Autor: Stefan Niggemeier

Vielleicht geht es Ihnen auch so

Ich möchte die ARD mögen.

Ich bin ein großer Freund der Idee des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Die ARD hat mir einen tollen Preis verliehen. Ich verdanke ihr die „Sesamstraße“, Loriot, Eberhard Fechners „Prozess“, „ZAK“, Wiwaldi und Jörg Thadeusz.

Aber manchmal, wenn ich Pech habe und gefragt werde, was an der ARD eigentlich so toll ist, fällt mir nichts ein, weil mir nur Reinhold Beckmann, Alois Theisen, „In aller Freundschaft“ und Hansi Hinterseer einfallen.

Anscheinend bin ich nicht der einzige, dem es so geht. Anscheinend haben auch und gerade ARD-Mitarbeiter dieses Problem. Deshalb hat der SWR an seine Leute jetzt Spickzettel verschickt mit „10 guten Gründen für die ARD“.

SWR-Intendant Boudgoust schreibt ihnen:

Liebe Mitarbeiterin, lieber Mitarbeiter,

„Ach, du arbeitest beim SWR?“ — diesen Satz kennen Sie sicher, und vielleicht geht es Ihnen auch so, dass Sie zunehmend darauf angesprochen werden, warum es den öffentlich-rechtlichen Rundfunk überhaupt noch braucht.

Dass die GEZ keinen guten Ruf hat, ist klar. Wer zahlt schon gerne Gebühren? Dass sich das negative Image aber auch auf die Sender überträgt, ist relativ neu. Und auch wenn Sie sicher davon überzeugt sind, dass der SWR und der öffentlich-rechtliche Rundfunk wichtig sind, fällt es Ihnen vielleicht nicht immer leicht, dies auch konkret zu begründen.

Da möchte ich Ihnen gerne helfen, denn schließlich gehört es zu meinem Job, jeden Tag vielen Leuten zu erklären, dass wir uns in Deutschland auch in Zukunft den öffentlich-rechtlichen Rundfunk leisten sollten, weil wir es uns nicht leisten können, darauf zu verzichten.

„9 von 10 guten Gründen für die ARD“ haben wir auf dem kleinen Kärtchen, das diesem Brief anhängt, für Sie aufgeschrieben. Kurz und knackig formuliert, vom Kinderprogramm bis zur Kulturarbeit. Manches davon soll provozieren und bewusst zum Nachdenken anregen. Es handelt sich hier nicht um in Stein gemeißelte „10 Gebote“, sondern um einen Anstoß für die Diskussion in unserem Haus. Denn die Gründe gelten natürlich nicht nur für die ARD insgesamt, sondern auch für den SWR im Besonderen. Zusätzliche Infos, Zahlen und Beispiele zu den einzelnen Punkten finden Sie im SWR-Intranet unter >Der SWR>Gebühren. Dort können Sie auch weitere Gründe selbst beisteuern, die Ihnen besonders wichtig sind.

Und vielleicht möchten Sie ja das kleine Kärtchen in Ihren Geldbeutel stecken, damit Sie ganz schnell noch einen Blick darauf werfen können, wenn Sie das nächste Mal jemand auf Ihren Arbeitgeber anspricht. Denn Sie und Ihre gute Arbeit sind der zehnte und beste Grund, warum es uns geben muss! Seien Sie Fürsprecherin und Fürsprecher für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Er hat es verdient.

Viele Grüße,
Ihr
Peter Boudgoust

Hach. Wird einem da nicht warm ums Herz?

Freundlicherweise hat mir ein SWR-Mitarbeiter sein Kärtchen zur Verfügung gestellt. Das leg ich mir jetzt neben den Fernseher, für wenn die Zweifel wieder kommen.

Dann schauen wir mal:


Ooo-kay.

Das ist ja nicht alles falsch, und vermutlich muss man schon froh sein, dass sich nur der letzte Punkt reimt. Und Boudgousts Worte in der Gebrauchsanweisung, dass „manches davon provozieren und bewusst zum Nachdenken anregen soll“, sind vermutlich auch als eine Art Warnung gemeint, nicht jedes Wort beim Wort zu nehmen, oder eine Entschuldigung, dass die Verfasser selbst es mit dem Nachdenken nicht übertrieben haben.

Aber das wüsste ich dann doch gerne: Inwiefern die Tatsache, dass die öffentlich-rechtlichen Programme nur 60 Cent am Tag kosten, die ARD „unverzichtbar“ macht. Wäre sie verzichtbarer, wenn es mehr wären? Weniger?

Und die ARD hat „die meisten Zuschauer und Hörer“? Die Rechnung würde ich dann doch gern mal im Detail sehen. Vermutlich muss man dazu beim Fernsehen das Erste und die diversen Dritten zusammenzählen, darf aber andererseits nicht die Sender der RTL-Gruppe addieren.

Inwiefern sind die Fußballübertragungen, für deren Rechte die ARD absurd viel Geld ausgibt, „for free“, wenn der Zuschauer doch Rundfunkgebühren zahlt? Und kommt die „Pisa-Versicherung“, die Deutschland braucht, auch dafür auf, wenn dieser schiefgestapelte Argumententurm einstürzt?

Das liest sich beim besten Willen (und der steckt sicher dahinter) sehr angestrengt. Gibt es nicht eine psychologische Regel, dass es schwer ist, jemanden zu mögen, der sich selbst nicht mag?

Ich mache mir jetzt noch ein bisschen mehr Sorgen um die ARD.

Über Abmahnungen

Ich warte auf den Tag, an dem mich jemand verklagt, weil ich ihn klagefreudig genannt habe.

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Der bekannte Berliner Medienanwalt Christian Schertz möchte nicht mit dem verstorbenen Münchner Rechtsanwalt Günter Werner Freiherr von Gravenreuth verglichen werden. Er meint, dass der Vergleich mit dem als Betrüger verurteilten und für seine umstrittenen Abmahnungen berüchtigten Gravenreuth abwegig ist — das finde ich auch. Und er meint, dass dieser Vergleich deshalb unzulässig ist — das finde ich nicht.

Woher kommt der Gedanke, dass man Dinge, die einem nicht gefallen, mit der Hilfe von Anwälten und Gerichten aus der Welt schaffen lassen kann? Wenn das nicht mit Meinungsfreiheit gemeint ist: dass Leute frei finden und sagen können, an wen ich sie erinnere, egal wie ungerecht mir das erscheinen oder wie unvorteilhaft das für mich sein mag — was denn dann?

Schertz, der sich gerne als Kämpfer für das Gute stilisiert und als Rechtsberater unter anderem die Freiheit der ARD verteidigt hat, einen plumpen Anti-Scientology-Film auszustrahlen, hat in eigener Sache eine besondere Vorstellung von den Grenzen der Meinungsfreiheit. Er hat seinen Dauerfeind, den Gerichtsreporter Rolf Schälike, wegen verschiedener Kommentare hier im Blog abmahnen lassen. Es geht dabei nicht nur um (möglicherweise falsche) Tatsachenbehauptungen. Schälike hatte u.a. kommentiert:

Beide Anwälte [Schertz und Gravenreuth]- der eine post mortal, der andere heute noch – haben einen nachvollziehbaren Grund von der Rechtsprechung enttäuscht zu sein.

Schertz‘ Anwalt forderte deshalb eine Unterlassungserklärung von Schälike:

In diesem Beitrag setzen Sie unseren Mandanten und sein rechtliches Vorgehen mit den Methoden und dem Vorgehen des verstorbenen Rechtsanwalts von Gravenreuth dar [sic]. Dies muss mein Mandant nicht hinnehmen.

Schälike hat mich aufgrund des rechtlichen Vorgehens von Schertz gegen ihn gebeten, alle seine Kommentare unter den entsprechenden Einträgen zu löschen. Doch das ist nicht nur eine Privatfehde. Schertz meint es auch von anderen nicht hinnehmen zu können oder zu müssen, mit Gravenreuth verglichen zu werden.

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Ich hatte in den vergangenen Wochen mehrfach wieder Kontakt zu dem Anwalt von Stephan Mayerbacher, einem Geschäftsmann aus der Call-TV-Branche, der bereits mehrfach juristisch gegen mich vorgegangen ist. Diesmal bekam ich keine Abmahnungen, sondern wurde „im Guten“ auf Kommentare in diesem Blog hingewiesen, die Herr Mayerbacher für unzulässig hält.

