Autor: Stefan Niggemeier

Gute Nachrichten, schlechte Nachrichten

Heute lernen wir etwas über die Kriterien professioneller Medien bei der Nachrichtenauswahl. Und über als Journalismus getarnten Lobbyismus in eigener Sache.

Vor zwei Monaten hatte die FDP-Europaabgeordnete Silvana Koch-Mehrin eine Idee, wie sich die Welle der hysterischen Berichterstattung über eine geplante iPhone-Anwendung von tagesschau.de noch weiter verlängern ließ — und sie auf ihr reiten könnte: Sie stellte eine parlamentarische Anfrage an die EU-Kommission, ob sie in dieser Sache „Handlungsbedarf“ sehe.

Die Medien, von denen einige wie „Spiegel Online“ und „Bild“ ohnehin längst publizistische Kampagnen gegen die ungeliebte neue Konkurrenz im Netz führten, nahmen die Vorlage begeistert auf.

„Bild“, 18.2.2010:

FDP bringt das „Tagesschau“-App vor EU-Kommission

Brüssel – Neuer Wirbel um das geplante „Tagesschau“-App der ARD. Auf Antrag der Vizepräsidentin des Europa-Parlaments, Silvana Koch-Mehrin (FDP), prüft jetzt die EU-Kommission, ob die umstrittene Internetanwendung fürs Handy gegen EU-Recht verstößt.

In einer Beschwerde bei EU-Kommissarin Neelie Kroes moniert Koch-Mehrin, die ARD könne einen solchen Dienst „offensichtlich nur deswegen kostenlos bereitstellen, weil sie durch obligatorische Rundfunkgebühren finanziert wird“. Dagegen müssten private Anbieter „ein solches Angebot kostenpflichtig machen“.

Aus ihrer Sicht nutze „die ARD ihr staatlich garantiertes Recht auf ein hohes Gebührenaufkommen aus, um sich gegenüber privaten Konkurrenten einen nicht gerechtfertigten Vorteil zu verschaffen“, so Koch-Mehrin. (…)

ddp, 18.02.2010:

FDP bringt „Tagesschau“-App vor EU-Kommission

Brüssel/Berlin (ddp). Neuer Wirbel um die geplante «Tagesschau»-Applikation (App) der ARD. Auf Antrag der Vizepräsidentin des Europa-Parlaments, Silvana Koch-Mehrin (FDP), prüft die EU-Kommission, ob die Internetanwendung fürs Handy gegen EU-Recht verstößt, schreibt die „Bild“-Zeitung (Donnerstagausabe). (…)

dpa, 18.2.2010:

FDP kritisiert iPhone-Pläne der ARD

Brüssel (dpa) – Die FDP warnt bei einer von der ARD geplanten Anwendung für das iPhone vor Wettbewerbsverzerrungen. In einer Anfrage der FDP-Europaabgeordneten Silvana Koch-Mehrin an EU- Medienkommissarin Neelie Kroes hieß es, die ARD wolle ein kostenloses „App“ für iPhone-Nutzer zur Verfügung stellen, für das private Anbieter Kosten erheben müssten. Kroes solle klären, ob dies gegen die EU-Wettbewerbs- und Binnenmarktregeln verstoße.

„Die ARD kann dieses Angebot offensichtlich nur deswegen kostenlos bereitstellen, weil sie durch obligatorische Rundfunkgebühren finanziert wird“, hieß es zudem in einem persönlichen Schreiben Koch-Mehrins an Kroes, das am Donnerstag der Deutschen Presse-Agentur dpa vorlag. Auch die „Bild“-Zeitung hatte davon berichtet.

Die EU-Kommission muss innerhalb von drei Wochen antworten, oder eine Verzögerung begründen. (…)

„Der Westen“, 18.2.2010:

FDP schwärzt ARD wegen Tagesschau-App bei der EU an

„Meedia“, 18.2.2010:

Der ARD bläst in Sachen Tagesschau-App der Wind aus allen Richtungen ins Gesicht. Jetzt schaltet sich auch die Politik in die heftig umstrittene Debatte über Online-Kompetenzen der Öffentlich-Rechtlichen ein. Nach Informationen der Bild-Zeitung hat die FDP-Politikerin und Vizepräsidentin des Europaparlaments Silvana Koch-Mehrin einen Antrag bei der EU-Kommission durchgesetzt, wonach geprüft werde, ob die mobile Online-Expansion der Nachrichtensendung mit europäischem Recht vereinbar ist. (…)

