Autor: Stefan Niggemeier

Lena und die Nööööööte von RTL

Von Lena Meyer-Landrut weiß man, dass sie keine privaten Fragen beantwortet. RTL aber ist ein Privatsender. Bei der ersten Pressekonferenz der deutschen Delegation in Oslo kam es zu einer Art Showdown.

RTL-Reporterin: Wer aus Ihrer Familie ist dabei, wer unterstützt Sie? Und wie wichtig ist es tatsächlich, auch jemanden aus der Family dann hier zu haben?
Lena: Nööööööt.
Stefan Raab: Man muss auch nicht jede Scheiße beantworten, Lena.
Lena: Nein, nein. Das beantworte ich nicht.
RTL-Reporterin: Familie zur Unterstützung dabei zu haben, findet Ihr scheiße?
Lena: Nein, die Frage. Also die Familienfrage an sich.
RTL-Reporterin: Okay. Also Familie ist immer Tabu?
Lena: M-h!
Stefan Raab: Joa, muss Frauke Ludowig halt mal ohne so’n Käse auskommen. Müsst ihr euch was anderes aus der Nase ziehen. Irgendwie Häuser-Versteigerungssendungen oder sowas.

Die Szene und vieles mehr — in der dritten Folge von Oslog.tv: „Sha-La-Lena“

Google wusste schon im Januar: Lena siegt

Das ist schon toll, dieses Google. Traut sich aufgrund der Suchanfragen und Werweißwasfürwelcherdaten sogar eine tägliche Prognose zu, wer die meisten Stimmen vom Publikum beim Eurovision Song Contest gewinnen wird: unsere Lena!

Ungefähr alle deutschen Medien sind voll davon. Denn wenn es einer wissen muss, dann ja wohl Google. Toll an dem Eurovisions-Prognose-Tool ist, dass man die Grafik mit der Maus nach rechts schieben und auf diese Weise verfolgen kann, wie sich die Popularität der verschiedenen Kandidaten im Lauf der Zeit verändert hat. Anscheinend lag Lena schon vor einem Monat vorne:

Und schon am Tag, als sie den deutschen Vorentscheid zum Grand Prix gewonnen hatte:

Und bereits Anfang Februar, als die erste Sendung von „Unser Star für Oslo“ lief.

Ja, selbst Anfang Januar, als die deutschen Fernsehzuschauer Lena Meyer-Landrut bestenfalls aus zweifelhaften Serien von RTL kannten, konnte Google aus den damaligen Suchanfragen schon lesen, dass sie beste Chancen auf den Sieg beim Eurovision Song Contest hatte:

Erstaunlich.

Und woher wusste das Google damals schon? Klar: Weil deren Street-View-Wagen in Hannover versehentlich die Zukunft mit aufgenommen hatte.

(Entdeckt von „Oslog“-Leser Heiko — drüben, auf oslog.tv, habe ich auch noch was über den ganzen Wettfavoriten-Wahn geschrieben.)

Wahrheits-Schock! „Die Aktuelle“ weint!

Mit der Wahrheit hat’s Anne Hoffmann nicht so, aber das ist ihr Beruf: Sie ist Chefredakteurin der von der WAZ-Gruppe herausgegebenen Zeitschrift „Die Aktuelle“.

In der „Aktuellen“ stehen Woche für Woche Geschichten, die entweder unwahrscheinlich sind oder unaufregend (oder, im schlechtesten, aber häufigsten Fall: unwahrscheinlich und unaufregend). Deshalb gibt sich die Redaktion viel Mühe, auf dem Cover einen falschen Eindruck über den tatsächlichen Inhalt zu erwecken.

Dort heißt es zum Beispiel:

Es stellt sich dann heraus, dass der „Schock“ darin besteht, dass Heidi Klum neulich anscheinend mal ungeföhnt auf die Straße gegangen ist, was zwei kleine Fotos dokumentieren. Von einer „weinenden Seele“ ist nicht mehr die Rede, im Inneren fragt die „Aktuelle“ nur noch besorgt:

Hat sie keine Zeit mehr für ihre Haare?

