Autor: Stefan Niggemeier

Lena ist nicht die Ikone der Bürgerlichkeit

Das Nervige am Siegeszug der Lena Meyer-Landrut ist, dass er von diesen ganzen angestrengten und anstrengenden Versuchen der Medien begleitet wird, etwas Welt- oder mindestens die Nation Bewegendes in ihn hineinzuinterpretieren. Eine gute Antwort auf ein besonders beliebtes Erklärmuster — und einen der klügsten Texte zum Phänomen Lena — habe ich nicht in einer der großen Zeitungen gelesen, nicht im „Spiegel“ (der sich schon vor Wochen beim gewaltsamen Pressen von „Unser Star für Oslo“ in sein vorgegebenes Interpretationskorsett nicht von Fakten stören ließ) und schon gar nicht im „Stern“ (der vergangene Woche delirierte: „Aus Lenas schwarzen Siegerstrumpfhosen könnte der Präsident der Europäischen Zentralbank, Jean-Claude Trichet, einen Sparstrumpf nähen, dem jeder von Vilnius bis Lissabon sofort sein Gesamtvermögen anvertrauen würde.“) — sondern ausgerechnet in einem Internetforum, auf den Seiten eines Lena-Meyer-Landrut-Fanclubs.

Der Autor D. Lauer hat mir freundlicherweise erlaubt, den Text hier zu veröffentlichen, und ihn dafür leicht überarbeitet:

I.

Die Lenamania – der Aufstieg Lena Meyer-Landruts von der anonymen Abiturientin zum derzeit größten Popstar des Landes innerhalb von nur drei Monaten – verlangt nach Deutung. „Lenamania“ bezeichnet hier das Phänomen, dass LML bei einem Großteil der Bevölkerung offenbar reflexhaft den dringenden Wunsch auslöst, sie (je nach Alter) auf der Stelle als große Schwester, beste Freundin, Traumfrau oder Wunschtochter zu adoptieren. Auf der Suche nach einer Erklärung dieses Phänomens hat sich eine Erzählung etabliert, die LML als Projektionsfläche einer Sehnsucht des Publikums nach Normalität und Anstand im TV- und Musik-Business sieht: Lena als der „Popstar fürs Bürgertum“, wie der „Stern“ titelte. Diese Erzählung entstand mit einem „Spiegel“-Beitrag, in dem „Unser Star für Oslo“ als kultiviertes Musizieren für Abiturienten und Studenten vor einer seriösen Fachjury bespöttelt und zur Antithese der Trash-Konkurrenz von „Deutschland sucht den Superstar“ stilisiert wurde, wo gescheiterte Existenzen aller Art zu den vulgären Kommentaren eines Dieter Bohlen in Gladiatorenkämpfe gehetzt werden. Zum Sinnbild dieser Gegenüberstellung wurde der typisierte Vergleich zwischen den beiden jeweiligen Show-Favoriten: Hier der Freak Menowin Fröhlich, abschluss- und arbeitsloser, mehrfach vorbestrafter Ex-Sträfling, der drei Kinder mit der eigenen Cousine hat, schrill und bedrohlich – dort die Lichtgestalt Lena Meyer-Landrut, Abiturientin aus gutem Hause, Diplomaten-Enkelin, Taizé-Begeisterte, „Sophies Welt“-Leserin, wohlerzogen und eloquent.

Nach dieser Erzählung – nennen wir sie die Höhere-Tochter-Erzählung (HTE) – ist LMLs Erfolg darauf zurückzuführen, dass sich die silent majority des bürgerlichen Mittelstandes mit ihr identifiziert und sie in erster Linie als Inkarnation des eigenen Idealbildes einer höheren Tochter liebt, als Gegenfigur zum skurrilen Comic-Proletariat, das die Nachmittagstalkshows bevölkert.

Die HTE ist seit ihrer Entstehung in medialer Dauerschleife wiederholt worden und hat sich im Diskurs über LML mehr oder weniger als die offizielle Deutung ihres Erfolgs durchgesetzt, selbst dort, wo sie (wie jüngst von Matthias Matussek) in leicht herablassendem Ton ironisiert oder kritisch gegen LML und deren angebliche Bürgerlichkeit (lies: Bravheit und Harmlosigkeit) gewendet wird.

II.

Meiner Auffassung nach ist die HTE zur Erklärung des Phänomens LML vollkommen untauglich. Darum geht es mir hier. Zunächst ist LML nicht die Figur, als die sie in der Erzählung auftaucht. Das hätte man von Anfang an wissen können, hätte man auf die Details geachtet, die sich schlecht mit ihr vertrugen. Höhere Töchter – auch exzentrische – haben keine Tattoos und keine Zahnpiercings. Sie tanzen Ballett, nicht Hip-Hop. Sie geben nicht fröhlich zu, mittelmäßige Schülerinnen zu sein, zu rauchen und sich gelegentlich zu besaufen, auch fahren sie TV-Urgesteinen nicht rotzfrech über den Mund und sagen nicht ständig „scheiße“ und „kotzen“ im Fernsehen.

Bis hierher könnte man natürlich noch argumentieren, dies sei doch bloß das Quäntchen Bohème und Unangepasstheit, das einem aufgeklärten, sozusagen post-bourgeoisen Bild der höheren Tochter erst den richtigen Schliff verleiht. Das mag sogar stimmen, taugt jedoch nicht mehr zum Kitten des fundamentalen Bruchs zwischen der HTE und der Realität, der sichtbar wurde, als durch das unappetitliche Wühlen der Boulevardmedien noch andere Details bekannt wurden, darunter ein so überhaupt nicht distinguierter untergetauchter Vater, vor allem aber natürlich LMLs Auftritte als Laiendarstellerin in genau jenen dubiosen Nachmittags-TV-Formaten, in die sie sich, ginge es nach der HTE, niemals hätte verirren dürfen. Schon gar nicht ganz und gar nackt.