„Spiegel Online“, 18.2.2010:

FDP-Politikerin schaltet EU-Kommission ein

„Berliner Zeitung“, 19.2.2010:

Jetzt eben auch Silvana Koch-Mehrin. In der hitzigen Debatte über den Digitalisierungsdrang des gebührenfinanzierten Rundfunks hat sich gestern die Europa-Abgeordnete der FDP zu Wort gemeldet. Die Politikerin rief die EU-Kommission an, um von höchster Stelle prüfen zu lassen, ob die „Tagesschau“ mit einer eigenen Anwendung (App) auf internetfähigen Mobiltelefonen wie dem iPhone unterwegs sein darf, wie sie es von diesem Frühjahr an nach eigenem Bekunden tun will. (…)

„Tagesspiegel“, 19.2.2010:

„Tagesschau“-App fürs iPhone beschäftigt EU-Kommission

Der Streit um die geplante iPhone-Anwendung von tagesschau.de beschäftigt auch die Europäische Union. Silvana Koch-Mehrin, FDP-Abgeordnete und Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, will von der Kommission prüfen lassen, ob eine Wettbewerbsverzerrung vorliegt. (…)

„RP-Online“, 21.2.2010:

(…) Verleger mit eigenen Nachrichtenangeboten im Netz warnen seit Monaten vor einer Wettbewerbsverzerrung durch einen unbeschränkt agierenden Online-Auftritt der „Tagesschau“, der sich aus Rundfunkgebühren finanziert. Mit den ARD-Vorhaben, eine kostenlose Variante von tagesschau.de speziell für das iPhone von Apple bereitzustellen, beschäftigt sich dem [„Focus“] zufolge inzwischen auch EU-Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia. (…)

„Der Spiegel“, 22.2.2010:

(…) Die bisher nur angekündigte „Tagesschau“-App beschäftigt indes auch die Politik. Die FDP-Europaabgeordnete Silvana Koch-Mehrin hat bei der EU-Kommission eine Prüfung des ARD-Angebots gefordert. (…)

„Der Focus“, 22.2.2010:

(…) Währenddessen beschäftigt sich auch die EU-Kommission in Brüssel mit den Internet-Aktivitäten der „Tagesschau“. Dabei geht es um das ARD-Vorhaben, eine kostenlose Variante von tagesschau.de speziell für das iPhone von Apple bereitzustellen, einer sogenannten App. Die FDP-Europaabgeordnete Silvana Koch-Mehrin hatte in einem Brief an EU-Medienkommissarin Neelie Kroes vor Wettbewerbsverzerrung durch diese App gewarnt.

Kroes‘ Behörde hat den Fall inzwischen an den neuen EU-Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia weitergereicht, der drei Wochen Zeit für die Prüfung hat.

(„Welt Online“ kopierte übrigens einfach die Meldung aus ihrem Schwesterblatt „Bild“ fast wörtlich und ergänzte sie um den sachdienlichen Hinweis: „Die kostenpflichtigen iphone-Apps von WELT und ‚Bild‘ sind seit ihrem Start im Dezember schon von mehr als 100.000 Nutzern gekauft und herunter geladen worden. Neueinsteiger können die WELTApp für 1,59 Euro einen Monat lang testen.“ Dazu stellte „Welt Online“ eine 16-teilige Bildergalerie mit Fotos von dem eigenen Angebot und Informationen wie: „Willkommen in der WELTApp. So haben Sie noch nie mobil gesurft.“)

Vor gut einer Woche bekam Frau Koch-Mehrin Antwort auf ihre Fragen. Sie fiel vernichtend aus. Wettbewerbskommissar Almunia schrieb ihr, dass die EU-Kommission keinen Anlass sieht, gegen die geplante App vorzugehen. Grundsätzlich sei es zulässig, mithilfe von Rundfunkgebühren neue Verbreitungsplattformen wie das iPhone zu erschließen. Ob die geplanten Dienste die Bedingungen dafür erfüllen, werde vorab im Drei-Stufen-Test geprüft, der aber „nur für tatsächlich ’neue‘ und ‚relevante‘ Dienste durchgeführt“ werden müsse. Für Beschwerden, was den Ablauf dieses Verfahrens angehe, sei die EU-Kommission nicht zuständig, erklärte der Kommissar der FDP-Politikerin. Das sei Sache der Bundesländer.