Das „ehrliche Interview“ mit Veronica Ferres, das die „Aktuelle“ auf dem Cover verspricht, entpuppt sich als ein Text, den sich die Redaktion aus Versatzstücken eines aktuellen Gesprächs der Schauspielerin mit dem Kleinsender Tele 5 unter Verwendung mindestens zweieinhalb Jahre alter Zitate zusammengeschraubt hat. Den Zusammenhang der Aussagen zu irgendwelchen „schlimmen Gerüchten um ihre Beziehung“ hat die „Aktuelle“ hinzugedichtet; dass die Ferres „jetzt über ihre Tränen redet“, wie die Zeitschrift behauptet, ist frei erfunden.

Artikel in der „Aktuellen“ müssen nicht nur nicht stimmen, sie müssen nicht einmal in sich logisch sein. Vor fünf Jahren ist in La Paz ein Mann gestorben, den die „Aktuelle“ den „‚Bruder'“ von Verona Pooth nennt. Anscheinend kümmerte sich Veronas Mutter in Bolivien um den Jungen, musste ihn aber zurücklassen, als die Familie 1969 aus Bolivien nach Deutschland kam — so blieb Verona nur „die ewige Sehnsucht“ (sie war damals drei). Der ist jedenfalls „jetzt tot“ (vermutlich im Sinne von: immer noch). Und die „Aktuelle“ vermutet zwar, dass Verona von diesem „Drama“ noch gar nichts weiß, hat aber schon ein Beweisfoto gefunden, auf dem sie „traurig aussieht“.

Ich nehme nicht an, dass sich die meisten Menschen, die sich in der „Aktuellen“ wiederfinden, die Mühe machen, den Quatsch richtig zu stellen, der da über sie steht. Mario Barth hat immerhin in der Ausgabe dieser Woche eine Gegendarstellung untergebracht, in der er der Behauptung widerspricht, ein Foto der „Aktuellen“ aus dem November 2009 zeige ihn mit seiner Freundin, und die Redaktion musste hinzufügen: „Mario Barth hat Recht.“

Eine unendliche Ahnungslosigkeit durchströmt das Blatt, aber alle Energie, die bei der Produktion gespart wird, fließt in die kreative Titelgestaltung. (Ich habe leider kein vollständiges Archiv, wüsste aber so gern, worin Heinos Horror-Begegnung im Fahrstuhl (Heft 6/10) bestand und inwiefern Steffi Graf die Nachfolgerin von Jörg Kachelmann wird (Heft 18/10) — vielleicht kann mir ein Leser weiterhelfen?)

Man tut der „Aktuellen“ aus dem Haus WAZ also vermutlich nicht Unrecht, wenn man sie als olles Lügenblatt bezeichnet. Weshalb es einerseits so ironisch ist und andererseits so konsequent, dass Chefredakteurin Anne Hoffmann, die ihr Handwerk bei der Zeitschrift „das neue“ des berüchtigten Heinrich-Bauer-Verlages gelernt hat, vergangene Woche schrieb:

(…) uns von „die aktuelle“ ist es eine Herzensangelegenheit, die Wahrheit zu schreiben (…)

Natürlich musste „Die Aktuelle“ erst gerichtlich dazu gezwungen werden, dieser ihrer Herzensangelegenheit nachzugehen, und das kam so:

Anfang Februar berichtete die Zeitschrift über die „Arche“ in Potsdam-Drewitz, die der Moderator Günther Jauch unterstützt. Eine Reporterin der Zeitschrift hatte die christliche Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung „exklusiv besuchen dürfen“ („exklusiv“ hier im Sinne von: nach den ganzen anderen Medien) und kam aus dem Staunen nicht wieder heraus:

Was wir da über ihn hören, zeigt uns eine völlig unbekannte Seite des Moderators. Er zahlt nicht nur, er kennt auch die Kinder und deren Schicksale. Und die Kinder kennen ihn. „Er ist lustig und er hilft uns. Das ist schön“, erzählt die 8-jährige Lisa. Ganz begeistert von ihrem „Onkel Jauch“ rufen andere Kinder: „Er weiß ganz viel und er ist sehr lieb.“ „Der ist berühmt und gibt uns ganz viel Geld.“ „Der ist cool und ganz normal.“