Träfe die HTE zu, hätte sich zu diesem Zeitpunkt ein Großteil ihrer Bewunderer enttäuscht von LML abwenden müssen. Mit genau diesem Ziel wurden die entsprechenden Medienberichte natürlich auch lanciert. Tatsächlich aber haben all die rechten Haken gegen das Höhere-Tochter-Image der Lenamania keinen messbaren Abbruch getan. Was das bürgerliche Mittelschichtspublikum bei seinen eigenen Töchtern zweifellos stören würde, stört es bei LML offenbar kaum. Also basiert seine Liebe zu LML wohl doch nicht vorrangig auf deren „bürgerlichen“ Attributen, wie die HTE behauptet.

III.

Dabei beruht die HTE auf einer richtigen Beobachtung: LML ist eine Gegenfigur zu all den hunderten Kandidatinnen und Kandidaten, die wir im letzten Jahrzehnt in Dutzenden von Casting Shows im Fernsehen haben vorbeiziehen sehen. Das Phänomen LML ist zweifellos darin begründet, dass sie in dem Rahmen, in dem sie zur öffentlichen Person wurde, so vollständig aus dem Rahmen fiel. Aber es ist schlecht beobachtet und verkürzt gedacht, ihre Andersartigkeit schlicht darin zu sehen, dass sie, im (angeblichen) Gegensatz zum Personal einer Show wie DSDS, der bürgerlichen Mittelschicht entstammt. Dieser Unterschied hat, wenn überhaupt, mit dem eigentlichen Phänomen nur indirekt etwas zu tun. LMLs Andersartigkeit liegt vielmehr in dem, was Entdecker und Mentor Stefan Raab schon vom ersten Moment an als ihre „Haltung“ bezeichnete.

Worin besteht diese Haltung? Sie besteht darin, die Gehirnwäsche zu durchbrechen, die das Format der Casting Shows seit über einem Jahrzehnt betreibt und mit der es nicht nur unsere Wahrnehmung von Popmusik infiziert hat. Nicht umsonst spricht man inzwischen von einer Generation Casting, welche die in diesem Genre üblichen Prinzipien und Regeln längst fürs Leben akzeptiert und verinnerlicht habe. Welche Prinzipien? Das lässt sich in jeder beliebigen Casting Show – ob nun DSDS, „Popstars“ oder „Germany’s Next Topmodel“ – mühelos beobachten.

Regel Nr. 1: Der Weg zum Erfolg besteht darin, sich der Jury vollständig zu unterwerfen. Die Jury ist Gott. Sie agiert nach dem Prinzip, dass der Wille des Kandidaten zunächst gebrochen werden muss, damit er sich den Anweisungen der Experten vollständig ausliefert und sich von ihnen formen lässt. Du sollst nicht so sein, wie Du selbst Dich haben willst, sondern wie andere Dich haben wollen. Es gibt daher keinen sichereren Weg, im Casting-Universum den sozialen Tod zu erleiden, als an der Jury Kritik zu üben, ihre Anweisungen zu hinterfragen oder auf eigenen Vorstellungen zu beharren. Beleidigung, Erniedrigung und aufgezwungene Demuts-Rituale sind die unvermeidliche Folge.

Regel Nr. 2: Der Weg zum Erfolg besteht aus Blut, Schweiß und Tränen und dem bedingungslosen Willen, ihm alles andere unterzuordnen. Dies ist die wichtigste Botschaft der Casting Show. Deshalb gibt es in ihren Beurteilungsritualen keine vernichtenderen Abmahnungen als „Du arbeitest nicht hart genug an dir“ und „Wir können nicht erkennen, dass du das hier wirklich willst“. Die Kandidatin kann diesen Verurteilungen nur entkommen, indem sie sich so lange schindet, bis sie auf offener Bühne kollabiert oder wenigstens einen Weinkrampf erleidet, und außerdem in den immergleichen Floskeln gegenüber der Jury beteuert, dass sie bereit ist „alles zu geben“ für den Erfolg in der Show, dass sie „nichts anderes will als kämpfen und weiterkommen“ und überhaupt diese Sendung ihre „einzige und letzte Chance“ sei, etwas aus sich zu machen. In den Schauprozessen von DSDS und GNTM gibt es deshalb kein den Kandidaten häufiger abgepresstes Bekenntnis als dieses. Es gehört zwingend dazu. Mit selbstbewussten Kandidaten, die einfach lachend gehen, wenn sie genug davon haben, sich anpöbeln zu lassen, weil sie nämlich noch etwas anderes mit ihrem Leben anzufangen wissen, funktioniert das Konzept der Sendung nicht.

IV.

LMLs „Haltung“ ist die radikale Antithese zu den beiden genannten fundamentalen Grundregeln der Casting Show. Sie besteht in der Weigerung, sich von den Unterwerfungs-, Leistungs- und Wettkampf-Imperativen dieses Formats bestimmen zu lassen. Berühmtheit hat LML unter anderem damit erlangt, dass sie schon bei ihrem ersten Auftritt gegen Regel Nr. 1 verstieß und darauf bestand, lieber auszuscheiden statt nicht den von ihr selbst präferierten Song zu singen. Insbesondere aber verstößt LML in praktisch jedem ihrer Interviews konsequent gegen Regel Nr. 2. Unbedingter Siegeswille, so sagte sie schon zu USFO-Zeiten und wiederholte es anlässlich des Eurovision Song Contests immer wieder, sei ihr fremd, darauf habe sie keinen Bock. Jedes Ergebnis sei ihr recht, solange sie mit sich im Reinen sein. Konkurrenzdenken und Kampf um die Plätze auf dem Podest seien „nicht so ihr Ding“, ebenso wenig wie hartes Training und tägliches Üben. Sie habe, gab sie kichernd zu, keine Technik, keine Strategie und nicht die Absicht, sich eine andrehen zu lassen. Sie entwickele die Dinge lieber spontan: So tanz‘ ich.

