Riesenproblem“ bezeichnet hatte. Unaufgefordert schickt seine Redaktion schließlich noch einen Artikel von der Konkurrenz: aus der „Rheinischen Post“ vom 28. Januar. Darin stellt die Zeitung in der Debatte um die Loveparade in Duisburg „Vorurteile“ „Fakten“ gegenüber.

Das liest sich so: „Vorurteil: Die Sicherheit der Besucher, besonders am Ex-Güterbahnhof, ist nicht gewährleistet. Fakt: An den vorbereitenden Gesprächen waren unter anderem auch Polizei, Autobahnpolizei, städtisches Dezernat für Recht und Sicherheit, Feuerwehr und Zivilschutzamt, Ordnungsamt, [die Bahn-Immobilientochter] Aurelis, Bahn AG, Verkehrsverbund Rhein-Ruhr und die Duisburger Verkehrsgesellschaft beteiligt. Die Experten halten die Loveparade in Duisburg im Hinblick auf Sicherheit grundsätzlich für machbar.“

Vielleicht sagt das Fehlen von Recherchen und kritischen Würdigungen des Sicherheitskonzeptes vor dem Ereignis etwas aus über den Zustand des Lokaljournalismus. (WDR und Bild.de waren Medienpartner und also in der Rolle der Jubelperser.) Ganz sicher aber sagt die fehlende Auseinandersetzung der Medien mit ihrem Versagen etwas aus über ihr Selbstverständnis.

Ein einziger Artikel im Internetangebot der WAZ-Gruppe muss als Beleg dafür dienen, dass die Medien vorher schon vor Problemen gewarnt haben. Er referierte mit leichter Skepsis fünf Tage vorher den Optimismus der Planer und trägt die Überschrift „Loveparade wird zum Tanz auf dem Drahtseil“. Unter diesem Artikel finden sich auch mehrere Leserkommentare, die die Planungen als äußerst riskant bewerten – und die im Nachhinein nun wiederum als Beweis dafür gewertet wurden, dass man es vorher hätte wissen müssen.

So wie viele Medien in dem Moment, in dem die Katastrophe passiert war, wussten, dass sie passieren musste, erwarteten sie auch von den Beteiligten unmittelbar Antworten und Schuldbekenntnisse. Keine Frage: Die Pressekonferenz, die Stadt, Behörden und Veranstalter am Sonntagmittag abhielten, war erschütternd. Aber der Anspruch von Medien, angetrieben durch die Taktgeber von „Spiegel Online“, dass keine vierundzwanzig Stunden nach einem solchen Ereignis keine Fragen offen bleiben dürfen, spiegelte nicht nur das Quengeln einer unter Aufmerksamkeits-Defizit-Störung leidenden Branche wider, sondern auch die ganze Anmaßung der Rolle als Ankläger, die viele Medien nun eingenommen hatten – und sich irgendwann mit der Forderung nach Rücktritten zufriedengaben. (Götz Middeldorf, natürlich, der in seiner Rücktrittsaufforderung an den Oberbürgermeister schrieb: „Sie haben die Augen verschlossen vor möglichen Risiken, die nicht nur im NRZ-Internetportal Der Westen seit Wochen geäußert wurden.“ Middeldorfs eigene geschlossene Augen sind offenbar weder der Rede noch des Rücktritts wert.)

Es ist eine bemerkenswerte Selbstgerechtigkeit, die durch viele Berichte schimmert, befeuert durch publizistische Glücksfälle wie den, dass der neue Loveparade-Veranstalter Rainer Schaller sein Engagement einmal als „Himmelfahrtskommando“ bezeichnet hatte. Reflexartig wiederholt wurde auch die angebliche Ultra-Kommerzialität der Veranstaltung – ein Vorwurf, den man trotz freien Eintritts anscheinend nicht einmal belegen muss. „Monitor“ fand es irgendwie schon anrüchig, dass ein Limonadenhersteller als Sponsor einen „fünfstelligen Beitrag“ zahlte. Der Vorwurf der Geldmacherei gipfelte auf paradoxe Art darin, zu erwähnen, dass Schaller die Loveparade Millionen koste, die er aber als Verlust von den Steuern abziehen könne. Für „Spiegel-TV“ ist das gar „die einzig gute Nachricht an diesem Wochenende in Duisburg: Der kommerzielle Massenwahn hat keine Zukunft mehr.“

Die Leute von „Spiegel-TV“ waren mit vielen Kameras vor Ort, um eigentlich ihre übliche herablassende Event-Reportage zu produzieren. Sie waren sich im Rausch des Schreckens für nichts zu schade. „Die Marke Loveparade wird für immer überschattet von einem einzigen tödlichen Wort“, knarzt der Sprecher am Anfang: „Duisburg.“ Die Gesichter haben sie unkenntlich gemacht, immerhin, aber sonst zeigen sie alles: Wir sehen die verzweifelten Wiederbelebungsmaßnahmen vor Ort und das Durcheinander in der Notaufnahme („Emergency Room Duisburg“), wo die „Spiegel-TV“-Leute allem Anschein nach Ärzte von der Arbeit abhalten.