Unter anderem wurde ich aufgefordert, den von einem Kommentator geäußerten Verdacht zu löschen, „Herr Mayerbacher durchsuche Internetforen und -blogs nach abmahnfähigen Beiträgen“, denn das sei unwahr.

Man kann das für eine Form von Ironie halten, wenn jemand seinen Anwalt damit beauftragt, den Betreiber eines Blogs darauf hinzuweisen, dass die Behauptung, er durchsuche Blogs nach abmahnfähigen Beiträgen, abmahnfähig ist. Es ist nur nicht so witzig, so lange man davon ausgehen muss, dass das Hamburger Landgericht darüber nicht lachen kann, sondern im Zweifel einen Beweis dafür will, dass Herr Mayerbacher tatsächlich Blogs und Foren durchsucht und sie nicht vielleicht durchsuchen lässt oder, ganz ohne Suche, zufällig immer wieder auf diese abmahnfähigen Beiträge stößt. Weil ich tatsächlich nicht weiß, was Herr Mayerbacher so in seiner Freizeit macht (aktuell weiß ich nicht einmal, was er beruflich macht), habe ich den entsprechenden Kommentar gelöscht.

Der Anwalt hatte mich auch gebeten, einen Kommentar zu löschen, in dem jemand schreibt, dass Mayerbacher seinen Sitz im Verwaltungsrat des Schweizer Fernsehsenders Star TV „abgegeben hat bzw. abgeben durfte“. Die Formulierung suggeriere, Mayerbacher habe seine Verwaltungsratstätigkeit unfreiwillig aufgegeben, was unwahr sei. Das tut sie meiner Meinung nach nicht, weshalb ich den Kommentar nicht gelöscht habe. Wenn selbst eine solche Formulierung nicht erlaubt wäre, eine bloße Umschreibung des „keine Ahnung, warum der gegangen ist, ob’s freiwillig war?“ schon unzulässig wäre, könnten wir’s wirklich gleich lassen mit der Meinungsfreiheit.

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Mayerbachers Anwalt sieht in ein paar kryptischen Beiträgen tief in den Kommentarspalten dieses Blogs ein „Kesseltreiben“ gegen seinen Mandanten, das der sich nicht gefallen lassen müsse. Und er fügte den bemerkenswerten Satz hinzu: „Ich sehe auch nicht, worin der Wert für Ihren Blog liegen soll.“

Diese Leute — nicht nur dieser Anwalt oder sein Mandant, sondern viele andere — haben das elementare Prinzip der Meinungsfreiheit nicht verstanden. Sie haben nicht verstanden, dass sie ein Wert an sich ist. Dass sie auch Beiträge schützt, die nach irgendwelchen subjektiven oder objektiven Maßstäben wertlos sind. Artikel 5, Absatz 1, Satz 1 des Grundgesetzes lautet nicht: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten, solange es sich um ein wichtiges Thema handelt und ein Interesse der Öffentlichkeit an dieser Meinung besteht.“

Man kann diesen Leuten das Missverständnis nicht einmal verübeln, denn die Hamburger und Berliner Gerichte, vor die sie in einer langen Karawane ziehen, um ihre vermeintlichen oder tatsächlichen Ansprüche durchzusetzen, sind dem gleichen Missverständnis erlegen. Seit einigen Wochen haben sie das sogar schwarz auf weiß, formuliert vom Bundesverfassungsgericht. Es erklärte den Berliner Richtern, dass das Persönlichkeitsrecht eines Menschen

seinem Träger keinen Anspruch darauf vermittelt, öffentlich nur so dargestellt zu werden, wie es ihm selbst genehm ist (…).

Das Bundesverfassungsgericht fürchtete,

dass die Gerichte den Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 GG grundlegend verkannt haben. Zwar handelt es sich bei dem — hier als gering erachteten — öffentlichen Informationsinteresse um einen wesentlichen Abwägungsfaktor in Fällen einer Kollision der grundrechtlich geschützten Äußerungsinteressen einerseits und der Persönlichkeitsbelange des von der Äußerung Betroffenen andererseits. Dies bedeutet aber nicht, dass die Meinungsfreiheit nur unter dem Vorbehalt des öffentlichen Interesses geschützt wäre und von dem Grundrechtsträger nur gleichsam treuhänderisch für das demokratisch verfasste Gemeinwesen ausgeübt würde.

Das Bundesverfassungsgericht erklärte schließlich,

dass die Äußerung wahrer Tatsachen, zumal solcher aus dem Bereich der Sozialsphäre, regelmäßig hingenommen werden muss.

Adressat dieser Grundrechts-Nachhilfe waren formal die Berliner Gerichte, de facto aber auch Christian Schertz, der ursprünglich geklagt und zunächst gewonnen hatte. Auf der langen Liste von Dingen, die er glaubt, trotz Meinungsfreiheit nicht hinnehmen zu müssen, steht nämlich auch das wahrheitsgemäße Zitieren aus einer E-Mail, die er als Antwort auf eine bissige Presseanfrage geschrieben hatte und in der er — wie es seine Art ist — gleich wieder mit juristischen Konsequenzen drohte.

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Nun ist es eine schöne Sache, dass die obersten deutschen Gerichte der systematischen Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit durch die Hamburger und Berliner Pressekammern zunehmend widersprechen. Aber der Weg zu diesen obersten Gerichten ist weit und teuer.

Ende vergangenen Jahres hat Stephan Mayerbacher beim Hamburger Landgericht eine einstweilige Verfügung gegen mich erwirkt, die mir praktisch untersagt, eine Verbindung herzustellen zwischen ihm und Vorwürfen, die gegen bestimmte Firmen erhoben werden, für die er in verschiedenen Formen gearbeitet hat. Es bestand aufgrund eines Urteils des Bundesgerichtshofes zwar eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass ich diese Auseinandersetzung in letzter Instanz gewinnen könnte. Aber in der ersten und zweiten Instanz in Hamburg waren meine Aussichten gleich null, so dass ich auf den langen, teuren Rechtsstreit (mit natürlich ungewissem Ausgang) verzichtet, den Blogeintrag gelöscht, die einstweilige Verfügung akzeptiert und die Anwalts- und Gerichtskosten von deutlich über 2000 Euro gezahlt habe.

Am ärgerlichsten daran ist, dass das jeden Kommentar zu dem Thema in meinem Blog oder jede künftige Berichterstattung von mir über Mayerbachers Geschäfte äußerst heikel macht. Nicht ohne Grund hängt sein Anwalt an die Mails, die er mir „im Guten“ schickt, immer mal wieder das PDF mit der einstweiligen Verfügung.

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Nun gibt es sicherlich schwerwiegendere Fälle als die hier genannten, in denen irgendwelche mächtigen oder jedenfalls finanzkräftigen Gruppen oder Unternehmen versuchen, Berichterstattung über sich zu verhindern. Aber gerade die Alltäglichkeit, die Abmahnungen und einstweilige Verfügungen geworden sind, finde ich beunruhigend.

Für erstaunlich viele Menschen, Gruppen und Unternehmen scheint es ganz normaler Bestandteil des Repertoires einer Auseinandersetzung zu sein, anderen ihre Äußerungen zu verbieten. Das ist nicht nur ein juristisches Problem, sondern auch ein gesellschaftliches und kulturelles.

Ein Beispiel.

Vor kurzem beklagte sich Alexander Görlach in seinem konservativen Online-Magazin „The European“, dass der neue Chefredakteur Michael Naumann das konservative Print-Magazin „Cicero“ nach links rücken wolle. Görlach war früher selbst bei „Cicero“ und schien sehr, sehr aufgeregt über das, was da bei seinem alten Blatt passierte, das offenbar — unbemerkt von der Öffentlichkeit — bislang eines der erfolgreichsten und wichtigsten Medien der Republik war. Die „Cicero“-Mitarbeiter flüchteten massenhaft vor Naumann und seinen linken Meinungsdiktaten, hyperventilierte Görlach: „Cicero ist erledigt.“ Außerdem habe Naumann einen Dienstwagen erwartet, aber keinen bekommen, was sicher irgendwas beweisen sollte.