Überhaupt habe sie nie ein Star werden wollen, und die Erfüllung ihres „großen Traums“ sei ihr überwältigender Erfolg als Sängerin schon gar nicht. Vielleicht mache sie bald etwas völlig anderes. An Ideen mangele es ihr nicht. Wichtig sei nur, dass ihr das Ganze momentan Spaß mache, eine tolle Erfahrung sei und sie als Mensch voranbringe. Jeder einzelne dieser Sätze wäre das Ende des TV-Lebens eines normalen Casting-Produktes.

V.

Ich behaupte, dass es einen Namen für diese Haltung gibt. Sie ist nämlich bei Licht betrachtet keinesfalls revolutionär oder neu. In Wahrheit ist sie bloß die fast triviale Erinnerung an die Haltung, die man noch nicht vor allzu langer Zeit grundsätzlich mit der Popmusik verbunden hat – bevor der Casting-Show-Diskurs die Kontrolle übernahm, und zwar so erfolgreich, dass man mit der bloßen Erinnerung an dieses Prinzip des Pop (dieses Wort hier im weitest denkbaren Sinne verstanden) inzwischen wie ein Wesen von einem anderen Stern erscheint.

Denn das war doch das Versprechen, das mit dieser Musik einmal einherging: Jung sein. Lässig sein. Feiern und Spaß haben. Und die Chuzpe zu sagen: Ich brauche eure Lehren nicht, weder Gesangsstudium, noch Musikschule, noch Tanzdrill. Ihr habt mir nichts beizubringen. Eine Gitarre und drei Akkorde, das reicht – sofern man jung ist, und schön, und talentiert, und ohne Angst. Und jenes Charisma besitzt, das die Zuhörer schon beim ersten Chorus auf die Knie fallen und mitsingen lässt: We learned more from a three-minute record baby than we ever learned in school.

Pop war mal das Gegenteil dessen, was die Casting-Show-Idee verkauft, nämlich das Versprechen vom Triumph der Leichtigkeit und der Mühelosigkeit. Und der entscheidende Punkt ist, dass dieses Glücksversprechen des Pop zutiefst antibürgerlich ist. „Bürgerlich“ ist nämlich nicht nur das, was sich die Vertreter der HTE gerne darunter vorstellen (etwas, das vage mit Thomas Mann, dunklen Bücherregalen, Klavierunterricht und gepflegtem Abendessen im Familienkreis zu tun hat). Die real existierende Bürgerlichkeit der Mittelschicht ist in erster Linie der praktizierte Glaube an ein ganz anderes Versprechen, nämlich jenes der disziplinierten Selbstzucht in Kombination mit dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit. Jeder ist seines Glückes Schmied, und diejenigen werden den Lohn davontragen, die sich am meisten anstrengen, am fleißigsten schuften und am eisernsten sparen – und schon ihre dreijährigen Kinder in Chinesischkurse schleifen, der späteren Chancen am Arbeitsmarkt wegen.

Das Glücksversprechen des Pop hingegen ist die Verweigerung dieses protestantischen Arbeitsethos. Pop scheißt auf Selbstdisziplin und Leistungsgerechtigkeit. Darin ist er zutiefst romantisch. Er belohnt nicht die Arbeitsbienen und die Klassensprecher, er verachtet die Philister. Er verschenkt sein Herz lieber an die arbeitsscheuen Spinner, genialen Dilettanten und verspielten Prinzessinnen. Pop kennt und will keine andere Rechtfertigung als die, dass eine wie LML schlicht ein Liebling der Götter ist, Punkt. „Du hast Star-Appeal. Menschen werden dich lieben.“ Das ist alles.

Weil man solche Gabe nicht erwerben, sondern nur geschenkt bekommen kann, können die, welche sie empfangen haben, es sich leisten, mit ihr nicht nach Art der guten Wirtschafterin sparsam zu haushalten, sondern sie in geradezu aristokratischer Verschwendung weiterzuverschenken. Und das zu ihrem bloßen Vergnügen, ohne dabei nach Tauschwerten, Regeln und Verdienst zu fragen, die eigenen Fähigkeiten nicht penibel dokumentierend, sondern mit ihnen ironisch herumspielend, scheinbar nichts ernst nehmend – während die Braven, die sich das alles eisern angeeignet haben und handwerklich viel besser sind, fassungslos über die Ungerechtigkeit der Welt daneben stehen. Bei manchen, das lässt sich im Fall LML im Netz gut beobachten, kippt diese Verständnislosigkeit in ungezügeltes Ressentiment und Hass auf das Glückskind, oder in wüste Verschwörungstheorien.

VI.

Darum komme ich zu der Schlussfolgerung: LML ist nicht die Ikone der Bürgerlichkeit. Sie ist die (sehn-)süchtig machende Erinnerung an das Glücksversprechen des Pop, verkörpert in dem Gesicht einer Caravaggio-Madonna mit ironischem Grinsen und frechem Mundwerk. Die Sehnsucht, die LML weckt, ist nicht die Sehnsucht nach Bürgerlichkeit, sondern das Versprechen, dass – wenigstens stellvertretend in ihrer Person – die Befreiung vom Korsett der Bürgerlichkeit möglich ist. Deshalb träumen so viele laut oder leise davon, so zu sein wie sie – und schon allein diesen Traum träumen zu können, indem man sie beobachtet, führt ein Stück des Glücks mit sich. Wenn das Mittelschichts-Bürgertum LML liebt, dann nicht deswegen, weil sie genauso ist, wie es selbst, sondern weil es sich heimlich danach sehnt, ganz anders zu sein, als es ist.