Ich sag ja: So richtig aufregend sind die nicht, die „Aktuelle“-Geschichten. Aber mit ein bisschen viel Mut zur Täuschung des Lesers lässt sich dann doch eine sensationelle Titelgeschichte draus machen (und wer weiß, ob die Verantwortlichen genau die nicht schon vor Augen hatten, als sie die Reporterin losschickten):

Mit großer Perfidie erweckt „die Aktuelle“ den Eindruck, die Kinder des in Potsdam lebenden Moderators besucht und mit ihnen gesprochen zu haben (Jauch ist bekannt dafür, sein Privatleben und insbesondere die Kinder konsequent aus der medialen Öffentlichkeit zu halten). Fast muss man Anne Hoffmann und ihre Leute dafür bewundern, wie sie es schafften, alles so zu formulieren, dass es irgendwie zu der tatsächlichen (harmlosen) Geschichte passt, aber eine ganz andere suggeriert.

Die Enttäuschung muss groß gewesen sein, dass sie damit trotzdem nicht durchkamen. Über mehrere Instanzen wehrte sich „die Aktuelle“ (aus der, man kann es nicht oft genug sagen, sich womöglich für seriös haltenden WAZ-Gruppe) dagegen, eine Gegendarstellung Jauchs auf dem Titel abzudrucken. Nach Angaben Jauchs musste der Verlag sogar ein Zwangsgeld in deutlich fünfstelliger Höhe an die Staatskasse zahlen, weil er sich auch nach der Entscheidung des Gerichtes zunächst noch weigerte, die Gegendarstellung zu veröffentlichen.

Vergangene Woche kam sie dieser Pflicht endlich nach:

Vermutlich hatten die Journalisten Macher einfach so lange gebraucht, bis ihnen ein Trick eingefallen war, wie sie in angemessener „Aktuelle“-Manier mit der peinlichen und teuren Niederlage umgehen konnten: Sie strickten daraus eine neue Titelgeschichte — und Chefredakteurin Hoffmann musste sich noch dümmer stellen als sonst und noch ein bisschen mehr lügen. (Wobei die Überschrift „Das haben wir nicht gewollt!“ im Inneren natürlich stimmt — denn die „Aktuelle“ wollte sicher nur irreführen, aber nicht einen Widerruf drucken müssen.)

Hoffmann schreibt jedenfalls:

(…)“Jetzt sprechen die Kinder“ — so stand es damals auf dem Titel. Dazu haben wir ein Foto von den Kindern der „Arche“ veröffentlicht. (…) Wir haben das Foto der Kinder gezeigt, damit klar wird, dass es sich nicht um die Kinder von Günther Jauch handelt.

(Zweifeln Sie nicht an Ihrem Verstand, wenn Sie den Satz nicht verstehen, sondern an ihrem.)

Wir haben darunter geschrieben „Spielstunde in der Arche“, damit deutlich wird, dass wir hier Kinder aus dieser Einrichtung zeigen. Wir wollten kein Missverständnis aufkommen lassen — aber offenbar ist uns das nicht geglückt. Das ist gründlich schief gegangen. Wir hätten noch viel deutlicher machen müssen, dass die zwei süßen Mädchen nicht die Kinder von Günther Jauch sind. Dafür möchte ich mich aufrichtig entschuldigen! (…)

Wie konnte uns dieser Fehler passieren? Vermutlich im Überschwang. In der Begeisterung dafür, Ihnen liebe Leserinnen und Leser, jede Woche die spannendste „aktuelle“ zu schenken. Wir haben uns von der Geschichte mitreißen lassen — und in der Leidenschaft den kühlen Kopf verloren. Das haben wir nicht gewollt.

Vielleicht darf ich noch ein paar Worte an Sie direkt richten, sehr geehrter Herr Jauch. Sie sind ein großartiger Journalist. (…) Herr Jauch, ich entschuldige mich bei Ihnen. Ich entschuldige mich bei meinen Leserinnen und Lesern.

Dieses Heft, das Sie jetzt in Händen halten, soll zeigen, wie ernst es uns mit der Wahrheit ist. (…)

Das tut es tatsächlich. Es ist das Heft mit dem zusammengeklaubten und in einen falschen Kontext gestellten „ehrlichen Interview“ mit Veronica Ferres, mit den „Schock-Fotos“ von der weinenden Seele der Heidi Klum und dem ganzen Quatsch von der „Herzensangelegenheit“ und dem Willen, mit dem Titel kein Missverständnis aufkommen zu lassen. Es zeigt ganz gut, wie ernst es der „Aktuellen“ mit der Wahrheit ist.