Die Reportage erzählt das Geschehen vor der Katastrophe in dem Wissen um das, was später passieren wird. Schon das Aufstellen von Absperrungen hat da etwas Anrüchiges: „Auch die Polizei glaubt noch, etwaige Probleme mit Gittern aus Eisen lösen zu können“, kommentiert der Sprecher. Was nicht passt, wird passend gemacht: Zu Szenen, wie sich verzweifelte Menschen gegenseitig helfen, heißt es: „Es herrscht das Gesetz des Stärkeren. Es ist ein Kampf auf Leben und Tod in einer Menschenmenge außer Kontrolle.“ Die üblichen Kriterien bei der Auswahl, wer zuerst behandelt wird, werden bedeutungsschwanger zu einer „Methode der Militärmedizin“, denn natürlich: „Es sind Szenen wie im Krieg.“

Das als „Rekonstruktion“ verbrämte Machwerk zeigt, wie am Morgen im Bahnhof ankommende Jugendliche von Polizisten gebeten werden, das Rauchverbot zu beachten. Der Kommentar dazu lautet: „Eine tragische Geste der Ordnungsmacht, angesichts der Ereignisse, die die Stadt wenige Stunden später erschüttern wird.“ Man könnte diesen Satz sinnlos nennen, frivol oder zynisch. Er wirkt auch als Symbol für die Haltung einer Branche, die hinterher immer alles schon vorher gewusst hat.

Anwalt Schertz verliert gegen „Stalker“ (4)

Der Berliner Medienanwalt Christian Schertz kämpft weiter für und gegen seinen vermeintlich guten Ruf. Beim Landgericht Frankfurt hat er beantragt, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ zur Zahlung eines „empfindliches Zwangsgeldes“ zu verurteilen, weil sie die von ihm gerichtlich durchgesetzte Gegendarstellung nicht wie vorgeschrieben abgedruckt habe.

Schertz‘ Anwältin bemängelt unter anderem, dass die Überschrift nicht gefettet und der Text über zwei Spalten verteilt gewesen sei, die Gegendarstellung nicht am Beginn einer neuen Spalte begonnen und anstelle von Absätzen lediglich „Zahlenumbrüche“ [sic] enthalten habe. Außerdem habe die FAZ die Gegendarstellung durch die längere Anmerkung der Redaktion entwertet. Dass das von der Redaktion so beabsichtigt gewesen sei und auch vom Leser so verstanden werde, könne man auch an meiner Kommentierung hier im Blog erkennen.

Schertz stößt sich auch daran, dass die FAZ die Einschätzung des Landgerichtes wiedergegeben habe, mit seinem Vorgehen „verkenne der Anwalt ‚Sinn und Zweck des Rechtsmittels der Berufung'“. Das sei erstens falsch, denn im Urteil sei nicht von dem „Anwalt“, sondern dem „Kläger“ die Rede. (Der Kläger ist der Anwalt.) Zweitens diene dieser Teil der redaktionellen Anmerkung nur dazu, ihn, Schertz, vorzuführen:

„ihn ins Lächerliche zu ziehen, d.h. als einen Anwalt darzustellen, der die Grundregeln der Berufung verkenne.“

Ich kann nicht beurteilen, wie groß Schertz‘ Chancen sind, die FAZ zu einem „empfindlichen Zwangsgeld“ oder zu einem erneuten Abdruck der Gegendarstellung zu verurteilen. Aber meiner Meinung nach müsste ihn, zu seinem eigenen Besten, jemand mal sachte beiseite nehmen und ihm erklären, dass der Kern des Problems mit der Lächerlichkeit vielleicht nicht die Veröffentlichungen über sein Handeln sind, sondern sein Handeln.

Ursprung des ganzen Verfahrens ist der vorläufig gescheiterte Versuch von Schertz, einen lästigen Kritiker dadurch mundtot zu machen, dass er ihn gerichtlich zum Stalker erklären und so u.a. aus dem Gerichtssaal verbannt lässt.

Die Vorgeschichte:

(Hinweis: Ich bin freier Mitarbeiter der FAZ. Dies hier ist meine persönliche Meinung.)

Eva Herman vermutet Gott hinter Massenpanik

Wenn es noch eines Symbols für die Radikalisierung der früheren Nachrichtensprecherin Eva Herman bedurft hätte, hat sie es heute mit ihrem Kommentar zur Katastrophe auf der Love Parade selbst geliefert. Eva Herman vermutet, dass vielleicht ein Akt Gottes dafür gesorgt hat, dass es zu der tödlichen Massenpanik kam, um auf diese Weise die sündige Veranstaltung, das „Sodom und Gomorrha“, für immer zu beenden. Sie formuliert es so:

(…) das amtliche Ende der „geilsten Party der Welt“, der Loveparade, dürfte mit dem gestrigen Tag besiegelt worden sein! Eventuell haben hier ja auch ganz andere Mächte mit eingegriffen, um dem schamlosen Treiben endlich ein Ende zu setzen.

Ursprünglich war an dieser Stelle in ihrem Artikel ein Foto von zwei knutschenden Frauen zu sehen. Vielleicht war das kein Zufall. Vielleicht hat der grausame Gott, an den Eva Herman glaubt, nicht nur etwas gegen Zügellosigkeit, Drogenmissbrauch und schlechte Musik, sondern ganz speziell auch gegen Homosexualität. Unwahrscheinlich erscheint mir das nicht.