Almunias Antwort trägt das Datum vom 8. April. Eine Woche später, am vergangenen Donnerstag, veröffentlichte die ARD eine Erklärung, in der sie die „Zurückweisung“ der Anfrage Koch-Mehrins begrüße. Am selben Tag berichtete die Nachrichtenagentur epd über die Antwort der EU-Kommission und die Genugtuung der ARD.

Und so haben die oben zitierten Online- und Print-Medien, Boulevardzeitungen und Nachrichtenagenturen, Fach-Medien und Nachrichtenmagazine über diesen Ausgang der Sache berichtet, deren Anfang sie so eifrig begleiteten:

 

 

 

 

 

 

 

 

(Vollständige Übersicht.)

Der sechzigste Geburtstag, oder: Der ARD geht’s wohl zu gut

Schauen Sie sich bitte vorab einmal dieses Video an. Die BBC hat es 1997 produziert, um für sich zu werben. So unterschiedliche Künstler wie David Bowie, Elton John, Heather Small, Suzanne Vega und der Baritonsänger Thomas Allen sangen mit verschiedenen Instrumentalisten, Chören und dem BBC-Sinfonieorchester „Perfect Day“ von Lou Reed. Am Ende stand die Botschaft: Die BBC hat für jeden Musikgeschmack etwas zu bieten. Und sie kann sich das leisten, weil sie durch Rundfunkgebühren finanziert wird: BBC. You make it what it is.

Natürlich ist es ungerecht, die ARD mit der BBC zu vergleichen – nicht nur wenn es um das Reservoir an Weltklasse-Künstlern geht, aus dem man für einen solchen Spot schöpfen kann. Die Bedeutung der BBC als identitätsstiftende Institution einer Nation ist ungleich größer. Aber genau deshalb muss sie sich – bei allen Anfeindungen, denen sie sich ausgesetzt sieht – auch weniger vor der Zukunft fürchten. So sehr die Briten auf die BBC schimpfen, so sehr wissen sie, was sie an ihr haben.

Wissen die Deutschen, was sie an der ARD haben? Wäre so ein runder Geburtstag, wie ihn die ARD in diesen Tagen feiert (sie feiert cirka jedes zweite Jahr ein rundes Jubiläum, weil sie sich mal auf den Gründungstag der ARD und mal auf den ersten Sendetag des gemeinsamen Fernsehprogramms bezieht), wäre ein solcher 60. Geburtstag nicht ein guter Termin, die Menschen daran zu erinnern?

Es muss ja nicht gleich eine Produktion werden, die sich die Menschen noch 13 Jahre später massenhaft auf YouTube ansehen. Aber wenn man schon einmal auf dem letzten verbliebenen Primetime-Sendeplatz im Ersten, der theoretisch zumindest gelegentlich noch für so etwas ähnliches wie Dokumentationen verwendet wird, 45 Minuten lang für sich werben kann – sollte man diese 45 Minuten nicht dafür nutzen, für sich zu werben?

Die ARD findet das nicht. Als würde da draußen nicht gerade eine durchaus existenzbedrohende Debatte toben, ob wir uns in Zukunft überhaupt noch einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk leisten müssen und wollen, verzichtete sie darauf, einen Film zu machen, der den Zuschauern und Gebührenzahlern das Einzigartige, das Unverzichtbare an der ARD in Erinnerung ruft (mal vorausgesetzt, dass jemandem im Senderverbund dafür noch Beispiele einfallen würden). Der eigene Film zum 60. Geburtstag hätte streitbar sein können, amüsiert, selbstbewusst, selbstkritisch, natürlich unterhaltsam, zur Not defensiv. Stattdessen begab sich der Gratulant Benjamin Cors ganz in die Perspektive eines staunenden kleinen Kindes: Wahnsinn, Fernsehen. Was da alles passiert! Und wir können zugucken! Ist das nicht unglaublich?

Das Fernsehen ist in weiten Teilen über die Phase der Boulevardisierung hinaus. Es geht längst um Infantilisierung. Die Sendung „Glückwunsch, ARD!“ ist ein Dokument dieses Trends, und das beunruhigendste ist, wie sehr sie es genießt, sich mal ganz blöd zu stellen.