(Aber das mit Heinos Horror-Begegnung im Fahrstuhl will ich jetzt wissen!)

Oslo – wir kommen!

Ich habe in meinem Leben schon ganz schön viel über den Eurovision Song Contest geschrieben ((„Unser Mann in Birmingham“, SZ, 28.02.1998)) ((„Gaga? Nur äußerlich!“, SZ, 18.2.2000)) ((„Die Welt versteht uns“, SZ, 21.2.2000)) ((„Der Mann, der nur Spaß vesteht“, SZ, 11.05.2000)) ((„Aufstand alter Männer“, SZ, 15.05.2000)) ((„Deutsche Leitmusik“, SZ, 10.01.2001)) ((„König der Zwerge“, SZ, 21.02.2001)) ((„Waterloo“, SZ, 05.03.2001)) ((„Lustig, lustig, tralalalalaaa“, SZ, 10.05.2001)) ((„Aber hallø!“, SZ, 12.05.2001)) ((„Europa wählt amerikanischen Funk“, SZ, 14.05.2001)) ((„Ein bisschen Soufflé“, FAS, 24.02.2002)) ((„Wie ‚Bild‘ Corinna May vor Männern schützt“, FAS, 19.05.2002)) ((„Bernd Meinunger: Höchstens ein bißchen Frieden“, FAZ, 23.05.2002)) ((„Ralph Siegel: He can’t live without music“, FAZ, 25.05.2002)) ((„Time to say goodbye“, FAZ, 27.05.2002)) ((„Sterne, die nicht gleich verglühen“, FAS, 31.01.2010)) ((u.v.a.m.)). Aber eines habe ich noch nie gemacht: ein Videoblog.

Bis jetzt. Zusammen mit Lukas berichte ich aus Oslo über die diesjährige Ausgabe der wahrscheinlich größten unwichtigen Veranstaltung der Welt. Markus „Herm“ Herrmann hat uns ein bezauberndes Heim eingerichtet für unser… Oslog!

Wir wollen versuchen, uns dem Ereignis in angemessener Form zu nähern: gut gelaunt und unverkrampft, neugierig, mit ein bisschen Distanz, aber Lust am Quatsch: dem der Veranstaltung und unserem eigenem. Die Pilotfolge, „Auf dem Lena-Meyer-Landweg zum Grand Prix“, soll davon schon einen Vorgeschmack geben.

(Bitte beachten Sie unbedingt, wie wir bei 2:31 mit fast beunruhigender Synchronizität „Nicole“ sagen.)

Alles weitere ab sofort unter oslog.tv.

Wie ich in den „Spiegel“ kam

Ich stand am Donnerstag voriger Woche gerade im Nieselregen in der Hamburger Fußgängerzone, als mich Martin U. Müller vom „Spiegel“ auf dem Handy erreichte. Nach ein bisschen Small Talk wechselte er den Tonfall und klang plötzlich, als müsse er etwas sehr Unangenehmes mit mir besprechen. Ihm sei da nämlich eine Information zugespielt worden.

Es stellte sich heraus, dass es nicht um die Sache mit den Schafen im Keller und den missglückten Sex-Experimenten ging, sondern bloß um einen Beitrag, den ich für das Online-Magazin screen.tv geschrieben habe, das die Sendergruppe ProSiebenSat.1 herausgibt. Müller konfrontierte mich mit der Beobachtung, dass ich da sogar im Impressum stünde und wollte wissen: Ob ich kein Problem damit hätte, für ein Unternehmen zu arbeiten, das sonst Gegenstand meiner Berichterstattung sei. Ob ich in Zukunft regelmäßig für die arbeiten würde. Ob die Bezahlung im üblichen Rahmen gewesen sei oder es sich um einen dieser sagenumwobenen Aufträge handele, für die man ein halbes Reihenhaus bekomme. Ob mir bekannt sei, dass der Berufsverband Freischreiber, bei dem ich ja Mitglied sei, eine strikte Trennung von Journalismus und PR-Arbeit fordere.