Schuld an den Toten sind nach Ansicht von Eva Herman letztlich die Achtundsechziger.

Die unheilvollen Auswüchse der Jetztzeit sind, bei Licht betrachtet, vor allem das Ergebnis der Achtundsechziger, die die Gesellschaft „befreit“ haben von allen Zwängen und Regeln, welche das „Individuum doch nur einengen“. Wer sich betrunken und mit Drogen vollgedröhnt die Kleider vom Leib reißt, wer die letzten Anstandsrnormen feiernd und tanzend einstürzen lässt, und wer dafür auch noch von den Trägern der Gesellschaft unterstützt wird, der ist nicht weit vom Abgrund entfernt. Die Achtundsechziger haben ganze Arbeit geleistet!

Eva Herman meint, am Tag nach dem Tag, an dem 19 Menschen unter furchtbaren und letztlich noch ungeklärten Umständen ums Leben gekommen sind und Hunderte verletzt wurden, müsse man die Frage stellen nach der Verdorbenheit der Veranstaltung an sich, die für sie auch als Ursache für das Unglück festzustehen scheint. Eva Herman glaubt, dass man in diesem Land quasi gezwungen war, die Love Parade gutfinden zu müssen:

Kritik an dieser Veranstaltung war schließlich auch schon in den letzten Jahren politisch unkorrekt.

Eva Herman liefert für diese erstaunliche These keinelei Beleg, aber den braucht sie auch nicht. Eva Herman wird, wenn sie nun von vielen Menschen für ihren dummen und unanständigen Text angegriffen wird, das als weiteren Beweis dafür sehen, dass es in diesem Land Denk- und Sprechverbote gibt.

Dabei darf sie das alles denken und sagen. Und ich darf sie dafür verachten.

Sven Lorig

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Der Plan war, über Sven Lorig zu schreiben, einen der Nachfolger Jörg Pilawas am ARD-Show-Fließband, was, zugegeben, angesichts der Schlafhormone, die er verströmt, ein gewagter Plan war, aber immerhin nicht ganz unmöglich erschien. Doch dann war in der „großen ARD-Weltreise“, die Lorig nun moderiert, auch noch Jens Riewa als Kandidat zu Gast, der erzählte, dass er immer seine Nachtischlampe in den Urlaub mitnimmt, weil die so schönes rotes Licht macht, und vor lauter Langewwwww

Die neue BBC-Serie „Mongrels“ beginnt damit, dass die Katze Marion ihrer betagten Besitzerin erzählt, wie sehr sie sie mag. Dann fällt die Frau über ein Wollknäuel und fällt die Treppe hinunter, und in der nächsten Szene sehen wir, wie Marion versucht, sie durch Maul-zu-Mund-Beatmung wiederzubeleben. „Gib’s auf, das wird nichts mehr“, sagt eine Katze neben ihr. „Das weißt du nicht, du bist kein Arzt.“ – „Aber es sind jetzt vier Monate!“ Marion lässt ab von der Frau, die anderen Tiere machen sich über die Leiche her, und der Zuschauer hat keinen Zweifel mehr, dass dies keine normale Puppenserie ist. „Mongrels“ läuft erst um 22.30 Uhr auf dem schmutzig-kleinen Digitalkanal BBC Three und überschreitet in den Geschichten über Marion, zwei Füchse, eine eitle Afghanische Windhündin und eine gewalttätige Taube in London fast alle Grenzen. Weder echte Serienkiller noch Anne Frank sind als Themen für Anspielungen tabu, und so unglaublich geschmacklos die Witze sind: Sie sind lustig.

Die Charaktere schillern clever zwischen menschlichen Verhaltensweisen und den unüberwindlichen Einschränkungen eines Tieres und erzählen typische Dramen moderner Großstädter: Wie das von dem Fuchs, der sich auf Facebook als Mensch ausgibt und so in eine Frau verliebt, die sich beim ersten Date aber als Huhn herausstellt, was sich langfristig trotz aller gemeinsamen Interessen als ein unüberwindliches Hindernis erweist. (Am Ende verliert das Huhn seinen Kopf, aber nur, weil es den Fuchs, nachdem er aus der Mikrowelle flüchten konnte, mit dem Tranchiermesser angegriffen hat.)

„Mongrels“ sprüht vor Originalität und Lust an der Provokation. Wäre es nicht schön, wenn sowas im deutschen Fernsehen wenigstens denkbar wäre?

Chronisch krank

Es ist alles noch viel schlimmer.

Seit über einem Jahrzehnt schreibt der Journalist Christoph B. Schiltz für die „Welt“ auf der Grundlage einer Statistik des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) immer wieder über den jeweiligen Krankenstand in Deutschland. Seit über einem Jahrzehnt missversteht er, was diese Statistik misst, und interpretiert die Zahlen falsch. Und seit über einem Jahrzehnt übernehmen Nachrichtenagenturen und vermeintliche Qualitätsmedien seine falschen Interpretationen.