Fünf Schauplätze hat Cors sich ausgesucht, um jeweils eine Facette der ARD zu zeigen. Er beginnt bei Dreharbeiten zu einem Kölner „Tatort“. Der Off-Sprecher erzählt mit der Stimme eines Gute-Nacht-Geschichten-Erzählers:

So viel Hektik, so viele Menschen hinter der ARD-Kommissaren. Es geht um Mord. 22 Drehtage für 90 Minuten Film. Die haben hier keine Zeit zu verschwenden. (…) Die Festnahme wurde mehrmals aus unterschiedlichen Perspektiven gedreht. Und wie auf Knopfdruck werden aus Schauspielern Kommissare!

Das muss man sich einmal vorstellen: Wie auf Knopfdruck werden aus Schauspielern Kommissare! Doch in der ARD gibt es nicht nur Schauspieler, die, nun ja: schauspielern. Hier laufen zum Beispiel auch Nachrichten.

In diesem Raum werden die „Tagesthemen“ geplant. Das klingt so spannend, da wollen wir dabei sein! Dürfen wir auch. Die ARD hat schließlich Geburtstag. Und Caren Miosga nimmt uns einfach mal mit durch ihren Tag. Erst mal redet sie über einen Bankenskandal. Das ist uns zu kompliziert. Wir reden lieber mit ihr – über ihr erstes Mal.

Die Welt ist voller Dinge, die man als ARD-Dokumentarfilmer nicht versteht. Bankenskandale sind nicht das einzige.

Es gibt hier viele Uhren und viele Zeitungen. Da kann einem schon ein bisschen wirr werden.

Uuuuh, Uhren! Buchstaben!

Das Jackett von Caren Miosga ist übrigens blau. Viele interessieren sich ja vor allem dafür.

Während der Sprecher das erklärt, ist exakt Folgendes im Bild zu sehen (Beschriftung von uns):

Die ARD hält ihre Zuschauer nicht nur für blöd, sondern auch für blind.

Manchmal fühlt man sich an die „Sendung mit der Maus“ erinnert. Aber deren Macher würden vermutlich nicht so sprechen, weil sie wüssten, dass die Kinder das als zu kindisch ablehnen würden. Zu Besuch bei der SWR-Jugendwelle Das Ding heißt es:

Der Mann mit der Mütze macht, dass es nachher laut wird im Radio.

Und wieder im „Tagesthemen“-Studio:

Caren Miosga schaut auf den Tisch – beziehungsweise: in den Tisch. Da ist nämlich ein Bildschirm eingebaut. Jan Hofer ist der Mann an Miosgas Seite. Für den hat sie aber keinen Blick übrig. Denn der nächste Einsatz wartet.

(An dieser Stelle war ich ein bisschen enttäuscht, dass nicht wenigstens erklärt wurde, was ein „Tisch“ ist.) Und ewig dieses Staunen, diese alberne Glücksangeberei, dabei sein zu dürfen, als ARD-Kamerateam hinter den Kulissen einer ARD-Fernsehsendung…

Und dann stehen wir direkt neben Ihm, während Florian Silbereisen um Beistand bittet. Florian Silbereisen – mit dem dürfen nur wir hinter die Kulissen!

…oder einer ARD-Radiosendung:

Wir sind aufgeregt. Denn: Schließlich dürfen wir umsonst ins Stadion! Mit Sabine Töpperwien. Ganz oben unters Dach! Auf die besten Plätze! Wir wollen ja auch wirklich alles mitbekommen.

Sprache und Haltung sind aber natürlich nur das eine. Das andere ist das völlige Fehlen eines Bewusstseins, dass die ARD, mehr denn je, eine Legitimation für die Milliardengebühren braucht, dass die Menschen sie für unverzichtbar halten müssen, dass es nicht reicht, irgendetwas Fluffiges zu senden, selbst wenn die Quoten stimmen. Wenn der Sprecher sagt: „Irgendwo hier müssen auch die ganzen jungen Leute sein, die Das Ding so spannend machen“, dann feiert die ARD in ihrer Jubiläums-Dokumentation allen Ernstes ein Programm als Vorzeige- und Zukunfts-Projekt, das zumindest nach dem, was man in der Sendung davon sieht, eine schlichte Kopie der privaten Dudel- und Quatschfunksender darstellt. Dass nicht auszuschließen ist, dass Das Ding seine Hörer zur Not auch informieren will, lässt sich nur aus folgendem Off-Text schließen:

Es ist kein leichter Morgen für Frederik Peters. Das Thema des Tages ist nämlich – eher unsexy: Der Tarifstreit. Bei der Bahn. Aber auch damit müssen die beiden [Moderatoren] versuchen, junge Hörer zu erreichen!