Allerdings kommt es noch schlimmer für die Anhänger der HTE, denn die ganze Überlegung zeigt noch ein Zweites: Wenn es überhaupt eine Verkörperung des Bürgerlichen im deutschen Fernsehen gibt, dann sind das ironischerweise eben die just von jenem Bürgertum so verachteten, proletigen Casting Shows. Als Dieter Bohlen verkündete, der von ihm nicht favorisierte Mehrzad Marashi habe DSDS dank „deutscher Tugenden“ (er meinte Fleiß und Disziplin) gewonnen, hätte er damit um ein Haar einmal etwas Wahres gesagt. Sicher, begriffen hat er es wahrscheinlich nicht. Das deutsche Feuilleton aber auch nicht.

[Mit Dank an Max D., der mich auf den Text aufmerksam gemacht hat.]

Flattr

Soviel lässt sich schon mal feststellen: Schöner wird die Blog-Landschaft dadurch nicht. Erst mussten ganzen blauen Facebook-„Ich mag das“-Buttons ins Layout gequetscht werden. Nun prangt unter, über, neben jedem Text im Netz plötzlich noch ein anderes Dings mit abgerundeten Ecken, diesmal in grün-orange (wobei ich mit meiner Schmuckfarbe grün hier im Blog noch Glück habe).

Flattr ist ein mit viel Sympathie und noch mehr Skepsis begleiteter Versuch, ein einfaches und faires Bezahlsystem für Online-Inhalte zu etablieren. Das Prinzip geht so: Man meldet sich bei Flattr an und legt einen Betrag fest, den man monatlich für Online-Inhalte ausgeben will. Dann klickt man immer dort, wo einem etwas gut gefällt, auf den Flattr-Button. Am Ende des Monats wird die vorher festgelegte Gesamtsumme auf die angeklickten Dinge verteilt. Wer 20 Euro ausgibt und zehnmal etwas geflattrt hat, spendet so je 2 Euro. Bei jemandem, der sich für 10 Euro im Monat entscheidet und hundertmal flattrt, ist jeder Klick auf den Knopf 10 Cent wert.

Die Vorteile liegen auf der Hand: Es gibt kein lästiges Einloggen oder Kreditkarte heraussuchen, sondern nach der Anmeldung nur jeweils einen einfachen Klick. Der Ausdruck der Wertschätzung wird vom unmittelbaren Bezahlvorgang abgekoppelt. Man kann fröhlich durchs Netz ziehen und nach Herzenslust flattrn, ohne sich darum zu sorgen, sein Budget zu überschreiten.

Völlig offen ist aber die Frage, wie viele Leser überhaupt bereit sind, für Inhalte zu zahlen, für die sie nicht zahlen müssen. Ähnlich wie „Spreeblick“ haben wir bei BILDblog, als wir noch auf Spenden statt auf Werbung als Haupteinnahmequelle gesetzt haben, die Erfahrung gemacht, dass sich die Zahlbereitschaft nach anfänglichem Überschwang sehr schnell legt.

Da man mit Flattr nur Geld verdienen kann, wenn man selbst auch Geld ausgibt, besteht außerdem die Gefahr, dass ein Großteil derjenigen, die bei Flattr mitmachen, selbst Blogger oder Online-Produzenten sind und wir uns das Geld nur gegenseitig hin und herschieben. Ziel ist aber natürlich ein Geldfluss von Lesern oder Nutzern zu den Produzenten.

Trotzdem ist die Idee reizvoll und Flattr einen Versuch wert. Die ersten Erfahrungen, die zum Beispiel die „taz“ und „Spreeblick“ gemacht haben, sind ganz okay. Die niedrigen dreistelligen Beträge, die sie jeweils in rund zwei Wochen gesammelt haben, mögen auf Anhieb mickrig wirken. Aber dafür, dass der Dienst gerade erst gestartet ist und man sogar noch eine Einladung haben oder auf eine warten muss, sind das schon ermutigende Zahlen.

Also: Ab heute bin ich dabei. Ich freue mich, wenn Sie sich bei Flattr anmelden und dann Beiträge, die es Ihnen Wert sind, unterstützen — hier und anderswo. Für eine vielfältige Online-Welt, die nicht hinter Bezahlschranken verschwinden muss, um Qualität zu finanzieren.

Verlegerkampf für eine PC-Presse-Gebühr

Ich wüsste gerne, ob irgendwo in dem Springer-Lobbyisten Christoph Keese noch Reste von dem früheren Journalisten Christoph Keese stecken. Und ob der gelegentlich leise wimmert.

Gestern zum Beispiel, als Keese auf der Veranstaltung „Wer verdient mit welchem Recht?“ in Hamburg eine besonders originelle (und mir neue) Begründung nannte, warum ein Leistungsschutzrecht für Verleger auch im Interesse der Urheber sei: Weil die Verleger, wenn sie erst einmal ein eigenes Recht hätten, aufhören könnten, den Autoren ihre Rechte wegzunehmen.

Man muss dazu wissen, dass die deutschen Verlage seit Jahren versuchen, die Presselandschaft zu einem urheberrechtsfreien Raum für Journalisten zu machen. Die Autoren sollen möglichst sämtliche Rechte an ihren Texten an die Verlage abtreten, und zwar gerne kostenlos, rückwirkend und für alle Zeit. Die Verlage überschreiten dabei mit einer Regelmäßigkeit und Konsequenz das Gesetz, dass man fast von krimineller Energie sprechen möchte, wären die ehrwürdigen und demokratietragenden Verlage nicht über jeden solchen Verdacht erhaben.