Das BMG misst den Krankenstand mit der Statistik KM 1/13. Es ist eine höchst ungenaue Messung, und die Regierung räumt das selbst auch ein. Es handelt sich um eine Stichtagserhebung: Die Krankenkassen melden dem Ministerium, wieviel Prozent ihrer Versicherten am Ersten eines jeden Monats vom Arzt krankgeschrieben waren. Wenn eine Grippewelle Deutschland vom 5. bis 25. Februar lahmlegt, taucht das in der Statistik nicht auf. Wenn der Erste eines Monats auf einen Sonntag fällt, liegt der gemeldete Krankenstand für diesen Monat niedriger als wenn er auf einen Montag fällt, weil sich am Wochenende weniger Menschen neu krankschreiben lassen. Wegen der Feiertage am jeweiligen Monatsanfang fallen die gemeldeten Krankenstände im Januar und Mai immer relativ niedrig aus. Und weil die Statistik nur ärztliche Krankschreibungen zählt, erfasst sie Kurzzeiterkrankungen in der Regel nicht, weil für ein oder zwei Tage Fehlen meistens kein Attest nötig ist.

Die Aussagekraft der Zahlen ist also sehr gering, aber wenn man die Einschränkungen kennt, kann man natürlich dennoch interessante Rückschlüsse aus ihnen ziehen.

Christoph B. Schiltz kennt sie nicht. Christoph B. Schiltz glaubt, dass die Prozentangaben in der Statistik des BMG nicht das Verhältnis der Krankgeschriebenen zu den Nicht-Krankgeschriebenen am jeweiligen Stichtag angeben, sondern das Verhältnis der Fehlzeiten zur Soll-Arbeitszeit im jeweiligen Monat. Das tun sie nicht.

Oder wie das Gesundheitsministerium formuliert: „Schlüsse auf eine Differenz zur Sollarbeitszeit oder auf die Zahl der Fehl-Arbeitstage pro Jahr lassen sich nicht ziehen.“

Diese Schlüsse zieht Christoph B. Schiltz aber seit mindestens 1998. Er hat den Zahlen in zig Artikeln in der „Welt“ und ihrer Teilkopie „Berliner Morgenpost“ eine Bedeutung zugeschrieben, die sie nicht haben. Er tut das mit großer Routine.

„Welt“, 27.7.1999:

Nach der neusten Statistik des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), die der WELT vorliegt, fehlten die 30,1 Millionen Arbeitnehmer im ersten Halbjahr 1999 4,25 Prozent der Sollarbeitszeit. Dies entspricht 4,62 Arbeitstagen und einem Anstieg von 6,2 Prozent gegenüber den ersten sechs Monaten 1998.

„Welt“, 20.1.2000:

Laut Statistik des Bundesge-sundheitsministeriums (BMG), die der WELT vorliegt, fehlten die 32,08 Millionen Arbeitnehmer im Jahr 1999 4,25 Prozent der Sollarbeitszeit. Dies entspricht einer Fehlquote von 9,4 Arbeitstagen.

„Welt“, 5.7.2000:

Laut der neuesten Statistik des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), die der WELT vorliegt, fehlten die 31,9 Millionen Arbeitnehmer im ersten Halbjahr 4,23 Prozent der Sollarbeitszeit. Dies entspricht einer Fehlquote von 4,6 Arbeitstagen.

„Welt“, 31.7.2002:

Laut Statistik des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), die der WELT vorliegt, fehlten die Arbeitnehmer im ersten Halbjahr 4,18 Prozent der Sollarbeitszeit – ein Minus von vier Prozent gegenüber dem Vorjahr. Dies entspricht 5,1 Arbeitstagen.

„Welt“, 15.10.2002:

Nach den neuesten Erhebungen des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), die der WELT vorliegen, fehlten die Arbeitnehmer zwischen Januar und September 2002 insgesamt 4,02 Prozent der Sollarbeitszeit (Vorjahr: 4,17 Prozent). Dies entspricht 6,6 Arbeitstagen.

„Welt“, 2.1.2003:

Nach den neuesten Erhebungen des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS), die der WELT vorliegen, fehlten die Arbeitnehmer im vergangenen Jahr vier Prozent der Sollarbeitszeit. Dies entspricht 8,8 Arbeitstagen.

„Welt“, 21.10.2003:

Nach den neuesten Erhebungen des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS), die der WELT vorliegen, fehlten die Arbeitnehmer zwischen Januar und September 2003 aus Krankheitsgründen durchschnittlich 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit. Dies entspricht 5,8 Arbeitstagen und bedeutet einen Rückgang von 11,2 Prozent gegenüber dem vergleichbaren Vorjahreszeitraum (4,03 Prozent der Sollarbeitszeit).

„Welt“, 29.12.2003:

Laut neuen Statistiken des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS), die der WELT vorliegen, fehlten die Arbeitnehmer im abgelaufenen Jahr 3,6 Prozent derSollarbeitszeit. Dies entspricht 8,97 Arbeitstagen.

„Welt“, 20.12.2004:

Laut neuesten Statistiken des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung fehlten die 34,1 Millionen Arbeitnehmer im abgelaufenen Jahr aus Krankheitsgründen 3,3 Prozent der Sollarbeitszeit. Dies entspricht einer Fehlquote von 7,35 Arbeitstagen.