Naumann antwortete, dass das „alles Quatsch“ sei, sponn, dass das ein „schlechtes Licht auf den Online-Journalismus“ werfe, und widersprach auch der Sache mit dem Dienstwagen. Aber er beließ es nicht dabei. Er schickte über seinen Anwalt auch eine teure Abmahnung. Der „Berliner Zeitung“ erklärte er: „Geht man gegen solche Artikel nicht juristisch vor, bleiben sie ewig an einem hängen.“

Was für ein Irrsinn. Der Artikel auf „The European“ ist zwar jetzt gelöscht. Aber die Zitate aus ihm in den Fachmedien wirken nun viel überzeugender als in ihrem ursprünglichen, von merkwürdiger persönlicher Gekränktheit durchweichten Gesamttext. Glaubt Naumann wirklich, dass die Menschen nun seiner Version der Dinge glauben, weil Görlach eine Unterlassungserklärung unterzeichnet hat? Hat Görlach das getan, weil er eingesehen hat, dass Fakten falsch waren, oder doch nur, weil er eine noch kostspieligere Auseinandersetzung vor Gericht vermeiden wollte?

Naumann glaubt womöglich, dass er den Anwalt einschalten musste, um zu beweisen, dass die Behauptungen wirklich falsch sind. Als würden Anwälte nicht gerade dann gerne eingeschaltet, wenn Behauptungen wahr sind.

Vielleicht wollte er aber auch nur das gute Gefühl haben, jemandem gezeigt zu haben, wo der Hammer hängt. Das ist als psychologisches Moment sicher nicht zu unterschätzen, diese Genugtuung, dass jemand einem schwarz auf weiß gibt, etwas nicht mehr behaupten zu wollen — und dafür sogar Geld zahlen muss.

Zu einer gerichtlichen Entscheidung kam es in diesem Fall gar nicht mehr, weil Görlach die geforderte Unterlassungserklärung abgab. Aber auch die hätte vermutlich keine Klarheit in der Sache gebracht. Natürlich lässt sich so eine einstweilige Verfügung gut verkaufen. Und womöglich gibt es sogar noch zwei, drei Ahnungslose, die glauben, einer solchen Entscheidung läge eine Art Beweisaufnahme zugrunde, in der die Richter gründlich prüfen, womöglich noch Zeugen anhören und dann quasi ein fundiertes, offizielles Urteil darüber abgeben, welche Version der Wahrheit die richtige ist. (So ist es nicht.)

Es ist traurig, das einem alternden Publizisten wie Naumann erklären zu müssen, aber es gibt etwas, das viel überzeugender ist als die (Fehl-)Urteile komischer Richter: Argumente.

Mir will nicht in den Kopf, warum ausgerechnet Journalisten und Medien, die selbst beste Möglichkeiten haben, ihre Widersprüche zur Darstellung anderer zu veröffentlichen, falsche Tatsachenbehauptungen gerade zu rücken und ungerechtfertigte Unterstellungen zu entkräften, glauben, sie müssten zu einem Gericht rennen. Selbst ein Henryk M. Broder, der ein gewaltiges Arsenal sprachlicher Waffen und Knallkörper zur Verfügung hat und auf sein Recht pocht, davon ohne Rücksicht auf Verluste Gebrauch zu machen, hat keine Hemmungen, anderen mit Hilfe von Anwälten und Richtern den Mund verbieten zu wollen.

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Angenommen, jemand schreibt, „der Niggemeier ist schlimmer als Hitler“. Bestimmt müsste ich das nicht hinnehmen. Aber warum sollte ich dagegen vorgehen? Spricht angesichts eines solchen Vergleichs nicht alles dafür, darauf zu vertrauen, dass auch andere Leute ihn für abwegig halten — und der Vergleich nicht mir schadet, sondern demjenigen, der ihn macht?

Wenn es völlig abwegig ist, die Anwälte Schertz und Gravenreuth miteinander zu vergleichen, muss Schertz nicht dagegen vorgehen. Dadurch, dass er es doch tut, demonstriert er paradoxerweise nicht nur seine Macht, sondern auch fehlendes Selbstbewusstsein. Er könnte den Vergleich sonst einfach aushalten. Oder glaubt er ernsthaft, dass er, sobald er erfolgreich jeden dieser Vergleiche aus dem Internet geklagt hat, von niemandem mehr für so ähnlich wie Gravenreuth gehalten wird? Dass sich Meinungen genauso verbieten lassen wie Meinungsäußerungen? (Ganz abgesehen natürlich von dem schönen Paradoxon, dass er mit jeder dieser Klagen dem Mann ähnlicher scheint, dem er nicht ähnlich sein will.)

Was genau hat sich jemand wie der DFB-Chef Theo Zwanziger davon erhofft, Jens Weinreich zu verklagen, weil der ihn in einem konkreten Zusammenhang als „Demagogen“ bezeichnet hat? Glaubt er, dass seine Kritiker ihn nicht mehr für einen „Demagogen“ halten würden, wenn er ihnen verbietet, ihn öffentlich so zu nennen?

Natürlich schadet es einer Debatte, wenn sie Grenzen überschreitet, wenn Beleidigungen oder Verleumdungen überhand nehmen. Aber im Moment sehe ich unser Diskussionskultur nicht von den Auswüchsen falsch verstandener Meinungsfreiheit bedroht, sondern von den Exzessen einer ausartenden Abmahnunkultur. Im Zweifel ist mir eine Welt lieber, in der zuviel herumkrakeelt wird, als eine, in der jeder damit rechnen muss, dass ihn jedes falsche Wort (und viele wahre) viel Geld kostet.

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Natürlich gibt es Fälle, in denen es legitim ist oder sogar notwendig sein kann, Veröffentlichungen verbieten zu lassen (und es haben nicht einmal alle dieser Fälle mit der „Bild“-Zeitung zu tun). Aber müsste das in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht das letzte Mittel sein? Eine drastische Maßnahme für besonders drastische Fälle — anstatt ein Routinewerkzeug in jeder Auseinandersetzung? Es ist völlig das Bewusstsein dafür abhanden gekommen, was für ein einschneidender Schritt das ist: jemandem zu verbieten, etwas zu sagen.

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Vielleicht ist das bei Leuten wie Christian Schertz auch eine berufliche Deformation. Der Anwalt käme gar nicht mehr auf den Gedanken, dass er einer falschen oder irreführenden Aussage einfach widersprechen und damit Menschen überzeugen könnte. Er lässt sie löschen. Sie muss verschwinden, als hätte es sie nie gegeben.

Es geht diesen Leuten nicht mehr darum, sich Gehör zu verschaffen. Es geht ihnen darum, die anderen zum Schweigen zu bringen.

Das ist eine nachvollziehbare Vorgehensweise bei dubiosen Geschäftemachern, deren Abzockmodelle von jeder öffentlichen Debatte über ihre Hintergründe und Funktionsweisen bedroht sind. Für alle anderen müsste sie sich verbieten.

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Durch den Gang zum Anwalt und zum Gericht wird aus einer Auseinandersetzung um Wahrheit zu einer, in der regelmäßig nicht derjenige gewinnt, der Recht hat, sondern der sich die Auseinandersetzung leisten kann. Der Mächtige gewinnt.

Mich hätte sehr interessiert, wie Springer oder die „Welt“ ihre Abmahnung gegen BILDblog neulich öffentlich begründet hätten. Der Kampf um die Wahrheit oder das Recht auf eine korrekte Darstellung kann es ja nicht sein, dafür hätte es ein Anruf oder eine E-Mail getan. Natürlich war das eine reine Machtdemonstration.

Und so wunderbar es ist, dass unsere Leser uns in einem solchen Maß unterstützt haben, dass uns auch vor weiteren Machtdemonstrationen erst einmal nicht bange sein muss, und so sehr ich mich freue, dass auch Stefan Aigner von regensburg-digital.de für seinen Kampf gegen das Bistum Regensburg viele Tausend Euro bekommen hat — das kann es doch auf Dauer nicht sein, dass die Blogger und ihre Fans und Leser diesen Wahn auch noch selbst finanzieren.