Erst in dieser Woche untersagte das Hamburger Landgericht einstweilig eine entsprechende Vereinbarung, die der Verlag der „Zeit“ seinen Mitarbeitern diktieren wollte. Zuvor hatten sich schon der Bauer-Verlag, die Axel Springer AG und der Verlag des „Nordkurier“ mit Versuchen, die Journalisten in ähnlicher Form zu enteignen, vor Gericht blutige Nasen geholt.

Aber Christoph Keese sagt, eigentlich wollten die Verlage gar nicht die ganzen Rechte der Journalisten. Im Gegenteil: Eigentlich seien sie gegen Total-Buy-Out-Verträge. Wenn sie gesetzlich ein eigenes Recht hätten, eben das Leistungsschutzrecht, könnten sie sofort damit aufhören, den Journalisten ihre Urheberrechte wegzunehmen.

Das ist angesichts der Rechtsverletzungen, die die Verlage bei ihren Versuchen, sich auf Kosten der Journalisten zu bereichern, offenkundig begangen haben (die Urteile sind noch nicht rechtskräftig), natürlich eine besonders perfide Aussage. Und andererseits ist sie nicht ganz falsch. Durch ein Leistungsschutzrecht würde die rechtliche Position der Verlage nämlich nicht nur gegenüber vermeintlichen Bösewichten wie Google oder der mythischen Masse von Content-Dieben gestärkt, sondern auch gegenüber den Autoren. Die könnten einen Artikel dann nicht mehr einfach so zweitverwerten, weil das mit dem Leistungsschutzrecht des ersten Abnehmers kollidieren würde.

Keese, Außenminister bei Springer und die treibende Kraft auch hinter der traurigen „Hamburger Erklärung“ aus dem vergangenen Jahr, ist von außerordentlicher Geschmeidigkeit, wenn er auf dem Podium für die Sache der Verlage wirbt. Er redet mich als Mitdiskutant ebenso wie irgendwelche Fragesteller aus dem Publikum mit „mein Lieber“ an und hat extra das Urheberrechtsgesetz als dickes, 411-seitiges Buch mitgebracht — mutmaßlich um seinen Argumenten Gewicht zu geben.

Nur konkret mag er nicht werden, zum Beispiel, was die konkrete Frage der Snippets angeht, der Textausschnitte, die Suchmaschinen wie Google in ihren Trefferlisten anzeigen. Das Zitatrecht, beteuert Keese, solle vom gewünschten neuen Leistungsschutzrecht unberührt bleiben; man werde also auch in Zukunft kurze Textstellen aus den Verlagsveröffentlichungen ohne Genehmigung und kostenlos übernehmen dürfen, um sie zu bewerten, einzuordnen, in einen Kontext zu stellen: Der „Perlentaucher“ etwa könne weitermachen wie bisher.

Und was ist mit Google? Keese sieht einen Unterschied zwischen den Texten, die in der Web-Suche von Google angezeigt werden und einen quasi zufälligen Ausschnitt rund um das gesuchte Wort anzeigen, und den Textanfängen, die in der News-Suche von Google auftauchen. Das erste hält er für unproblematischer als das zweite, weil in den so zitierten Vorspännen nach Angaben von Keese oft viel redaktionelle Arbeit stecke, von der Google profitiere. Ob das bedeutet, dass Google bei einem Presse-Leistungsschutzrecht für die Ausschnitte und Verlinkungen in der News-Suche (mit der sie den Zeitungsseiten im Netz viele Leser verschaffen) eine Genehmigung brauchen und zahlen müssen, konnte ich Keeses Ausführungen nicht entnehmen.

Man kann es nicht oft genug sagen: Die Probleme, unter denen Zeitungen und Zeitschriften gerade leiden, haben nichts mit dem Fehlen eines Leistungsschutzrechtes der Verlage zu tun. Auch Google ist nicht Schuld daran. Die Verlage leiden im Print unter rückläufigen Leserzahlen und vor allem einbrechenden Werbeeinnahmen. Und sie leiden online darunter, dass die Werbeerlöse so viel niedriger sind. Das liegt nicht zuletzt daran, dass es plötzlich sehr viel mehr Werbeflächen und -möglichkeiten gibt, und dass es für die Industrie oft viel attraktiver ist, zielgerichtet auf den Ergebnisseiten bestimmter (Google-)Suchen zu werben, als neben irgendeinem noch so gut geschriebenen oder viel geklickten Artikel, der von Leuten gelesen wird, deren Interessen man nicht kennt.

Die Forderung nach einem Leistungsschutzrecht ist nur der leicht durchschaubare Versuch, sich subventionieren zu lassen. Deshalb tun sich Leute wie Keese auch so schwer, die juristischen Details und Notwendigkeiten eines solchen Gesetzes zu erörtern. Ihnen ist völlig egal, was in diesem Gesetz steht, solange es nur sein Ziel erreicht: Das Überleben der Verlage zu sichern. Denn die Verlage sind — nach Ansicht der Verlage — die einzigen Garanten dafür, dass die Bevölkerung gut informiert wird. So lange es ihnen gut geht (wohlgemerkt: den Verlagen; das Wohlergehen der Journalisten ist optional), ist das Funktionieren der Demokratie gesichert.