„Welt“, 15.1.2007:

Nach neuesten Erhebungen des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), die der WELT vorliegen, fehlten die Arbeitnehmer 2006 im Durchschnitt 3,29 Prozent der Sollarbeitszeit. Das entspricht 7,2 Arbeitstagen.

„Welt“, 28.12.2009:

Im abgelaufenen Jahr fehlten die Arbeitnehmer in Deutschland laut neuen Statistiken des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), die der WELT vorliegen, 3,3 Prozent der Sollarbeitszeit. Dies ist ein Gleichstand gegenüber dem Vorjahr und entspricht 7,3 Arbeitstagen.

„Welt“, 19.7.2010:

Die Arbeitnehmer fehlten in den ersten sechs Monaten laut den neuesten Statistiken des Bundesgesundheitsministeriums (BMG), die der WELT vorliegen, 3,58 Prozent der Sollarbeitszeit – das sind zehn Prozent mehr als im vergleichbaren Vorjahreszeitraum. Die Fehlquote entspricht vier Arbeitstagen.

(Kleine Auswahl.)

Allein fast ein Dutzend Mal vermeldete Schiltz in der „Welt“, dass der Krankenstand auf ein „Rekordtief“ gefallen sei. Ungefähr ein Jahrzehnt lang variierte er minimal den Satz: „Arbeitsmarktexperten nennen als wichtigste Gründe für den niedrigen Krankenstand die schwache Konjunktur und die Angst der Arbeitnehmer, in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit im Krankheitsfall den Job zu verlieren.“ Gleich dreimal zitierte er den Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Nürnberger Bundesagentur für Arbeit, Joachim Möller, mit demselben Satz: „In wirtschaftlichen Krisenzeiten sinken tendenziell die Krankenstände.“

Das mag immerhin stimmen. Schiltz‘ Zahlen stimmen nicht. Noch einmal: Man kann aus den der „Welt“ jeweils „vorliegenden“ „neuesten“ Statistiken des BMG weder die Fehlzeit als Anteil der Sollarbeitszeit errechnen, noch die entsprechenden Arbeitstage.

Fast amüsant ist es nachzulesen, wie Schiltz die Schwankungen der Monatswerte von Jahr zu Jahr notiert, ohne die einfache Erklärung dafür zu erkennen. Am 16.4.1999 zum Beispiel notierte er in der „Welt“:

Besonders deutlich war der Anstieg in den Monaten Februar und März [1999 gegenüber 1998].

Ich verrate Ihnen und ihm ein Geheimnis: Die Stichtage für die Erhebung, der 1. Februar und der 1. März, waren 1998 Sonntage, 1999 Montage. Alles andere als ein besonders deutlicher Anstieg in der Zahl der Krankgeschriebenen an diesen Stichtagen 1999 wäre wahrlich bemerkenswert gewesen. Aber Schiltz glaubt ja, es handele sich um die Fehlzeiten.

Immer wieder betont er in seinen Jahres-, Halbjahres und Quartalberichten auch, dass der Krankenstand im Januar besonders niedrig gewesen sei. Nun ja: Da ist Stichtag Neujahr. Die meisten frisch Erkrankten werden erst am 2. Januar zum Arzt gehen und somit in der Januar-Statistik fehlen.

Nun könnte man das alles abtun als die erstaunliche, und doch irgendwie nicht überraschende Geschichte eines Journalisten, der vor vielen Jahren eine Statistik für sich entdeckt, sie aber in all den Jahren nicht verstanden hat. Es ist aber alles noch schlimmer. Seine Fehlinterpretation gibt seine Zeitung routinemäßig an die Nachrichtenagenturen, die sie routinemäßig ungeprüft zu Meldungen verarbeiten, die andere Zeitungen routinemäßig ungeprüft weiterverbreiten.

Allein die Nachrichtenagentur dpa vermeldete seit 1998 mindestens zwei Dutzend Mal die falschen Anteile der „Soll-Arbeitszeiten“ unter Berufung auf die „Welt“. Aber auch AP, AFP, Reuters, epd fielen auf den cleveren ahnungslosen „Welt“-Journalisten und seine Vorabmeldungen herein. Der Unsinn erschien im Laufe der Jahre u.a. in „Berliner Zeitung“, „B.Z.“, „taz“, „Bild“ und „Süddeutscher Zeitung“.

Seit vergangenem Jahr scheint das Gesundheitsministerium zu versuchen, mit Pressemitteilungen gegenzusteuern. Mit welchem Erfolg können Sie im BILDblog nachlesen. Aber natürlich auch erraten.

Nachtrag, 20.20 Uhr. BILDblog-Leser Christian M. hat nachgerechnet und ein weiteres Detail dieses umfassenden Desasters offengelegt:

Wenn man um die Sache mit den Stichtagen weiß, bleibt von den aktuellen Meldungen über den (angeblich wegen der besseren Konjunktur) sprunghaft gestiegenen Krankenstand im ersten Halbjahr nichts, aber auch gar nichts übrig. Es verhält sich nämlich so, dass von den sechs Stichtagen 2009 gleich fünf auf einen Sonn- oder Feiertag fielen. 2010 waren das nur zwei. Das ist der Grund, warum der Krankenstand im ersten Halbjahr 2010 scheinbar sprunghaft gestiegen ist.