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Dieser Text hat keinen Schluss. Das liegt daran, dass er in den nächsten Tagen weiter geht.

Journalisten machen Kemnader See unsicher

Vom Bloggen bin ich sehr enttäuscht. Nicht von der Möglichkeit, aber von der Qualität. (…) Die bürgereigene Berichterstattung wird den Lokaljournalisten niemals ersetzen.

Bodo Hombach, Geschäftsführer der WAZ-Mediengruppe

Die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ hat im Kemnader See südlich von Bochum ein Krokodil entdeckt. Aber es ist nicht das da oben. Es ist das hier:

Nein, nicht das Weiße; das ist bloß der Pfeil, der auf das Krokodil zeigt. Ich zeig Ihnen das Tier mal in groß:

Das, äh, beeindruckende Foto hat ein Volontär der Zeitung gemacht, der beim Inline-Skaten mit seiner Freundin um den See das Tier gesehen haben will, und die WAZ nutzt die Gelegenheit, ihm und der staunenden Öffentlichkeit zu zeigen, was dieser Qualitätsjournalismus ist, von dem man neuerdings immer so viel hört — und wie viel professionelle Journalisten aus so ein bisschen Stoff machen können.

Irgendein Amateur hätte das Handyfoto vermutlich einfach bei Twitpic hochgeladen mit der Unterschrift: „Heute am Kemnader See Baumstamm Krokodil entdeckt“. Oder als Leserfoto an „Bild“ geschickt, die nach eingehender Prüfung festgestellt hätten, dass es sich nicht um ein Krokodil handelt, sondern ein Alien.

Bei der WAZ aber wurde richtig recherchiert. Der Volontär sprach für seinen oben zu sehenden großen Artikel mit einem Mann vom Bochumer Tierpark, einer Frau vom Freizeitzentrum Kemnade, der Polizei und einer Frau, die mit ihrem Hund in der Nähe Gassi ging. Zwar hatte niemand das Tier gesehen oder gehört, dass irgendjemand anders das Tier gesehen hätte, aber aus den Spekulationen, was denn wäre, wenn es es gäbe, und der allgemeinen Ahnungslosigkeit ließen sich erstaunlich verwirrende Absätze wie dieser bauen:

Fraglich, ob es sich bei dem Krokodil um ein artengeschütztes Exemplar handelt. „Wenn es ein Kaiman ist (so sieht es nach der Beschreibung aus), dann wäre er artengeschützt“, sagt Werner. Häufig seien aber die Halter mit nichtartengeschützten Exemplaren überfordert. Er erinnert an die Mülheimer Gift-Cobra. „Leider gibt es keine Beschränkungen wie bei Hunden.“

Ein weiterer Artikel des Volontärs im Online-Angebot der WAZ stellte klar, dass Krokodile eher scheu und Menschen vor Angriffen sicher seien — verwirrenderweise stand diese Entwarnung unter Überschrift „Kaiman macht Kemnader See bei Bochum unsicher“.

Dann übernahmen zwei WAZ-Kollegen die Berichterstattung. Außer dem Volontär und seiner Freundin hatte zwar immer noch niemand das Tier gesehen, aber nun konnten sie titeln: „Ein Kaiman sorgt am Kemnader See für Aufregung“. (Treffender wäre natürlich gewesen: „WAZ sorgt am Kemnader See für Aufregung“). Die WAZ will nicht ausschließen, dass da gar kein Kaiman oder Krokodil war, warnt aber vor voreiligen Schlüssen: Wenn ich es richtig verstanden habe, wäre gerade die Tatsache, dass das Tier von niemandem mehr gesehen wurde, ein Indiz für seine Existenz, denn Kaimane sind bekannt dafür, sich zu verstecken. (Ufologen können hier noch was lernen.)

Außer mit dem Volontär und seiner Freundin sprach die WAZ nun mit einem Schäfer, dem Geschäftsführer der Kemnade GmbH, einem Kapitän, einer Anbieterin von Kanutouren, nochmal der Polizei und dem Facharzt der Münchener Auffangstation für Reptilien, von dem die Journalisten erfuhren, dass sich ausgewachsene Kaimane „von Wasserschweinen, Nagern und Affen, die am Ufer trinken“ ernähren. (Ob das Fehlen von trinkenden Affen am Ufer des Kemnader Sees ein Indiz für die Existenz des Krokodils ist, ließ der Text offen.) Niemand hatte das Tier gesehen, was die WAZ mit vielen aufgeregten Ausrufezeichen vermeldete.

Auch bei der Bochumer Polizei sind noch keine Hinweise eingegangen — bis heute nicht. Dabei gehört zum Polizeipräsidium Bochum durch einen glücklichen Zufall auch die Polizeiinspektion Witten, so dass beide Uferseiten des Sees abgedeckt sind. Oder wie Pressesprecher Volker Schütte sagt: „Der See ist fest in unserer Hand!“ Der Fall macht „immens Arbeit“, sagt er, nicht wegen tatsächlicher Polizeiarbeit, sondern wegen der Medienanfragen, die nach dem ersten WAZ-Artikel „im Minutentakt“ kamen, u.a. von „Bild“ und RTL.

Besonders groß stieg aber der WDR in die Berichterstattung ein und berichtete nicht nur in seiner „Lokalzeit Ruhr“ über das mögliche Tier im See, sondern kam auch überregional in der „Aktuellen Stunde“ seinem Informationsauftrag nach — samt Live-Schaltung zu einer Reporterin vor Ort:


Die kritisierte, dass der Gesuchte „Kai“ heißen solle und nicht „Kemni“, konnte ihn aber auch nicht selbst nach seinem Namen fragen, weil sie ihn nicht gesehen hatte. Sie äußerte sogar Zweifel, dass er überhaupt existiert, berichtete aber von vor Ort, dass die meisten Menschen dort dem Thema „keine große Aufmerksamkeit widmen“ (ganz im Gegensatz also zum WDR).

Den WAZ-Schwesterblättern „Neue Ruhr-Zeitung“ (oben) und „Westfälische Rundschau“ (rechts) war die sensationelle Geschichte sogar Platz auf den Titelseiten wert. Und auf ihrer Szene-Seite fragte die WAZ im „Quiz des Tages“:

Im Kemnader Stausee wurde ein Kaiman gesichtet. Zu welcher Familie gehören Kaimane?

a) Nilpferde
b) Haie
c) Krokodile

(Die naheliegende Antwortmöglichkeit „d) Enten“ fehlt.)

Doch im gemeinsamen Online-Angebot der WAZ-Zeitungen wussten viele Kommentatoren den aufopferungsvollen Einsatz der Journalisten nicht zu schätzen. Einer wies darauf hin, dass die Kaiman-Entdecker „zuerst seinen großen gelben Bauch, der im Wasser platscht“ gesehen haben wollen und stellte die berechtigte Frage, ob das Tier Rückenschwimmer sei. Ein anderer schrieb, er habe sich „heute zum ersten mal echt geschämt, dieses Blatt [die WAZ] auszutragen“, und schlug vor:

Die einzige Möglichkeit jetzt noch mit Anstand aus der Sache rauszukommen, sich bei den Lesern entschuldigen (wird einem ja selten so klargemacht für WIE doof man gehalten wird), oder selber ein Krokodil am See aussetzen.

Vergleichsweise konstruktiv erscheint hingegegen folgender Kommentar (der möglicherweise inzwischen gelöscht wurde, ich finde ihn jedenfalls nicht wieder):

Ich würd sagen: Kemnadersee weiträumig absperren. Drei Meter hohe Zäune aufstellen, die A43 sperren und um ganz sicher zu gehen, auch den Luftraum dicht machen.

dann das Wasser des Sees abpumpen und das Tier mit einem 1000 Mann starken Suchmanschaft in einen Hinterhalt drängen.