Es scheint echt ein Fluch zu sein, öffentlich-rechtliche Mindeststandards zu erfüllen. Und dann sehen wir Peters, wie er das macht, mit dem Thema, das eher unsexy ist, junge Hörer zu erreichen. Er sagt als eine Art Überleitung: „Nach dem Motto, eben war ich noch blau, und jetzt fährt keine Bahn.“

Ganz klein hat sich die ARD mit dieser Geburtstagsdokumentation gemacht. So klein, dass sie sich selbst riesig finden musste, schon wegen der vielen Leute! Und der ganzen Mikrofone! Und der blinkenden Lichter! Womöglich glaubt sie, das reicht schon, wenn das Publikum denkt: Mensch, von unseren Gebühren kaufen die aber tolle Tische mit Löchern drin. Und lassen den Silbereisen über heiße Kohlen geben. Und machen Dokumentationen, die man zusammen mit der sechsjährigen Nichte und der dementen 117-jährigen Großmutter gucken kann, und keiner fühlt sich überfordert.

Abgesetzte Super-RTL-Abzockshow mit „M“

Mit etwas Glück geht das Geschäft mit teuren Telefongewinnspielen im Fernsehen allmählich zuende. In der vergangenen Woche hat Super-RTL abrupt seine mitternächtliche Anrufsendung „Master Quiz“ abgesetzt.

Seit Anfang 2009 hatten Animateure wie der Schauspieler und ehemalige Boygroup-Sänger Martin Scholz (Foto) gutgläubige Zuschauer täglich rund drei Stunden lang mit zweifelhaften Methoden zur kostenpflichtigen Teilnahme an kaum lösbaren Gewinnspielen verführt. In der Nacht auf Montag vergangener Woche schien noch alles ganz normal: Man verbrachte die kompletten drei Stunden Sendezeit mit einem einzigen Rätsel, in dem es darum ging, fünf weibliche Vornamen mit A an zweiter Stelle zu erraten (richtig gewesen wären: Kaveri, Taiwo, Nanon, Hadumod, Madlaina — also leicht!).

„Ich würd mich natürlich auch freuen, wenn Sie morgen wieder zuschauen“, sagte Scholz am Ende der Sendung. Doch am nächsten Tag zeigte Super-RTL statt des angekündigten „Master Quiz“ acht Folgen der „Didi-Show“, am Tag darauf vier Folgen von „Experimental — die verrückte Wissenschafts-Show“. Es scheint eine außerordentlich spontane Programmänderung gewesen sein, denn erst am Donnerstag gab Super-RTL den neuen Programmablauf bekannt: In Zukunft läuft statt der Call-TV-Sendung Teleshopping.

Auf Nachfrage kann oder will man bei Super-RTL nicht erklären, was dahinter steckt. Solche „spontanen“ Programmänderungen seien durchaus üblich, das Nachtprogramm werde immer mal wieder geändert, es habe jedenfalls keinen besonderen Vorfall oder Anlass gegeben — und es sei auch nicht ausgeschlossen, dass das „Master Quiz“ irgendwann wieder auf den Bildschirm zurückkehrt.

Das „Master Quiz“ wurde von der österreichischen Firma Mass Response produziert, die bei Call-TV-Kritikern keinen Ruf als besonders seriöses Unternehmen hat. Mass Response stand ursprünglich auch hinter dem „Swiss Quiz“, das auf mehreren Schweizer Sendern lief und dessen Methoden selbst nach den Maßstäben dieser Branche dubios erschienen. Unter merkwürdigen Umständen gab Mass Response den Produktionsauftrag für das „Swiss Quiz“ später an die Münchner Firma Primavera-TV weiter.