Livestylejournalismus

Die ersten Leserreaktionen schwanken zwischen Unverständnis und wütender Ablehnung; einige werfen Michalis Pantelouris Sensationslust und das Ausschlachten von persönlichem Leid für eine Art Soap vor. Ich bin mir sicher, dass seine Absicht das Gegenteil ist, aber ich kann die Zweifel verstehen.

Michalis ist freier Journalist mit buntem Lebenslauf, der unter print-wuergt.de bloggt. In der kommenden Woche fliegt er nach Griechenland, um die Wahrheit über den merkwürdigen Tod einer 26-jährigen Berlinerin vor drei Jahren in Athen herauszufinden — oder wenigstens dessen rätselhaften Umstände zu schildern. Die Leser können ihn bei seinen Recherchen quasi live begleiten: Michalis will sämtliche Ergebnisse seiner Arbeit kontinuierlich veröffentlichen, Akten und Videos von seinen Interviews ungekürzt online stellen. Er will dabei nicht auswählen; die einzigen Grenzen bei sollen die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen und der gute Geschmack sein — und dann will er es entsprechend begründen.

Es ist ein Experiment. Es soll ein Versuch sein, Journalismus radikal anders zu verstehen und zu praktizieren. Michalis Pantelouris sagt:

Ich glaube, Journalisten und Medienunternehmen nutzen nicht einmal im Ansatz die wahren Möglichkeiten des Internet. Denn das Netz ist ja nicht nur multimedial und schnell, sondern auch grenzenlos in Bezug auf Platz, geradezu archivarisch ewig in Bezug auf die Bestandsdauer von Geschichten, und interaktiv.

Das hat relativ weit reichende Implikationen, die beabsichtigt sind. Journalisten sind beauftragt von ihren Lesern, sie arbeiten aus meiner Sicht per Definition in der Öffentlichkeit und sollten für diese Leser so direkt wie irgend möglich auch erreichbar sein. Wenn ich all meine Rechercheergebnisse veröffentliche, bin ich durch meinen Auftraggeber, den Leser und Nutzer, überprüfbar. Das ist für fast jeden anderen Berufsstand selbstverständlich, aber für uns, für Publizisten, deren Beruf sich vom Publikum ableitet, ist es das im Moment überhaupt nicht. Das halte ich für falsch.

Ich weiß, dass das Urteil dabei vernichtend sein kann. Es kann sein, dass ich am Ende als mittelmäßiger oder gar schlechter Reporter dastehen kann. Das ist nicht einmal unwahrscheinlich. Nichts an dieser Geschichte ist gefaked oder eingefädelt, die Wahrscheinlichkeit ist also eher hoch, dass ich nicht mehr als die Geschichte berichten kann, ohne ihr wichtiges Neues hinzufügen zu können. Es wird irre peinlich sein, wenn ich wichtige Gesprächspartner einfach nicht erreiche, was in Athen im Sommer passieren wird. Und ich bin nervös deswegen. Aber die Freude darüber, tatsächlich eine neue Form ausprobieren zu können, von der ich glaube dass sie potenziell zu einer Entwicklung des Journalismus beitragen kann, überwiegt ein kleines bisschen.

Ich finde, Leser (auch ich als Leser) haben ein Recht darauf, Journalisten anweisen und kontrollieren zu können. Aber tatsächlich ist die Realität so, dass Journalisten sich pausenlos untereinander tolle Anekdoten erzählen mit dem Zusatz „kann man aber nicht Drucken“. Statt als Vermittler von Informationen sehen sie sich als Hüter und Filter von Informationen. Ich glaube, das ist die schädlichste singuläre Entwicklung im Journalismus überhaupt.

Das muss sich ändern, Schritt für Schritt. Und ich habe das Gefühl, die Möglichkeit zu bekommen, ein echt viel versprechendes Experiment in die richtige Richtung machen zu dürfen. Das steht hinter der Geschichte zurück, das muss klar sein und ist mir bewusst, wir reden hier über einen Menschen, der ums Leben gekommen ist, über einer erschütterte Familie, über Schicksale.

Als Medium, das ihm diesen Versuch ermöglicht, hat er die Lifestyle-Zeitschrift „Neon“ gewinnen können. Unter http://www.neon.de/alle/livereportage wird er berichten. Zunächst von seinem Besuch bei den Eltern der jungen Frau in Berlin, dann aus Griechenland, wo er unter anderem zum Tatort fahren und mit Anwälten, Zeugen und Tatverdächtigen reden will.

Er glaube nicht, dass Journalismus objektiv sein könne, sagt Michalis, und deshalb müsse er wenigstens überprüfbar sein — dadurch, dass er möglichst viel Material online stellt, seine Bewertungen nachvollziehbar und den Kontext überprüfbar macht. Natürlich würden nicht viel Leute von der Möglichkeit Gebrauch machen, aber schon der eine, der es tue, und vielleicht sogar Anregungen für weitere Recherchen gebe, mache einen Unterschied. Die fehlende Transparenz von Journalisten sei einer der Hauptgründe, warum die Leute heute Journalisten nicht trauen, sagt Michalis.