Ich versuchte, dem „Spiegel“-Redakteur zu erklären, dass es sich nicht um PR handelt, sondern einen journalistischen Artikel, den ich ohne jede Einflussnahme oder inhaltliche Vorgabe geschrieben habe. Bei screen.tv handelt es sich nicht um eine Werbebroschüre, sondern ein journalistisches Magazin, das nur insofern möglicherweise PR für ProSiebenSat.1 darstellt, als damit vielleicht die Hoffnung auf einen Imagegewinn verbunden ist: Dass ein solches Unternehmen es sich in solchen Zeiten leistet, Geld für ein solches Magazin auszugeben.

Ich versuchte den Verdacht, dass ich hier PR für ProSiebenSat.1 betreibe, noch dadurch zu entkräften, dass ich ihn darauf hinwies, dass deren Töchter in meinem Stück keineswegs gut wegkommen, woraufhin er fragte, ob ich das extra gemacht hätte, quasi als Demonstration der Unabhängigkeit, und ich erwiderte: Nein, einfach weil die Streaming-Angebote der Gruppe so schlecht sind. Es war ein anstrengendes Gespräch, was sicher auch daran lag, dass ich nicht verstand, was er mir eigentlich vorwarf, und noch weniger, was daran ein Thema für den „Spiegel“ sein könnte.

Medienjournalismus. Schon das Wort belustigt Begriffsstutze wie Henryk M. Broder, weil sie so tun, als wäre es analog zu Zeitungs-, Fernseh- und Onlinejournalismus gebildet und stelle also eigentlich einen Pleonasmus dar. Dabei steht es in einer Reihe mit Sport-, Politik- oder Wirtschaftsjournalismus; der erste Wortteil bezeichnet nicht das Medium, sondern seinen Gegenstand.

Doch die scheinbare Doppeldeutigkeit des Wortes zeigt auch das Spezielle an der Arbeit als Medienjournalist, das Dilemma beim Schreiben in den Medien über die Medien. Fast jeder Text ist zwangsläufig ein Text über ehemalige oder potentielle zukünftige Auftrag- oder Arbeitgeber, über direkte Kollegen oder Konkurrenten. Fast jeder medienjournalistische Text steht somit unter dem Generalverdacht einer Interessenskollision, eines Kalküls jenseits journalistischer Kriterien.

Ich nehme an, dass diese Situation auch den Medienjournalisten beim „Spiegel“ nicht fremd ist. Was ihnen aber offenbar fremd ist: Dass ein journalistisches Leben außerhalb der „Spiegel“-Redaktion existiert. Dass es Journalisten gibt, sogar Medienjournalisten, die nicht angestellte Redakteure sind, mit festem Gehalt und Einbindung in eine Hierarchie, sondern frei arbeiten, und das sogar freiwillig, nicht aus Not. Und dass diese Freiheit auch eine Form von Unabhängigkeit ist.

Als freier Journalist arbeite ich für verschiedene Auftraggeber. Die Auftraggeber sind Medienunternehmen. Medienunternehmen sind Gegenstand meiner Berichterstattung. Fast jeder Text ist insofern angreifbar, und dagegen hilft nur eines: der Beweis der Unabhängigkeit in der täglichen Arbeit.

Und damit sind wir wieder beim „Spiegel“, der tatsächlich Platz fand in seiner Ausgabe vom vergangenen Montag für ein Stück über mich und meinen Artikel im von ihm anonymisierten „Online-Magazin der ProSiebenSat.1 AG“. Der „Spiegel“ wirft mir nicht vor, einen bestellten PR-Text für ProSiebenSat.1 geschrieben zu haben. Er findet ausdrücklich, dass mein Text sich „nicht wie eine Eloge auf die Sendergruppe“ lese. Warum es sonst verwerflich ist, als Medienjournalist für ein journalistisches Magazin zu schreiben, wenn es nicht von einem Verlag, sondern einem Fernsehsender herausgegeben wird, lässt der „Spiegel“ offen. Martin U. Müller raunt nur, ich nähme es „offenbar nicht ganz so genau, was die Distanz zum Gegenstand [meiner] Berichterstattung betrifft“.