Doch auch das „Swiss Quiz“ ist Geschichte: Die letzte Sendung lief am 14. März, und als wollten die Produzenten alle Kritiker beim Abgang noch einmal richtig provozieren, warfen sie plötzlich mit Geld scheinbar nur um sich: Sensationellerweise wurde ein Jackpot geknackt, insgesamt wurden unerhörte rund 150.000 Franken (angeblich) ausgespielt. Doch das Aus der Sendung hängt nicht mit den Betrugsvorwürfen gegen die Sendung zusammen (die unbewiesen sind, aber von vielen Indizien gestützt werden). Das Schweizer Bundesgericht hat entschieden, dass die Call-In-Shows in der betriebenen Form illegal waren, weil es bei einem Gewinnspiel nach Schweizer Gesetz eine kostenlose Teilnahmemöglichkeit mit gleichen Chancen geben muss. Dieses Angebot sei aber nicht korrekt kommuniziert worden.

Annette Frier

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Natürlich wäre es albern, sie als eine „Entdeckung“ zu bezeichnen. Wer Annette Frier und ihr schauspielerisches und komödiantisches Können bislang nicht entdeckt hat, muss schon sehr angestrengt nicht aufgepasst haben beim Fernsehgucken in den vergangenen zehn Jahren. Sie brachte ein Funkeln in die Serien, Shows und Filme, bei denen sie mitspielte, eine ganze eigene Kombination von ironischer Distanz und Lebensfreude. Und Witz, natürlich. Aber tatsächlich schien es oft, als würde das gar nicht genug bemerkt.

Doch wenn sich das Fernsehvolk ab morgen nicht endlich kollektiv in sie verliebt, ist ihm auch nicht zu helfen. Ab morgen (Sat.1, 21.15 Uhr) spielt Annette Frier in der gleichnamigen Serie Danni Lowinski, eine Frau aus kleinen Verhältnissen, die keine Lust mehr hatte, Friseurin zu sein, auf dem zweiten Bildungsweg Anwältin wurde, aber statt einer Stelle in einer Kanzlei nur einen Platz zwischen dem Eingang zum Parkhaus und dem Schlüsseldienst in einer Einkaufspassage fand, wo sie nun für ein Euro die Minute ihre Dienste anbietet. Diese Danni ist natürlich ein typisches Seriengeschöpf mit ihrer Kombination aus Dreistigkeit und Unsicherheit, wie sie abwechselnd ihre im täglichen Kampf ums Überleben gestählte Lebenserfahrung ausspielt und an der Welt verzweifelt. Aber Annette Frier macht diese Figur auch in ihren unwahrscheinlichen Momenten realistisch und lebendig und wahr, gibt ihr eine angenehme natürliche Prolligkeit – und lässt einen über einige papphafte Nebenfiguren, Inszenierungen und vor allem Kulissen hinwegsehen.

Wenn es sich nicht nach einer Beleidigung anhören würde, könnte man sagen: Sie passt wunderbar zu Sat.1. Annette Frier und „Danni Lowinski“ sind so, wie der chronisch nach seiner Identität suchende Sender sein müsste: warmherzig und leicht, aber nicht glatt und doof. Das Schöne an den Geschichten ist, dass sie bei aller Märchenhaftigkeit erkennbar im Hier und Jetzt spielen, auch das soziale Millieu der Zukurzgekommenen aus der Hochhaussiedlung wirkt nicht karikiert oder aufgesetzt. Die 1-Euro-Anwältin lebt hier in einer winzigen Wohnung mit ihrem behinderten Vater, und dass das bei aller Grundsympathie füreinander häufig ein Alptraum ist, verschweigt die Serie auch nicht.

„Das ist das Gute am Armsein“, ruft die trotzig-naive Danni ihrem arroganten Porsche-Kollegen zu: „Man hat so wenig zu verlieren.“ Aber dann steht sie neben einer 16-Jährigen, die sich um ihre kleinen Geschwister kümmern muss, weil die Mutter gestorben und der Vater überfordert und gewalttätig ist, und das Aufmunterndste, das sie ihr sagen kann, ist: „Im nächsten Leben wird’s vielleicht einfacher. Aber durch das hier müssen wir noch durch.“

Günther und Johannes Nähkastenfrosch

Vergangene Woche habe ich Günther Jauch in seinem unaufgeräumten Büro in Köln besucht, um ihn zu überreden, endlich mit „Stern-TV“ aufzuhören. Es hat nicht ganz geklappt, obwohl ich so dicht dran war. Aber den Versuch kann man auf FAZ.net nachlesen (oder, für die ganz Harten, in einer noch längeren Version hier im Blog).