Nun ist es nicht so, dass es der Axel Springer AG schlecht ginge. Der Google-Vertreter auf dem Podium, der Jurist Arnd Haller, zitierte genussvoll aus einer Pressemitteilung des Verlages, in der ihr Vorstandsvorsitzenden Mathias Döpfner sagt:

„Axel Springer hat einen neuen Rekord für das Ergebnis eines ersten Quartals erreicht und die Prognose für das Gesamtjahr angehoben – das beweist: Die Transformation in die digitale Welt bietet für ein Inhalte-Unternehmen viel mehr Chancen als Risiken, und die sehr hohen Gewinnmargen der Zeitungen und Zeitschriften zeigen: Der Abgesang auf das Print-Geschäft ist falsch.“

Keese erklärte, dass es nicht der Journalismus sei, mit dem man das Geld im Netz verdiene, sondern Firmen wie idealo.de oder Zanox. Und andere, vor allem regionale Verlage seien nicht so schlau gewesen, sich rechtzeitig an solchen Unternehmen zu beteiligen, um den Journalismus querfinanzieren zu können. Springer kämpft hier also offenbar, wie der Rechtsanwalt und Urheberrechtsexperte Till Kreutzer süffisant feststellte, gar nicht für sich selbst, sondern ganz uneigennützig für das Wohlergehen seiner kleineren, erfolgloseren Mitbewerber.

Und wer soll dafür zahlen, dass die Verlage überleben können? Nicht nur Google, sondern vor allem die Allgemeinheit. Die Verleger wünschen sich ein Leistungsschutzrecht, das den gewerblichen Abruf von kostenlos im Intenet verfügbaren Zeitungsartikeln vergütungspflichtig macht. Anscheinend bestellen gerade Firmenkunden in größerer Zahl Zeitungs- und Zeitschriften-Abonnements ab, weil die Inhalte ja kostenlos im Netz verfügbar sind.

Was für eine geniale Idee: Die Zeitungsverleger stellen ihre Produkte freiwillig kostenlos ins Netz, weil sie nicht glauben, dass die Leser bereit sind, dafür Geld zu zahlen, kassieren sie aber über den Umweg eines Leistungsschutzrechtes dann trotzdem dafür ab.

Bei einer früheren Veranstaltung nannte Keese das Beispiel eines Bank-Mitarbeiters, der sich auf frei zugänglichen Online-Seiten von Zeitungen auf einen Kunden vorbereitet. Dafür müsste er in Zukunft eine Vergütung an eine Verwertungsgesellschaft zahlen, die die Einnahmen dann an die Verlage (und zu einem noch mit den Gewerkschaften zu verhandelnden Teil an die Urheber) ausschüttet. Aber nicht nur Bank-Mitarbeiter nutzen Inhalte von Online-Medien gewerblich; fast jeder Berufstätige tut es, auch freie Journalisten müssten natürlich zahlen. De facto würde mit dem Leistungsschutzrecht eine Presse- oder Verlags-Subventions-Gebühr auf die zig Millionen Dienst-Computer in Deutschland eingeführt.

Hab ich gerade schon wieder „Subvention“ geschrieben? Nein, „Subvention“ ist das ganz falsche Wort, sagt Springer-Lobbyist Christoph Keese; Subventionen wollen die Verlage nicht, Subventionen sind Geld vom Staat. Aber hier kommt das Geld ja von den Bürgern. Der Staat soll nur die Rechtsgrundlage dafür schaffen.

Eva Herman über diesen, na, Dingens

Ich habe mir Eva Hermans Abrechnungsbuch „Die Wahrheit und ihr Preis — Meinung, Macht und Medien“ gekauft. Ich habe bislang nur flüchtig drin geblättert und es an einer zufälligen Stelle aufgeschlagen. Da steht:

Die Sendung, die der WDR in Köln ausstrahlte, hieß Kölner Runde, mit Bettina Böttinger als Moderatorin und einem weiteren, korpulenten und recht kahlköpfigen Kollegen, dessen Name mir inzwischen wieder entfallen ist.

Mal abgesehen davon, dass das schon erstaunlicher Wille zur Nicht-Recherche ist für eine Frau, die anderen Schlampigkeit und Unwahrhaftigkeit vorwirft …

… hieß die Sendung „Kölner Treff“ (und der „korpulente und recht kahlköpfige“ Moderator Achim Winter).

Womöglich werde ich das Buch noch lesen und auch etwas drüber schreiben. Aber bislang, muss ich sagen, hat es meine Erwartungen voll erfüllt.

Ohne Windschutz in Oslo


Zeichnung: Elias Hauck (ursprünglich für die „taz“)

Bevor hier das Alltagsgenörgel wieder losgeht, muss ich noch ein bisschen vom Oslog schwärmen. War das anstrengend! Hat das einen Spaß gemacht!

Ich hatte vorher überhaupt keine Erfahrung mit Filmen und Schneiden, Lukas hat immerhin schon diverse Familienfeste und -reisefilme gedreht und geschnitten und Beiträge für „Coffee And TV“ produziert. Aber natürlich sind es lächerlichste Anfängerfehler, zwar mit einer supermodernen Kamera nach Oslo zu reisen, aber nicht die Paareurofünfzig für einen Windschutz und ein Stativ auszugeben. Deshalb sind wir zum Beispiel einen Abend ungefähr eine Stunde lang hilflos um die Oper herumgeirrt auf der (vergeblichen) Suche nach einem Ort, wo wir die Kamera so abstellen können, dass wir vor dem fantastischen Gebäude im Bild sind. Und deshalb sieht man in der letzten Folge auch nur die Spitze des Segelschiffes hinter uns. Andererseits mag ich die schrägen Perspektiven, die sich dadurch ergeben, dass die Kamera irgendwo auf dem Boden liegt (oder, wie man am Anfang von Folge 6 sieht, auf anderen zufällig gerade verfügbaren Utensilien).