Eine gute Woche will er wahrscheinlich vor Ort in Griechenland sein, die ersten Tage in Athen, dann vermutlich auf Kreta. Der Erfolg des Projektes hänge aber nicht davon ab, ob er tatsächlich etwas Neues herausfinde — auch wenn das, wenn es gelingt, natürlich die Freude jedes Reporters sei. „Ich bin in erster Linie Chronist, nicht Ermittler“, sagt er.

Das ist eine wichtige Unterscheidung, und ich glaube, die Unschärfe zwischen diesen beiden Rollen ist ein Grund für die Skepsis gegenüber dem Projekt. Ich nehme Michalis Pantelouris, den ich ein bisschen kenne, seine hehren Ziele ab. Er brennt für dieses Experiment und es macht Spaß, sich endlos von ihm vorschwärmen zu lassen, wie sich der Journalismus verändern könnte und müsste. Andererseits hat die Geschichte für mich auch etwas Frivoles. Mag ja sein, dass sich durch eine solche Arbeitsweise der Informationsanspruch des Publikums besser befriedigen lässt, ganz sicher aber bedient sie auch das Unterhaltungsbedürfnis des Publikums. Macht er aus einem tragischen Schicksal nicht einen aufregenden Live-Krimi? Wird das Geschehen durch eine solche Art der Aufbereitung als Fotsetzungsgeschichte nicht sogar fiktionalisiert — genau das Gegenteil dessen, was Pantelouris behauptet und erreichen will?

„Je unmittelbarer ich eine Information vermittle“, sagt Pantelouris, „desto mehr berührt und bewegt sie das Publikum. Wenn ich einen Totenschein sehe, ist das etwas anders, als wenn ein Journalist schreibt, wie jemand gestorben ist.“

Ich finde es einen aufregenden Versuch, und ich drücke ihm die Daumen, dass er gelingt — schon weil es viel mehr Experimente mit den neuen journalistischen Formen, die das Internet bietet, und viel mehr Diskussionen über die Zukunft des Journalismus geben muss. Ich glaube auch, dass fehlende Transparenz, oder viel grundlegender noch: fehlende Wahrhaftigkeit ein Hauptproblem des Journalismus heute ist. Aber ich habe, wie viele Kommentatoren auf neon.de, meine Zweifel, dass ein solches persönliches Schicksal, ein solcher Kriminalfall das richtige Thema für ein solches Experiment ist. Bei mir bleibt ein mulmiges Gefühl.

Zeitung verkauft Leser für Strumpf

Korrektur, 11:58 Uhr. Ich Depp habe „Neue Westfälische“ und „Westfälische Nachrichten“ miteinander verwechselt. Die folgenden Bemerkungen stimmen natürlich trotzdem — beziehen sich aber auf zwei verschiedene Zeitungen. Entschuldigung!

Am Dienstag war ich Teilnehmer einer Diskussion der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn zum Thema „Blog gegen Print“. Mit mir auf dem Podium saß unter anderem Thomas Seim, der Chefredakteur der „Neuen Westfälischen“. Der sagte viele vernünftig klingende Sachen darüber, dass klassische Medien selbstverständlich Blogs als Quellen nutzen und selbst den Umgang mit solchen Formen üben sollten, und dass eine Funktion von Tageszeitungen in der Zukunft auch sein werde, ihren Lesern durch Auswahl, Gewichtung und Überprüfung einen Überblick über die verwirrend vielen und teils zweifelhaften Inhalte im Netz zu verschaffen.

Seim benutzt aber den alten Trick, so zu tun, als hätten sich Tageszeitungen als Garanten all dessen erwiesen, was nun im Internet verloren zu gehen drohe: Eine klare Trennung von redaktionellen und werblichen Inhalten, zum Beispiel. Dazu seien Zeitungen nämlich schon durch den Pressekodex verpflichtet, sagte Seim. Im Internet gebe es solche Regeln nicht.

Und damit zu einem ganz anderen Thema.

Am Mittwoch besuchte „Miss Germany“ Anne Julia Hagen die Firma Jentschura in Roxel bei Münster. Die „Neue Westfälische“ „Westfälischen Nachrichten“ berichten ausführlich über dieses Ereignis. „Miss Germany schläft mit Strümpfen“ titelt sie und schreibt:

(…) Die amtierende „Miss Germany“, die keine Currywurst mag, dafür aber Kartoffelsalat, kam nicht aufgemotzt und schon gar nicht in Nylons daher.

Natürlich schön, dezent gebräunt und mit dem richtigen Mix aus geschmeidigen Bewegungen und einer Portion Selbstbewusstsein setzte sich die 20-Jährige für die Fotografen und Kameraleute in Szene – inklusive langer Mähne, einem bezaubernden Lächeln und sexy Augenaufschlag. Die Berlinerin schwört auf „Basische Strümpfe“, von denen die Firma Jentschura in Roxel täglich 250 Stück an die Beine bringt.