Doch die Kaimankarawane war schon weiter gezogen. Die WAZ berichtet in einem weiteren Artikel, das „Krokodil vom Kemnader See“ sei nun von einem Leser im Hattinger Teil der Ruhr gesehen worden, „in Höhe der Gaststätte ‚Zum Deutschen'“. Das wäre rund zwölf Kilometer flussabwärts und ein bisschen unglücklich für das Bochumer Fotostudio, das in der Zwischenzeit 250 Euro für das beste Kaiman-Foto ausgesetzt hatte, wie die WAZ meldete. Auch aus dem Zuständigkeitsbereich der Bochumer Polizei wäre das Phantomreptil damit heraus. Wobei deren Sprecher Schütte nicht vollständig ausschließen will, dass es Tier tatsächlich gibt. Nur habe sich bisher niemand bei der Polizei gemeldet, was Schütte schon bei der Erstsichtung durch den WAZ-Volontär ein bisschen erstaunlich fand: „Wenn ich was in der Form erlebe, rufe ich 110 — und warte nicht einen Tag, um es dann in die Zeitung zu schreiben.“

Der neue vermeintliche Augenzeuge jedenfalls berichtet nun:

„Da waren zwei Höcker in der Mitte des Flusses – Holz kann es nicht gewesen sein, das schwimmt am Rand.“

Doch auch von diesen überwältigenden Beweisen ließen sich einzelne Laien in den Kommentaren nicht überzeugen:

Wenn er zwei Höcker im Fluss gesehen hat, dann könnte es aber auch ein Kamel gewesen sein………..oder Pamela Anderson…….

Das ist das Elend mit diesem Qualitätsjournalismus: Die Leute wissen ihn einfach nicht zu schätzen.

Gordon Browns Moment der Wahrheit

Ein Politiker auf Wahlkampftour trifft auf der Straße eine potentielle Wählerin, die ihm kritische Fragen stellt, und weil die Presse dabei ist, setzt er sein entspanntestes Lächeln auf, bedankt sich vielmals für ihre Anmerkungen, verabschiedet sich jovial und herzlich, als würde er am liebsten noch einen Tee mit ihr trinken wollen, wenn nur die Zeit nicht so drängen würde, und setzt sich dann in seine Limousine, beschwert sich über die blöde Kuh und will wissen, welcher Idiot von seinen Mitarbeitern schuld ist, dass er mit ihr reden musste.

Ich wette, das passiert ununterbrochen. Und ich wette, die meisten anderen Menschen machen sich da ähnlich wenig Illusionen wie ich. Insofern ist es völlig banal, dass der britische Premierminister Gordon Brown heute genau dabei ertappt wurde, weil er vergessen hatte, dass er noch ein Mikrofon trug. (Mal abgesehen davon, dass es womöglich wichtigere Kriterien für die eigene Wahlentscheidung geben sollte als so ein Versehen, aber so sind die Medien, die sich jetzt auf die Sache stürzen wie ein ausgehungerter Tiger auf ein filetiertes Kaninchen — und ich fürchte: die Menschen sind auch so.)

Ich bin mir auch sicher, genau die Gordon-Brown-Szene schon einmal gesehen zu haben: In der BBC-Comedy-Serie „The Thick of It“, die im Stil einer (fiktiven) Dokumentation genau diesen Aspekt von Politik zeigt: Den krassen Kontrast zwischen der Fassade und der Wahrheit dahinter; die mühsamen Versuche, gerade dann, wenn sich gerade alles zerbröselt, der Öffentlichkeit heile Kulissen vorzuführen. (Die erste Staffel von „The Thick of It“ finde ich grandios und kann sie sehr empfehlen — obwohl ich wenig Leute gefunden habe, die die Aneinanderreihung unfassbar peinlicher Situationen aushalten können oder wollen. Die weiteren Staffeln waren mir dann aber auch zu krass.)

Doch obwohl es mir so bekannt vorkommt und so sehr der Vorstellung entspricht, die man eh hat vom Alltag von Politikern (und anderen Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen), ist es tatsächlich aufregend, das nun einmal erleben zu können — nicht lebensecht nachempfunden, sondern in echt zu hören und zu sehen. Vielleicht macht gerade das die Sache noch schockierender: Dass die Realität so exakt mit der Fiktion und der Vorstellung übereinstimmt.

Wort für Wort kann man hören oder nachlesen, was Gordon Brown über die Frau gesagt hat, die ihm erzählte, dass sie ihr ganzes Leben lang Labour gewählt habe und sich heute schäme, Labour-Anhängerin zu sein, und ihn im Zusammenhang mit Leuten, die sie auf deutsch womöglich „Sozialschmarotzer“ nennen würde, fragte, woher eigentlich diese ganzen Ausländer aus Osteuropa kämen, die plötzlich ins Land strömten. Nachdem Gordon Brown, freundlich lächelnd und sich bedankend, ins Auto gestiegen war, sagte er also:

That was a disaster. Should never have put me with that woman. Whose idea was that? (…) She’s just this sort of bigoted woman who said she used to be a Labour voter… Ridiculous.

Eine „Katastrophe“ sei das gewesen, sagte Brown, und nannte die Frau — ja, was?

  • „bigott“, schreibt dpa.
  • „eine Fanatikerin“, schreibt DAPD.
  • „kleinkariert“, schreibt AFP.
  • „borniert“, schreibt Reuters
  • „verbohrt“, schreibt dpa später.

Je nachdem, auf welcher Agenturmeldung die Nachricht beruht, werden die deutschen Leser sehr unterschiedliche Vorstellungen von der Art der „Beleidigung“ haben, die Gordon Brown aussprach (und für die er sich inzwischen vielfach entschuldigt hat).

Es gibt offenbar größere Meinungsunterschiede, wie das Wort „bigoted“ zu übersetzen ist — wobei ich die AFP-Version „kleinkariert“ am abwegigsten finde, weil es nicht nur „engstirnig“, sondern auch „übergenau“ bedeutet, was hier überhaupt keinen Sinn ergibt. „Kleingeistig“ würde es eher treffen. Aber auch die Wahl des deutschen Dienstes der britischen Agentur Reuters, die es wissen müsste, finde ich merkwürdig: Mit „borniert“ verbinde ich eher jemanden, der stur, überheblich, eingebildet ist.

Am treffendsten erscheint mir die einfachste Übersetzung: bigott. Das Wort bedeutet (im Deutschen wie im Englischen) ursprünglich „scheinheilig“ im Sinne eines religiösen Eiferers, ist aber zum Synonym für „heuchlerisch“, „verlogen“ geworden — was treffend erscheint, wenn Brown den Kontrast zwischen der Beteuerung lebenslanger Labour-Treue mit ihrer Ablehnung der konkreten Politik und insbesondere von Einwanderern bezeichnen will.

In der politischen Diskussion in den letzten Wahlkampftagen in Großbritannien wird die genaue Exegese aber kaum eine Rolle spielen. Da reicht der bloße Eindruck, dass der Premierminister irgendetwas gesagt hat, das er nicht hätte sagen dürfen.

Nachtrag, 29. April.

„Welt“ entlarvt: „Dutschke“-Film ist Film!

Da ist Sven Felix Kellerhoff, der leitende Redakteur für Zeit- und Kulturgeschichte der „Welt“, aber einer ganz großen Sache auf die Spur gekommen.

In dem Film „Dutschke“, der heute um 20.15 Uhr läuft, habe das ZDF „historische Fakten gefälscht“. Die Filmemacher Daniel Nocke und Stefan Krohmer seien „der Manipulation überführt“. Mit „massiven Fälschungen“ erweckten sie bei den Zuschauern den Eindruck, der Hass, der Rudi Dutschke entgegenschlug, sei die Folge „einer ‚Hetze‘ der Blätter des Axel Springer Verlages“.

Der Film habe in einer rasant geschnittenen Montage Zeitungsseiten manipuliert und Fotos ausgetauscht.

Tatsache:


(Film)


(Original)


(Film)


(Original)

„Das hat mit seriöser Dokumentation nicht mehr viel zu tun“, schimpft Kellerhoff.

Dabei ist die Sache noch viel schlimmer. Das ZDF hat die Fotos nämlich nicht nur geändert, sondern sogar animiert. Die ausgetauschten Fotos verwandeln sich, während die Kamera auf sie zufährt, wie von Zauberhand zu Filmszenen mit Ton! Sehen Sie selbst:

Dieser sehr viel größere Skandal ist Kellerhoff entgangen. Denn das, was da gezeigt wird, ist historisch falsch. 1968 gab es nach gesicherten Kenntnissen von Historikern noch keine „Bild“-App und keine elektronische Zeitung, die solche Animationen in Kombination mit den Zeitungsinhalten ermöglicht hätte. Die Filmemacher haben das in ihrer Springer-Hetze-Hetze einfach erfunden!