Interessant war auch die Erfahrung, vom Moderationsdreh vor dem Schloss in Oslo nach Hause zu kommen und zu bemerken, dass ein fieses Störgeräusch auf unseren ganzen Aufnahmen liegt. (In den 20 Minuten, bis wir gemerkt haben, dass es nur auf einem der beiden Tonkanäle liegt, bin ich um ca. 20 Jahre gealtert.)

Aber wir haben versucht, den Mangel an Professionalität durch Spaß an der Sache auszugleichen, und ich bin ein bisschen stolz, wie gut das funktioniert hat.

Wir hatten vorher ungefähr nichts geplant, und der Ausdruck „unvorbereitet“ ist fast ein Euphemismus für unsere Zwischenmoderationen. Erschreckenderweise (und vermutlich aufgrund der zunehmenden Müdigkeit) wurden wir auch nicht besser, sondern schlechter im Auf-den-Punkt-Kommen, weshalb das Rohmaterial Tag für Tag länger wurde. Abends setzten wir uns dann ins Hotelzimmer, lernten schmerzhaft die komplizierten orts- und zeitabhängigen Regeln für die Verfügbarkeiten von Bier in Norwegen kennen, überspielten unsere endlosen Aufnahmen, sichteten den Stoff und schnitten uns einen Wolf. Ich fürchte, man kann die Folgen, die wir nicht von 20 bis 0 Uhr, sondern von 23 bis 3 Uhr geschnitten haben, ganz gut erkennen.

Der Export der letzten Folge am Sonntag nach YouTube war ziemlich genau zehn Minuten, bevor der Zug zum Flughafen abfuhr, fertig — was angesichts von sieben Minuten Fußweg und zweieinhalb Minuten Kampfzeit mit dem Ticketautomaten unnötig aufregend war. (Und vielleicht kann ich bei dieser Gelegenheit noch darauf hinweisen, dass ich vor meiner „Satellite“-Performance vor dem Hauptbahnhof knapp vier Stunden geschlafen hatte, was man an meinen Augen ganz gut erkennen kann, und dass Lukas mit eineinhalb in die Kamera genuschelten Strophen als Einlösung meines Wetteinsatzes völlig zufrieden war.)

Vermutlich erschließt sich auch höchstens ein Bruchteil der, nun ja: Pointen. Aber uns hat es einen riesigen Spaß bereitet, die Schnipsel überraschend zu montieren und jeweils eine Szene herauszusuchen, die sich eignet, als Pre Roll noch vor den Vorspann zu kommen. Und dadurch, dass wir Oslog.tv auf eigene Faust gemacht haben und nicht an irgendeine Zielgruppe oder die Bedenken irgendwelcher Auftraggeber denken mussten, konnten wir so albern sein, wie wir wollten. Und wir konnten die virtuelle Heimat einfach von einem genialen Verrückten wie Herm gestalten lassen.

Für mich ist oslog.tv ein weiteres Beispiel für die großartigen neuen Möglichkeiten, die die Digitalisierung und das Internet bieten. Es ist heute so einfach, Dinge zu produzieren und zu publizieren, für die vor Jahren noch ein riesiger, teurer Apparat nötig war. Wir haben alles an einem einfachen MacBook geschnitten und mithilfe von YouTube und WordPress veröffentlicht. Selbst deutsche Untertitel bei der Folge mit dem finnischen Pyrotechniker lassen sich bei YouTube inzwischen ganz leicht einblenden (wie ich nach nicht viel mehr als 17 gescheiterten Versuchen herausfand).

Das Ergebnis mag (anders als das offizielle Videoblog, das die sehr geschätzten Kollegen von Freeeye.tv für den NDR produziert haben, der es tief in den Sackgassen von eurovision.de versteckte) nicht fernsehtauglich sein, aber ich glaube, es ist sehr internettauglich. Und auf die Gefahr hin, dass das arrogant klingt: Das Gefühl, das alles mehr oder weniger selbst gemacht zu haben, ist — trotz aller Pannen, Schwächen, Fehler und Anstrengungen, die das bedeutet hat — sensationell.

Lukas und ich sind immer noch ganz besoffen von der überwältigenden Resonanz unter anderem in den Kommentaren. Und falls jemand an Zahlen interessiert ist: Auf YouTube ist das Video mit unserem Lena-Interview über 50.000 mal angesehen worden; oslog.tv hatte bis jetzt rund 120.000 Besucher. Davon kamen die wenigsten über Google, und wenn doch, suchten sie meistens nach „oslog“.

Ob wir, nachdem wir und andere daran so viel Spaß hatten, auch von anderen Veranstaltungen in ähnlicher Form berichten werden, steht noch in den Sternen. Ich glaube, dass sich der Grand Prix ganz besonders gut für einen solchen Zugang zum Thema eignet und es bei anderen Anlässen schwieriger werden könnte. Als nächstes basteln wir erst einmal an einer weiteren Oslog-Folge den Outtakes (oder genauer: mit den Outtakes, die es nicht ohnehin schon in die Videos geschafft haben…).

Und dann müssen wir einen Weg finden, dass Herr Heinser diese ganzen Grand-Prix-Nummern aus dem Kopf bekommt. Gestern Nacht, sagt er, sei er mit dem estnischen Beitrag im Ohr aufgewacht. Schweißgebadet, nehme ich an.

Armenien? Und Lena auf Platz 5?

Jetzt höre ich seit über einer Woche Proben, verfolge öffentliche Auftritte, rede mit Kollegen — und bin kein bisschen schlauer, wer wohl den Eurovision Song Contest 2010 gewinnen wird. Nach wie vor glaube ich nicht an einen deutschen Sieg — allerdings fällt mir auch niemand ein, auf den es stattdessen hinauslaufen müsste. Wenn man heute Abend zum Auftakt der Show „Fairytale“ von Alexander Rybak (in einem gewagten neuen Arrangement) hört und sieht, wird wieder klar, was das Zwingende dieses Titels im vergangenen Jahr war, das kein Kandidat in diesem Jahr hat: diese Mischung aus Eingängigkeit und So-noch-nicht-Gehörtem, aus folkloristischen Elementen und schlichtem Pop, und diese Energie.