Und was bringt das? Miss Germany: „Meine Beine fühlen sich danach toll an, irgendwie leicht. Und die Haut ist streichelzart und sieht einfach gut aus“, strahlt Anne Julia Hagen, die im Februar dieses Jahres mit Krönchen und Schärpe ausstaffiert wurde und die Strümpfe bereits seit drei Jahren überstreift. „Meine Mutter hat mich auf den Geschmack gebracht“, erzählt die Beauty-Queen von der gesunden Lebensart ihrer 43-jährigen Frau Mama auf basische Art.

Am Mittwoch lernte Anne Julia Hagen die Textilmanufaktur in Roxel kennen, die diese Produkte weltweit auf den Markt bringt. Und demonstrierte die Handhabung der Strümpfe. In einer Schüssel mit Wasser verrührte die schöne Miss mit den Maßen 90 – 66 – 93 bei einer Größe von 1,74 Metern einen vollen Teelöffel einer basischen Mineralienmischung. Darin tauchte sie die Baumwollstrümpfe kurz ein, um sie danach gut auszuwringen und ihre Beine in die feuchten Strümpfe zu stecken. Darüber streifte sie sich galant trockene Strümpfe aus reiner Schurwolle über – und fertig war die bestrumpfte Miss Germany, die am liebsten nachts die Strümpfe trägt. Auch bei warmen Temperaturen.

„Am Morgen fühle ich mich einfach wohl, die Beine wirken schlanker“, so die Erfahrung von Deutschlands schönster Frau, die an der Universität Potsdam Kulturwissenschaften, Anglistik und Amerikanistik studiert. (…)

In einer neunteiligen Bildergalerie kommen die „Westfälischen Nachrichten“ ihrer Chronistenpflicht nach und demonstriert mit Fotos, die der Laie leicht mit Werbeaufnahmen verwechseln könnte, wie sehr solche Wollstulpen eine junge Frau entstellen schmücken.

Und in einem vorbildlichen multimedialen Einsatz produzierte die Journalistin der „Westfälischen Nachrichten“ gemeinsam mit dem Fotografen gleich auch noch einen gut halbminütigen Nachrichtenfilm:

Deutschlands aktuell schönste Frau, Anne Julia Hagen, war gestern in Roxel. Die Berlinerin schaute sich in der Firma Jentschura um – weil hier Basische Strümpfe produziert werden. Und auf diese schwört die seit Februar amtierende Miss Germany bereits seit drei Jahren. (…)

Und das ist natürlich — anders als die schnöde Tatsache, dass Frau Hagen einfach einen Werbevertrag mit der Strumpffirma hat — eine Nachricht für die Journalisten von den „Westfälischen Nachrichten“. Die Zitate der Miss Germany stammen übrigens teilweise aus der Pressemitteilung des Unternehmens selbst.

Ich weiß nicht, ob der Artikel auch in der gedruckten Ausgabe der „Westfälischen Nachrichten“ erschienen ist. Andererseits: Kann ja nicht. In Print ist Schleichwerbung ja verboten.

[via Jörg-Olaf Schäfers]

Paul

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Falls Sie die letzten vier Wochen von der Außenwelt abgeschnitten waren: Paul ist ein Oktopus, der in einem Aquarium lebt und scheinbar alle Spiele der deutschen Nationalmannschaft richtig vorhergesagt hat (er wählte jeweils aus zwei Essensbehältern mit Flaggen). Das ist statistisch gesehen nicht viel unwahrscheinlicher als die FDP, gibt aber Anlass zu lustigen Wortspielen wie „Okrakel“ und den Medien die Möglichkeit, über etwas anderes zu berichten als Fußball, ohne über etwas anderes zu berichten als Fußball.

Ich weiß schon, dass das mit Paul ein Spaß ist. Ich weiß nur nicht, ob alle anderen das noch wissen. 600 Fernsehsender sollen Pauls letzte Essenswahl am Freitag gezeigt haben. N24 unterbrach sein Programm und übertrug live. Konkurrent n-tv machte noch die Abendnachrichten mit Pauls Prognose auf. Weil Paul vor dem deutschen Spiel gegen Spanien die spanische Kiste wählte und Spanien tatsächlich gewann, wurde aus dem Aberglauben, dass das Tier den Ausgang eines Spieles richtig vorhersagen kann, plötzlich der Aberglaube, dass das Tier den Ausgang eines Spieles bestimme (entsprechend wurden nun Tintenfisch-Rezepte veröffentlicht).

In vielen Meldungen über Pauls Prognosen wirkt es, als sei die Möglichkeit, mithilfe einfachster Mathematik die Wahrscheinlichkeit einer solcher Trefferserie zu berechnen, der größere Akt der Magie als die Möglichkeit, dass Paul das Ergebnis vorhersagen kann. Die vermutlich dümmste Paul-Geschichte kam im Gewand der Schein-Aufklärung daher: In einem dpa-Korrespondentenbericht sagte ein Tintenfisch-Forscher, man könne auf die Vorhersagen gar nichts geben — weil der Kraken zum Beispiel vermutlich gar nicht die Farben auf den Fahnen erkennen könnte! „Krakenexperte gibt Entwarnung“, titelte dpa.

Ich wollt ich wär / unter dem Meer / im Garten eines Kraken… und zusammen würden wir den ganzen Tag über die Beklopptheit der Menschen lachen und weinen.