Das Interview ist übrigens (weil wir neulich die Diskussion hier hatten) natürlich autorisiert. Anders hätte man aus einem solchen fast zweistündigen Gespräch auch keinen druckbaren Text machen können. Es ist für mich immer wieder erstaunlich, beim Abtippen der Aufzeichnung zu merken, welche Irrwege ein solches Gespräch nimmt, wieviele Sätze, die in der Situation völlig klar waren, aufgrund des reinen Wortlautes völlig unverständlich in der Luft hängen. Ohne die Möglichkeit, das gründlich zu redigieren, Doppelungen herauszunehmen, missverständliche Formulierungen zu klären, ganze Fragen und Antworten umzustellen, um sie in den passenden Kontext zu heben, wäre das Lesen eines solchen Textes eine Qual. Und dadurch, dass ich weiß, dass mein Gesprächspartner ohnehin die Chance hat, seine Sätze zu ändern, kann ich auch Fragen und Antworten zuspitzen.

Natürlich gibt es Interviewformen, bei denen man sich fünfzehn Minuten sehr konzentriert unterhält und schon das wörtliche Gesprächsprotokoll publikationsreif wäre. (Und es gibt Themen und Gesprächspartner, bei denen es notwendig ist, darauf zu pochen: Was gesagt ist, ist gesagt.) Und bestimmt gibt es auch Kollegen, die es schaffen, ein längeres Gespräch besser im Griff zu behalten, so dass weniger Nachbearbeitung nötig ist. Aber in solchen Fällen wie dieser Plauderei mit Jauch ist eine Autorisierung für alle von Vorteil: den Interviewer, den Interviewten und ich behaupte: auch den Leser. (Jauch ist ohnehin angenehm, weil er zwar den ein oder anderen Schlenker herausnimmt, aber auch gerne nachträglich pointiert.)

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Einen ganzen Artikel würde ich aber auch ihm nicht zur Autorisierung schicken, schon aus Prinzip, und schmerzhaft gelernt habe ich das — ausgerechnet — als ich zum ersten Mal Johannes B. Kerner traf. Es war 1996, er war damals aufstrebender Moderator einer täglichen Sat.1-Talkshow und „ran“-Moderator und ich Praktikant in der Medienredaktion der „Süddeutschen Zeitung“, ich habe ihn besucht und ihm (ich glaube schlicht: der Einfachheit halber) vor der Veröffentlichung nicht nur seine Zitate geschickt, sondern den fertigen Artikel.

Oder genauer: Das, von dem ich annahm, dass es der fertige Artikel sein würde. Mein Ressortleiter fand das Stück nämlich missraten. Er meinte (nicht zu unrecht), dass ich mich von dem Charme des Profis völlig habe blenden lassen und forderte eine neue, distanziertere Version meines Artikels.

Als die dann erschien, machte Kerner einen Riesenaufstand. Obwohl nie ausgemacht war, dass er über den Text jenseits seiner wörtlichen Zitate bestimmen dürfe, fühlte er sich — nicht zu Unrecht — von mir bösartig in die Irre geführt: Ich hatte ihm ein überfreundliches Portrait geschickt. Erschienen war eine kritische Würdigung.

Es war mir eine Lehre. (Und der Beginn keiner wunderbaren Freundschaft.)

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Übrigens habe ich im Zusammenhang mit dem Jauch-Interview die schlimmste Internetseite überhaupt gefunden: meinesammlung.com. Ich würde nämlich gerne mal „Rätselflug“ wiedersehen, die legendäre Abenteuershow, bei der Günther Jauch (geführt durch Kandidaten im Studio, die Hinweise und Karten hatten, aber kein Fernsehbild) durch ferne Länder rannte und mit dem Hubschrauber flog und irgendwelche Dinge finden musste. Bei der Suche danach stoße ich auf einen Eintrag bei meinesammlung. Da schreiben also irgendwelche Leute hin, dass sie alle Folgen von „Rätselflug“ haben („Folge 7,9 10 mit kleinen Bild+Tonstörungen“), wo mich schon glücklich machen würde, eine Folge zu haben. Und sie schreiben das dahin, um das dahin zu schreiben. Sie verkaufen das nicht. Sie laden das nicht irgendwo hoch. Sie haben das einfach. Und schreiben das dahin, damit ich das beim Googlen finde und mich ärgere.