Lenas Chance ist klar: in dem Potpourri höchst durchinszenierter Auftritte, perfekt einstudierter Bewegungen, überladener Choreographien und operettenhafter Stimmen durch Natürlichkeit und Reduktion aufzufallen. Das könnte schon gelingen, aber bei der ersten Durchlaufprobe gestern hatte ich andererseits auch nicht das Gefühl, dass sie so sehr auffällt und in Erinnerung bleibt, wie es nötig wäre.

Ich tippe jetzt einfach mal, um irgendwas zu tippen, auf Platz 5.

Allen Finalisten in diesem Jahr fehlt für meinen Geschmack das gewisse Etwas. Vieles ist nett, professionell, wenig komplett misslungen — aber trotz meiner Schwäche für große Grand-Prix-Hymnen packt mich weder Irland noch Portugal noch Norwegen so richtig. Vielleicht funktionieren inmitten der ganzen Balladen die Gute-Laune-Nummern aus Griechenland und Frankreich, vielleicht reicht es, wenn ganz Ex-Jugoslawien auf diese merkwürdige Balkanpopnummer aus Serbien abfährt, vielleicht haben Armenien oder Aserbaidschan das Geheimrezept gefunden, regionale Identifikationsmöglichkeiten mit westeuropäisch kompatiblen, halbmodernen Songs zu kombinieren, und ganz möchte ich nicht einmal ausschließen, dass wir uns nächstes Jahr in Minsk wiedersehen, was auch eine sehr spezielle Erfahrung werden dürfte. (Und nichts gegen die tollen aufklappenden Schmetterlingsflügel!)

Die größte Enttäuschung für mich wäre ein Sieg für die plastikhafteste Nummer von allen: Dänemark.

Ich tippe jetzt einfach mal, um irgendwas zu tippen, auf Armenien.

In ein paar Stunden sind wir schlauer. Und das Schöne am Grand Prix ist, dass es sich mit ihm verhält wie mit Fußball: Es ist total wichtig, wer gewinnt. Und fast völlig egal.

Der kleine Grand-Prix-Führer findet sich diesmal natürlich nebenan im Oslog!

Nachtrag, 20.45 Uhr. Wir bloggen live aus dem Pressezelt.

Showhasen unter sich

Das Beunruhigende an unserem exklusiven Interview mit Lena Meyer-Landrut finde ich ja, dass diese schreckliche braune Konferenzzimmeratmosphäre und dieses lächerliche Mikrofon und meine amateurhafte Kameraführung dazu führen, dass die Szenen ästhetisch wirken, als stammten sie aus einer schwer öffentlich-rechtlichen Siebziger-Jahre-Dokumentation über das Leben in einer WG oder so.

Außerdem in der aktuellen Ausgabe von Oslog.tv: Knallharte investigative Fragen von mir an den diesjährigen deutschen Jury-Präsidenten und Punkte-Verleser Hans-Peter Wilhelm Kerkeling.

Die Ostblock-Mafia-Mär lebt!

In diesem Jahr sind die Kollegen aber besonders früh dran mit ihren zusammenfantasierten Geschichten von der Dominanz der osteuropäischen Länder beim Eurovision Song Contest. „Welt Online“ schreibt:

Osteuropa fordert Lena Meyer-Landrut heraus

Der Eurovision Song Contest findet zwar in Oslo statt, doch auch in diesem Jahr wird der Wettkampf von Osteuropa geprägt sein. Im ersten Halbfinale setzten sich vor allem ost- und südosteuropäische Vertreter durch. Neben Lena Meyer-Landrut treten nur wenige Westeuropäer auf.

Ähnlichen Unsinn verbreitet dpa.

Nun. Hier kann man sich ansehen, welche Länder bislang fürs Finale qualifiziert sind. Es sind sechs osteuropäische Länder (Albanien, Weißrussland, Bosnien-Herzegowina, Moldau, Russland, Serbien) und neun westeuropäische Länder (Belgien, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Island, Norwegen, Portugal, Spanien, Großbritannien). Und dpa titelt: „Mehr Osteuropäer im Eurovision-Finale“?

Auch die Behauptung, es hätten sich im ersten Halbfinale „vor allem ost- und südosteuropäische Vertreter durchgesetzt“, ist irreführend. Denn es sind von vornherein viel mehr ost- als westeuropäische Länder angetreten! Von den 11 Teilnehmern aus dem Osten kamen 6 ins Finale (54 Prozent); von den 6 Teilnehmern aus dem Westen kamen 4 ins Finale (66 Prozent). Und auch wenn man Griechenland zu Osteuropa zählt, haben sich die Westeuropäer in diesem Halbfinale verhältnismäßig knapp besser geschlagen.

Jetzt kann man all diese Rechnungen natürlich für frucht- bis sinnlos halten. Aber abgesehen davon, dass ich das Thema mit einer gewissen Leidenschaft verfolge, ist der Fall ein vergleichsweise harmloses, aber sehr anschauliches Beispiel dafür, wie Berichterstattung von eigenen Erwartungen, von Vorurteilen, Ressentiments und gefühlten Wissen bestimmt wird — und nicht von Tatsachen.

Das deutsche Nachrichtenpublikum glaubt an die Existenz eines Ostblocks. Also bekommt es ihn auch.

  • Besser gelaunte Videoberichte vom Grand Prix von Lukas und mir täglich unter Oslog.tv.