Kellerhoff schreibt über die von ihm entdeckte „Manipulation“, sie sei, „zumal in einem Dokudrama, kein Kavaliersdelikt. Ob ZDF-Redakteurin Caroline von Senden davon weiß?“

Ich würde das mal ungeschützt bejahen. Ja, ich würde annehmen, dass die ZDF-Redakteurin erkannt hat, dass die Filmemacher da Fernsehaufnahmen mit Zeitungsschlagzeilen kombiniert haben, indem sie die bewegten Bilder nachträglich an die Stelle der Original-Fotos gesetzt haben. Ich würde sogar annehmen, dass die meisten Zehnjährigen das erkannt hätten.

Jürgen Hesse

Jürgen Hesse scheint sich für seine Fernsehkarriere die Haare neu gemacht zu haben. In einem Film auf der Homepage seiner Karriereberatungs-Firma ist er noch mit wirrer, leicht toupiert wirkender Mähne zu sehen. In seiner RTL-Sendung „Endlich wieder Arbeit“ trägt er nun einen seriösen, nur dezent verwuschelten Kurzhaarschnitt und grau statt blond.

Haare sind wichtig. In der ersten Folge am vergangenen Sonntag gelang es Hesse, einem verzweifelten arbeitslosen Pferdepfleger allein dadurch einen Traumjob zu verschaffen, dass er mit ihm zum Friseur ging. (Okay, neue Anziehsachen gab’s auch.) Am Ende fragte man sich, wie es sein kann, dass die Bedeutung guter Frisuren für den Arbeitsmarkt all die Jahre so unterschätzt werden konnte und ob Peter Hartz heute gefeierter Bundespräsident sein könnte, wenn er nur damals in seinen Reformen auf den richtigen Dreiklang gesetzt hätte: Fördern, Fordern, Frisieren.

Es hat etwas unfreiwillig Komisches, dabei zuzusehen, wie sehr RTL in seinen eigenen Erfolgsmustern gefangen ist. „Endlich wieder Arbeit“ (heute, 19.05 Uhr) ist natürlich ein weiterer Versuch, Peter Zwegats „Raus aus den Schulden“ zu kopieren, aber weil die Korrektur von Bewerbungsmappen dann doch kein abendfüllendes kommerzielles Fernsehprogramm ist, flüchtet sich die Show in das, was immer geht: Makeovers. Die Sendung wirkt – auch dank erbärmlich schlecht nachgespielter Szenen – so sehr wie eine Parodie auf das Genre, dass es kaum überrascht hätte, wenn Produzentin Vera Int-Veen oder Tine Wittler mittendrin mit einem Trupp Handwerker und einem Ikea-Laster aufgetaucht wären und der betreuten Familie erzählt hätten, dass eine Voraussetzung für den beruflichen Erfolg die richtigen Möbel sind. (Und gute Kurzhaarfrisuren, natürlich.)

Doch die unterschwellige Botschaft der Sendung ist gar nicht komisch, sondern perfide. „Endlich wieder Arbeit“ suggeriert, dass Arbeitslosigkeit ein individuelles Problem ist, und dass Menschen nur arbeitslos sind, weil sie sich nicht genügend anstrengen. Durch die formale Ähnlichkeit zum Schuldenberater oder der „Super-Nanny“ wird eine Parallelität angedeutet, die nicht existiert. Wenn mehr Menschen besser mit ihren Kinder umgehen, hat das tatsächlich positive Auswirkungen für die ganze Gesellschaft. Aber wir können noch so vielen Menschen beibringen, ihre Bewerbungen schön zu formatieren, und schaffen dadurch keinen einzigen Arbeitsplatz.

Hesse war lange Chef der Telefonseelsorge. Das hier aber ist die Westerwelle-Show: Wenn du keinen Job findest, liegt es an dir.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Wie die Kirche Leute zum Schweigen bringt

„Grundsätzlich ist aber festzustellen, dass bei massiven ehrabschneidenden und rufschädigenden Falschbehauptungen immer in angemessener Weise reagiert werden muss.“

Jakob Schötz, stellvertretender Pressesprecher Bistum Regensburg

Dies ist eine Geschichte über das Schweigen. Über das Schweigen der minderjährigen Opfer eines katholischen Pfarrers, das die Kirche mit Geld erkauft haben soll (was sie bestreitet). Über das Schweigen ihrer Kritiker, das die Kirche gerichtlich erzwingen will. Und, am Ende, über das Schweigen der Kirche, wenn man sie um eine Erklärung ihres Vorgehens bittet.

Es geht um einen pädophilen Pfarrer, der sich 1999 in der niederbayerischen Stadt Viechtach während des Osterfestes an zwei Kindern vergriffen hat. Der Mann wurde später angezeigt und zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Obwohl zu den Auflagen gehörte, sich von Jugendarbeit fernzuhalten, arbeitete er schon schon nach kurzer Zeit wieder mit Ministranten. 2004 wurde er in Riekenhofen zum Gemeindepfarrer ernannt — ohne dass das Bistum Regensburg den Verantwortlichen vor Ort von seiner Vorgeschichte erzählt hätte. Der Pfarrer verging sich erneut an Kindern. Vor zwei Jahren wurde er vom Landgericht Regensburg wegen sexuellen Missbrauchs eines minderjährigen Ministranten in 22 Fällen zu drei Jahren Haft und Unterbringung in einer Psychiatrie verurteilt. Dem Bistum warf der Richter vor, den Täter „in eine Versuchungssituation“ geführt zu haben.

Wie groß die Schuld des Bistums ist, ist umstritten. So gibt es widersprüchliche Angaben, wie genau die Verantwortlichen über den Inhalt eines Gutachtens aus dem Jahr 2000 informiert waren, das dem Pfarrer „eine homoerotische Kernpädophilie“ attestierte — und nicht nur ein „einmalig regressives Verhalten“, wie der Therapeut des Pfarrers behauptete. Dem Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller war es aber ein Anliegen, sich nicht persönlich bei den Opfern zu entschuldigen. „Für die Tat kann nur der Täter verantwortlich gemacht werden“, sagte sein Sprecher Jakob Schötz.

Im „Spiegel“ klagte 2007 die Mutter der Opfer von Viechtach die Kirchenoberen an: Es habe ein „Verschweigen und Vertuschen von Anfang an“ gegeben (das war, bevor Müller Bischof wurde). Als sich die Eltern 1999 beim Generalvikar darüber beschwerten, dass sich der Pfarrer an ihren Söhnen vergriffen hatte, habe sie das Ordinariat in Regensburg überredet, keine Anzeige bei der Polizei zu erstatten. Der „Spiegel“ weiter:

Am 25. November 1999 dann wurde ein rechtlich höchst dubioses Abkommen zwischen Familie, Täter und Bischöflichem Ordinariat geschlossen. In dem bislang der Öffentlichkeit unbekannten Vertrag heißt es: „Im wohlverstandenen Interesse der Kinder und auf ausdrücklichen Wunsch der Eltern soll Stillschweigen gewahrt werden.“ Benedikt erhielt damals 4000 Mark, seine Schwester 1000 Mark, der Bruder 1500 Mark als „Schmerzensgeld“ vom Pfarrer.

Die Mutter verlangte vom Bistum aber auch noch die schriftliche Zusicherung, dass der Fummel-Priester nicht wieder in der Jugendarbeit eingesetzt werde. (…) Doch der Justitiar des Bistums verweigerte die Zusicherung, dergleichen könne „vom Bischöflichen Ordinariat nicht gutgeheißen werden“, schrieb er an die Familie zurück. Die Kirche könne nur versprechen, „dass der künftige Einsatz des Herrn K. erst aufgrund einer sorgfältigen Entscheidung erfolgen wird“.

Die von der Fummelei geschockte Familie wollte sich zumindest vorbehalten, den Priester später noch anzeigen zu dürfen. Aber auch das bügelte das Ordinariat ab: „Da der künftige seelsorgliche Einsatz von Herrn K. allein im Kompetenzbereich des Bischöflichen Ordinariates verbleiben soll, wobei bei Art und Zeitpunkt des Einsatzes die Vorfälle berücksichtigt werden, können wir es nicht akzeptieren, dass … eine Anzeige vorbehalten bleibt.“

Die Familie unterschrieb schließlich die Schweigevereinbarung.