„Kritiker in der Kritik“ steht übrigens als Überschrift über der „Spiegel“-Meldung, und das ist einerseits natürlich ein alter Journalisten-Trick, sich quasi unsichtbar zu machen, aber die Wirkung des eigenen Tuns vorwegzunehmen. Der Kommentator dot tilde dot beschreibt den Effekt so:

interessant an dieser kritik ist, dass sie nur „ist“ und gar nicht stattfindet – außer im spiegel-artikel, der über die kritik berichtet. die aber gar nicht stattfindet, außer im spiegel-artikel, der über sie berichtet. obwohl sie nicht stattfindet.

(mir wird schwindelig. ich habe das gefühl, abschweifen zu müssen, um beim thema zu bleiben.)

Andererseits gab es die „Kritik“ aber tatsächlich schon vor dem Artikel, und das ist womöglich die interessantere Geschichte als die Frage, warum der „Spiegel“ mich kritisiert. Martin U. Müller ist nämlich nicht über die offizielle Pressemitteilung auf meine Mitwirkung an dem Magazin aufmerksam geworden, oder über Google oder Turi2, sondern über eine anonyme Mail. Der Absender hat sie in ähnlicher Form auch als Kommentar an verschiedenen Orten abgegeben, unter anderem hier im Blog unter dem Namen „finanzbeamter“:

Seit Februar2009 gab es für Herrn Niggemeier im Bereich Call TV nichts mehr über 9live zu berichten.Dafür engagiert er sich aber gerne für die Unternehmenskommunikation der Gesellschafterin, zusammen mit seinem Spezi Peer Schader. Wenn das mal kein Gschmäckle hat.

Ich kenne den Absender nicht, der allem Anschein nach auch schon unter anderem Namen hier kommentiert hat; offenkundig ist aber, dass er aus dem Umfeld der Call-TV-Branche und ihrer besonders schwarzen Schafe kommt. Dieselbe E-Mail-Adresse wurde auch schon benutzt, um als Drohungen zu verstehende Nachrichten an Kritiker des dubiosen Treibens von Call-TV-Firmen wie Primavera.TV verschickt.

Dieser Unbekannte hatte also Lust, mir ein bisschen Ärger zu machen – und fand ausgerechnet beim „Spiegel“ tatsächlich ein offenes Ohr. Die lustige Verschwörungstheorie, wonach ich (wenn ich das richtig verstehe) von ProSiebenSat.1 gekauft worden sei und deshalb nicht mehr kritisch über 9live berichte, hat zwar explizit dann doch keinen Weg in den „Spiegel“ gefunden. Aber Martin U. Müller konfrontierte mich im Telefongespräch tatsächlich auch mit diesem Vorwurf.

Und das, obwohl der nicht einmal einer schlichten Überprüfung der Fakten standhält: Ich habe noch im August 2009 über 9live berichtet. (Kann natürlich sein, dass ich erst danach gekauft wurde.)

Das ist das einzig wirklich Ärgerliche an meinem unfreiwilligen Gastauftritt im „Spiegel“: Dass das Nachrichtenmagazin sich beim Versuch, mich ein bisschen zu ärgern, zum Erfüllungsgehilfen irgendeines dubiosen Dunkelmanns gemacht hat, der gerade versucht, Call-TV-Kritiker einzuschüchtern.

Der „Stern“ färbt ab

Ich les den „Stern“ ohnehin eigentlich nur im Urlaub, kann aber auch das insbesondere bei schweißtreibenden Flugreisen nur sehr bedingt empfehlen.

Diözese Regensburg ./. Niggemeier

Wo war ich? Ach ja.

Die Diözese Regensburg hat nun auch mich abgemahnt. Sie geht also nicht mehr nur gegen Artikel über ihr Verhalten im Zusammenhang mit dem Kindesmissbrauch eines Pfarrers vor elf Jahren vor. Sie geht auch gegen Artikel vor, die darüber berichten, wie sie gegen diese Artikel vorgeht.