(Monate später wurde der Priester dann doch angezeigt, von einer Bekannten des Vaters.)

Im Februar dieses Jahres griff der „Spiegel“ den Fall noch einmal auf — als Teil seiner Titelgeschichte „Die Scheinheiligen — Die katholische Kirche und der Sex“. Darin hieß es:

„Es geht Ihnen nicht um die Opfer, sondern vor allem darum, dass nichts an die Öffentlichkeit kommt“, warf zum Beispiel ein missbrauchter Jugendlicher dem Regensburger Bischof Gerhard Müller vor. Ein Kaplan hatte ihm 1999 in den Schritt gegriffen. Statt aber den Fall aufzuklären, vermittelte das bischöfliche Ordinariat der Familie eine Art Schmerzens- und Schweigegeld vom Täter.

Das Bistum Regensburg ging gegen den Artikel vor. Vor dem Landgericht Hamburg erwirkte es eine einstweilige Verfügung, die es dem „Spiegel“ verbietet, mit dieser Berichterstattung den Eindruck zu erwecken, das Bistum „habe durch die Vermittlung einer Geldzahlung bewirken wollen, dass der in Rede stehende Vorfall nicht an die Öffentlichkeit komme“.

Der „Spiegel“ hat den Artikel aus seinem Online-Archiv entfernt. Man prüfe zur Zeit, ob man gegen die Verfügung Widerspruch einlege, sagte ein „Spiegel“-Sprecher.

Zuvor schon hatte Bischof Müller die Berichterstattung von „Spiegel“ und anderen Medien als „antikatholische Kampagnen“ abgetan und dem Magazin vorgeworfen, sich der „Verletzung der Menschenwürde aller katholischen Priester und Ordensleute schuldig“ zu machen. Diese und weitere Reaktionen der katholischen Kirche in Regensburg auf verschiedene Missbrauchsfälle im Bistum kritisierte das örtliche Online-Magazin regensburg-digital.de am 7. März 2010 in einem Eintrag. Der Autor Stefan Aigner schrieb darin u.a.:

Und beim Vertuschen von Missbrauch zeigt man sich äußerst kreativ. (…) Opfer eines pädophilen Pfarrers in Riekhofen erhielten Schweigegeld. Das Bistum Regensburg hat das stets bestritten. Es habe keinen kausalen Zusammenhang zwischen der Zahlung und dem vereinbarten Schweigen gegeben, behauptet das Bistum.

Das Bistum mahnte diese Formulierung ab. Aigner gab daraufhin durch seinen Rechtsanwalt eine Unterlassungserklärung ab, wonach er vorerst die Formulierung „Opfer eines pädophilen Pfarrers in Riekofen erhielten Schweigegeld“ nicht mehr verwenden werde. Seinen Text auf regensburg-digital.de änderte er wie folgt:

Ein Opfer des pädophilen Pfarrers von Riekofen erhielt eine Geldzahlung, welche nicht nur in den Augen unserer Redaktion den Beigeschmack einer Schweigegeldzahlung hat. Das Bistum Regensburg hat das stets bestritten. Es habe keinen kausalen Zusammenhang zwischen der Zahlung und dem vereinbarten Schweigen gegeben, behauptet das Bistum.

Das Bistum Regensburg fand auch diese Form inakzeptabel — obwohl sie die Meinungsäußerung klar als solche deklariert und auch wieder das Dementi des Bistums in der Sache referiert. Anstatt auf den Brief von Aigners Anwalt zu antworten, gingen die Regensburger Kirchenleute erneut zum Hamburger Gericht und erwirkten dort auch gegen regensburg-digital.de eine einstweilige Verfügung, die sogar beide Formulierungen umfasst, die ursprüngliche und die geänderte.

Ich habe dem Bistum Regensburg einige Fragen zu dem Fall und dem Vorgehen gegen die Berichterstattung gestellt. Ich habe die Kirchenleute gefragt:

  • ob die Darstellung der Vorgänge in Viechtach korrekt ist, wie sie der „Spiegel“ 2007 in seinem Artikel „Schweigen mit Geld erkauft“ schilderte — das Bistum hat diesen Artikel, in dem von einer „Schweigevereinbarung“ die Rede ist, laut „Spiegel“ bis heute nicht beanstandet.
  • ob es einen Zusammenhang zwischen dem Stillschweigen und der Zahlung des Schmerzensgeldes gab.
  • ob sie gegen einen der anderen Artikel vorgegangen sind, die ähnlich wie der „Spiegel“ über den Fall berichtet und einen Zusammenhang zwischen dem Schmerzensgeld und dem Schweigen der Eltern der Opfer hergestellt haben, z.B. „Bild“ (14.3.2008), „Welt“ (1.10.2007), „taz“ (24.9.2007), „Süddeutsche Zeitung“ (17.9.2007).
  • ob das Bistum zu irgendeinem Zeitpunkt versucht hat, mit den Verantwortlichen von regensburg-digital.de ins Gespräch zu kommen.
  • warum das Bistum nicht auf den Vorschlag reagiert hat, den Vorwurf der Zahlung von „Schweigegeld“ deutlich als Meinungsäußerung zu kennzeichnen.
  • warum das Bistum versucht, diese Meinungsäußerung auf juristischem Weg zu unterbinden.

Die Antwort von Bistums-Sprecher Jakob Schötz lautet:

Zu dem von Ihnen angefragten Vorgang nehmen wir keine Stellung. Grundsätzlich ist aber festzustellen, dass bei massiven ehrabschneidenden und rufschädigenden Falschbehauptungen immer in angemessener Weise reagiert werden muss.

Der Rest ist Schweigen.

Stefan Aigner von regensburg-digital.de will sich nicht von der katholischen Kirche in Regensburg seine Meinungsäußerung verbieten lassen. Damit er sich den teuren Widerspruch gegen die einstweilige Verfügung von dem für seine meinungsfreiheitsfeindlichen Urteile bekannten Hamburger Landgericht leisten kann, bittet er um Spenden. Ich schließe mich dem gerne an.

„Der Verlierer steht für immer im Schatten“: Das Weltbild von DSDS

Elf Minuten sind im Fernsehen eine lange Zeit. Elf Minuten sind eine halbe Sitcom-Episode. Oder, geschätzt, alle politischen Beiträge aus einer ganzen Woche „RTL aktuell“ zusammen genommen. Oder auch nur: ein einziger Monolog von Moderator Marco Schreyl in der Entscheidungsendung von „Deutschland sucht den Superstar“ (DSDS).

Um 0.04 Uhr am Sonntagmorgen bekam Schreyl den Umschlag, in dem das Ergebnis der Abstimmung über die beiden diesjährigen Finalisten stand. Um 0.15 Uhr verriet er den Sieger. Die Zeit dazwischen füllte der Sender, während die beiden Kandidaten mit hängenden Köpfen auf der Bühne standen und von der Kamera umkreist wurden, mit sphärischer Musik und einer Rede, die offenbar den Sinn hatte, den Zweitplatzierten in den Selbstmord zu treiben. Als realistische Alternative würde sich eigentlich nur ein Amoklauf noch im Studio anbieten.

Die künstliche Vergrößerung der Fallhöhe gehört von Anfang an zum Konzept von DSDS und steckt schon im Namen: Einen „Superstar“ hat „Deutschland“ in sieben Jahren noch nicht gefunden; am nächsten dran ist vermutlich Mark Medlock, der gerade zum Nachfolger von Jürgen Drews aufgebaut wird. Aber in ihrem Versuch, der natürlichen Abstumpfung des Publikums und Abnutzung der Superlative entgegenzuwirken, und die Schraube immer noch weiter anzuziehen, stoßen die Autoren der Sendung inzwischen an Grenzen. Oder genauer: Sie überschreiten sie.

Der elfminütige Monolog, den Marco Schreyl am Samstag vorlas, ist ein Beleg dafür, wie sehr bei RTL längst die Sicherungen durchgebrannt sind. Was jemand da Marco Schreyl auf die Moderationskarten geschrieben hat, ist nicht nur erschütternd in seiner Zeitschinderei, es ist nicht nur bekannt, falsch, dumm oder albern (all das ist es auch). Es feiert seinen eigenen Sadismus, einen brutalen Ausleseprozess, einen menschenverachtenden Sozialdarwinismus, auf eine Art, die man kaum anders als faschistoid nennen kann. Und die besonders zynisch wirkt, wenn man berücksichtigt, wie sehr diese Sendung und ihre Philosophie von jungen Zuschauern und feuilletonistischen Verteidigern als lehr- und hilfreiches Anschauungsmaterial dafür gesehen wird, wie unsere Gesellschaft funktioniert und was man tun muss, um in ihr etwas zu werden.

Wir dokumentieren den Abschlussmonolog von „Deutschland sucht den Superstar“ 2010 ungekürzt:

Und das also ist es: Das Ergebnis von Ihnen. Das Ergebnis der Zuschauer.

Deutschland hat entschieden. Das Ergebnis im Finale von Deutschland sucht den Superstar 2010. Was für ein dramatischer, einzigartiger Abend. Mehrzad Marashi und Menowin Fröhlich. Gleich ist eure Schlacht geschlagen.

Und ihr habt sie mit absolutem Einsatz ausgefochten, und zwar beide.

Und: Ihr habt uns ein traumhaftes Finale geschenkt. Ihr seid beide ziemlich harte Jungs und ihr kämpft hart. Und das ist gut so. Alles andere wäre eine Schande.

Dieses Duell heute ist persönlich. Jeder von euch ist für den anderen der Gegner, den ihr am meisten fürchtet. Ihr steht auf dieser Bühne so nah beieinander und seid euch doch so fern.

Kaum zu glauben, aber es ist noch gar nicht so lange her, da wart ihr Freunde. Beim Recall in der Karibik. Sogar noch in der ersten Motto-Show. Aber aus Freunden sind Feinde geworden. Mit dem absoluten Willen, den anderen zu besiegen.

Wer weiß, wenn ihr keine Kandidaten bei DSDS wärt, aus euch hätten richtig gute Kumpels werden können. Stattdessen wurdet ihr knallharte Rivalen. Und das musste so sein, wenn zwei große Talente wir ihr aufeinander treffen, zwei so starke Persönlichkeiten, und vor allem: Wenn es so unglaublich viel zu gewinnen gibt.

(Pause.)

Zwei grandiose Sänger, die mit jeder Faser ihres Körpers kämpfen, die diesen Titel dringender wollen als alles andere auf dieser Welt. Für Ausnahmetalente wie euch wurde DSDS erfunden. Ihr seid beide echte Performer, also genau das, was wir hier gesucht haben. Ihr singt und tanzt und geht aus euch heraus. An euch werden sich die künftigen Kandidaten messen müssen. Ihr zwei habt die Latte verdammt hoch gelegt.

(Pause.)

Dieser Abend wird für einen von euch ein völliger Neuanfang im Leben sein. Für den Sieger dieses Wettkampfs tut sich eine neue Welt aus. Er wird das, wovon Millionen träumen. Er – wird ein Star. Bei DSDS gibt es nicht einfach einen netten Hauptgewinn. Hier gibt es ein komplett neues Leben. Ein Leben XXL. Ein Leben in der Kategorie fünf Sterne plus.

(Pause.)

Für einen von euch wird dieses Märchen jetzt wahr. Ihr lebt beide bislang in eher bescheidenen Verhältnissen. Jetzt aber wird sich das ändern. Einer von euch wird jetzt der neue Superstar. Bekommt einen Plattenvertrag. Wird berühmt. Verdient locker Hunderttausende Euro. Kann seiner Familie ein sorgenfreies Leben bieten und als Vater seinen Kindern eine gute Zukunft ermöglichen.

Wenn sich der Sieger dieses Kampfes nicht dumm anstellt, wird er für lange Zeit ausgesorgt haben. Der Sieger bei DSDS bekommt: all das! Der Verlierer: nichts! Der Sieger steht im Licht. Der Verlierer steht für immer in seinem Schatten. Und das ist ein Schicksal, mit dem sich der Verlierer wahrscheinlich niemals versöhnen wird.

Ihr habt beide heute Abend gezeigt, dass ihr verstanden habt, um was es hier geht. Und dass es euch ernst ist. Dass ihr bereit seid, bis zur völligen Erschöpfung zu kämpfen; dass euch die Musik – dass euch eure Kunst! – heilig ist. Und: Dass ihr euer Publikum aus tiefstem Herzen verehrt.

(25 Sekunden Pause)

Das sind die Finalisten 2010. Das sind Mehrzad Marashi und Menowin Fröhlich.

(Pause.)

Mehrzad Marashi. 29 Jahre alt. Dieser Abend ist deine definitiv letzte Chance, dass aus deinem Traum von der Musik noch was wird. Seit 16 Jahren kämpfst und ackerst du, um dich als Sänger zu etablieren. Nichts hat funktioniert. Pleite, und ohne Zukunft. Als du zum Casting gekommen bist, warst du ganz unten. Aber von diesem Tag an ging’s für dich unaufhaltsam aufwärts. Mehrzad, du hast die Jury wieder und wieder begeistert. Du hast zuverlässig Top-Leistungen abgeliefert. Zuverlässig. Und. Top. Aus dem Mund eines Profis wie Dieter gibt es auf dieser Welt für einen Sänger kein größeres Kompliment. Du bist an die Spitze durchmarschiert und hast ganz nebenbei noch dein ganzes Leben umgekrempelt. Hast einen Sohn bekommen. Bist Vater geworden. Hast Deiner Denise einen Heiratsantrag gemacht. Und jetzt hast du noch einen zweiten großen Antrag gemacht. Du hast Deutschland um sein Ja-Wort gebeten. Das Ja-Wort zum Superstar. Und jetzt wartest du auf die Antwort: Liebeserklärung oder Laufpass.

Mehrzad, noch einmal tief durchatmen, in wenigen Augenblicken wirst du’s wissen.

Menowin Fröhlich, DSDS 2010 war die große zweite Chance, die du dir vom Leben gewünscht hast. Dein Weg hier bei uns war alles andere als gerade. Dein erster Anlauf bei DSDS hat hinter Gittern geendet. Aber du hast nicht aufgegeben, bist nicht abgerutscht, du hast an deinen Traum festgehalten. Hast an dir gearbeitet. Und hast einen zweiten Anlauf gemacht. Dass du ein sehr großes Talent hast, das haben wir alle schon vor vier Jahren gesehen. Diesmal haben wir erkannt: Der ist sogar noch besser. Der hat etwas, das nur ganz wenige haben. Soul im Blut. Musik in jeder Pore. Mit dem hat es der liebe Gott mal richtig gut gemeint. Zumindest, was die Musik angeht.

Dein Leben war bisher eine extreme Achterbahnfahrt. Es gab schwere Konflikte mit dem Gesetz; du warst auf der Flucht, hast während all dem drei Kinder gezeugt. Zu deiner Mutter jahrelang keinen Kontakt, manch einer würde sagen: Der packt das nicht. Aber du hast es gepackt. Bis hierher ins Finale. Und du hast dich mit deiner Mutter ausgesöhnt. Kleines Wunder. Und jetzt das nächste Wunder: Wird aus dem ehemaligen Häftling der Superstar 2010?

(Pause.)

Deutschland hat entschieden! Das sind sie, die Finalisten von DSDS 2010. Mehrzad Marashi und Menowin Fröhlich. Und die große Frage in Deutschland, wer wird Superstar 2010? Wessen Name werden wir uns merken. Welchen Namen werden wir vergessen? Wer feiert heute den größten Triumph seines Lebens?

(Pause.)

Mit 56,4 Prozent aller Anrufer.

(20 Sekunden Pause.)

Superstar 2010.

(Pause.)

Ist Mehrzad Marashi!

Soweit also Marco Schreyl. Und das hier ist in dieser Sekunde Menowin Fröhlich:

Der Sieger steht im Licht. Der Verlierer steht für immer in seinem Schatten. Und das ist ein Schicksal, mit dem sich der Verlierer wahrscheinlich niemals versöhnen wird.