Am Mittwoch vergangener Woche hat mich der Anwalt der Diözese aufgefordert, eine Unterlassungserklärung abzugeben und nicht mehr den Eindruck zu erwecken, die Kirche habe sich das Schweigen der Opfer eines Pfarrer erkauft. Dies habe ich nach Ansicht des Anwaltes dadurch getan, dass ich in diesem Eintrag drei Passagen aus der Berichterstattung des „Spiegel“ und dem Internetangebot regensburg-digital.de über den Vorfall damals zitiert habe, gegen die die Diözese beim Landgericht Hamburg einstweilige Verfügungen erwirkt hat.

Die von mir zitierten Passagen seien „falsch und darüber hinaus ehrenrührig“, was die Kirche nicht bereit sei hinzunehmen. Weil ich die „Verbotsbehauptungen“ in meinem Eintrag „ohne Distanzierung“ veröffentlicht hätte, würde ich gegenüber dem Bistum Regensburg auf Unterlassung haften, heißt es in der kostenpflichigen Abmahnung.

Ich habe die geforderte „Unterlassungs-/Verpflichtungserklärung“ nicht abgegeben und halte meine Berichterstattung für rechtmäßig. Anders als behauptet, habe ich mir die Äußerungen, die das Bistum Regensburg dem „Spiegel“ und regensburg-digital.de einstweilig verboten hat, nicht zu eigen gemacht. Was den damit verbundenen Vorwurf betrifft, enthalte ich mich jedes eigenen Urteils.

Thema meines Eintrages ist nicht das Verhalten der Kirche damals, sondern ihr Umgang mit Kritikern und Berichterstattern heute. Wenn es stets unzulässig wäre, in neutraler Form über eine öffentlich relevante Streitfrage zu berichten, deren Wahrheitsgehalt ungewiss ist, wäre jede Gerichtsberichterstattung über äußerungsrechtliche Zivilprozesse unzulässig, was mit der Meinugsfreiheit des Artikel 5 Grundgesetz nicht vereinbar wäre. (Stets unzulässig ist es nur dann, wenn es um die Intim- oder Privatsphäre geht oder die Tatsachenbehauptungen erwiesenermaßen unwahr sind.)

Darüber hinaus habe ich aber auch die Bedingungen erfüllt, die Voraussetzung für eine sogenannte „Verdachtsberichterstattung“ über den Fall wären. Dazu gehört, dass ich der Diözese Gelegenheit gegeben habe, zu den Vorwürfen gegen sie Stellung zu nehmen, wovon sie bewusst keinen Gebrauch gemacht hat.

So umfassend ist also das Schweigen, das das Bistum Regenburg gerichtlich erzwingen will. Es geht ihr offenkundig nicht nur um eine (richtige oder falsche) Aufbereitung der Ereignisse von 1999. Es geht ihr offenkundig darum, das Thema insgesamt aus der Öffentlichkeit herauszuklagen.

Um ihre Forderung durchzusetzen, muss die Diözese nun versuchen, eine einstweilige Verfügung gegen mich und diesen Blogeintrag zu erwirken, zum Beispiel beim Hamburger Landgericht.

PS:

Auch das Medienmagazin „Journalist“, das vom Deutschen Journalistenverband herausgegeben wird, berichtet in seiner aktuellen Ausgabe über die Auseinandersetzung. Die sonst nicht zimperliche Redaktion hat allerdings in einem erstaunlichen Akt von Selbstzensur Wörter im Artikel geschwärzt:



Zur Erklärung schreibt der „Journalist“ unter dem Text:

* Die Redaktion hat sich aus freien Stücken entschlossen, den beanstandeten Begriff zu schwärzen, um der Diözese Regensburg keinen Anlass für ein juristisches Scharmützel zu geben. Ihre Rechtsauffassung teilen wir nicht.

Wie bizarr. Natürlich kann man sich als Berichterstatter dafür entscheiden, angesichts der schwebenden Verfahren und der ungeklärten Umstände damals den umstrittenen Ausdruck nicht zu verwenden. Aber in einem Akt vorauseilenden Gehorsams plakativ eine Forderung des Bistums Regensburg zu erfüllen, die man angeblich für ungerechtfertigt hält, ist nicht nur feige, sondern sendet ein verheerendes Signal an Abmahner und Abgemahnte gleichermaßen — insbesondere wenn sich das Organ eines journalistischen Berufsverbandes so verhält.