Ich halte das für einen Fall für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

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Jedenfalls zeigt RTL heute Abend Höhe- und Tiefpunkte aus 2000 Jahren „Stern-TV“.

20 Jahre „Stern-TV“

Eine Sendung wie Wasser aus dem Hahn. Moderator Günther Jauch über ein merkwürdig unbeachtetes, aus der Zeit gefallenes Magazin und seine fehlende Lust auf Neues.

(Langversion eines Interviews für die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“)

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Neulich war meine Fernbedienung kaputt. Ich lag auf dem Sofa, war zu faul aufzustehen und habe versehentlich eine ganze Sendung „Stern-TV“ gesehen, ohne ein einziges Mal umzuschalten. Herr Jauch, das war hart.

Na, mit dem Sehverhalten sind Sie auch in der Minderheit. Nur etwa ein Drittel der Zuschauer sieht die komplette Sendung. Klar: Wer um Viertel nach Zehn guckt, hält nicht zwangsläufig bis Zwölf durch. Dafür kommen Leute um elf Uhr von irgendwo anders und bleiben eine Stunde dran. Uns hilft es auch, wenn wir eine Serie über mehrere Sendungen haben, dass wir sie mal am Anfang platzieren und mal am Ende, und nicht jeder sagt: Ach das Thema kenn‘ ich ja schon. Das bringt natürlich den Zwang mit sich, die Filme immer so selbsterklärend zu machen, dass sie auch derjenige versteht, der es zum ersten Mal mitkriegt.

Da lief jedenfalls die erste Folge eines Experimentes „Plötzlich alt“, in dem acht junge Leute vier Tage lang künstlich eingeschränkt wurden und wie in einem Altersheim lebten. Schon die Vorstellung hat Ewigkeiten gedauert, alles war endlos pseudodramatisch ausgewalzt und schleppte sich gefühlt eine Stunde lang hin.

Es waren knapp 30 Minuten. Aber genau das ist auch die Qualität von „Stern-TV“. Natürlich kriegen Sie das zur Not auf „Tagesthemen“-Beitrags-Länge, 3:30: Spezialanzug angezogen / zwei in den Rollstuhl gesetzt / eine ist jetzt blind / schwierig für sie / harte Nummer. Das machen wir eben so nicht. Andere haben für ihre Magazine gerade mal insgesamt 30 Minuten — wir gönnen uns so viel Zeit, wie ein Thema braucht oder verträgt. Sie können dann immer noch nörgeln: Mir ist das langweilig, mich interessiert das Thema nicht. Das ist aber bei „Stern-TV“ seit 20 Jahren so. Sie werden kaum Leute finden, die immer vom ersten bis zum letzten Thema gleichermaßen elektrisiert sind.

Aber ist es nicht alles sehr aufgeblasen? Es ist ein extremer Aufwand, den Sie da betrieben haben …

Ja, der Aufwand war gewaltig. Wir haben ein halbes Jahr daran gearbeitet, alles wissenschaftlich begleiten und prüfen lassen. Das war richtig teuer. Aber am Ende hat diese Reihe ganz besonders viele junge Leute interessiert,es war weltweit der erste Versuch dieser Art, die Bundesfamilienministerin war im Studio und die Ausbilder für Pflegeberufe wollen das jetzt alle auf DVD. Wissen Sie, wie man das auch nennen kann? Qualitätsfernsehen!

Für die schlichte Erkenntnis: Alt werden ist auch nicht schön?

Na gut, man kann es sich so einfach machen. Aber ich finde es schon interessant, dass da acht reflektierte junge Leute sind, die in so kurzer Zeit alle vollkommen aus der Fassung geraten und sagen, dass sie einen völlig neuen Blick gekriegt haben, wie das ist, wenn man alt ist. Also, ich habe da sehr interessiert zugeschaut und mich können Sie ja nicht mehr so leicht begeistern.

„Stern-TV“ hat Redundanz zum Prinzip gemacht. Nach jedem Beitrag setzen Sie die Leute aus dem Film ins Studio und quatschen alles noch mal mit denen durch.

Das ist nur selten so, dass ein Film tatsächlich so komplett ist, dass sich da im Studio etwas wiederholt. Aber glauben Sie im Ernst, dass es die Sendung und mich noch geben würde, wenn wir feststellen, dass die Filme allein eigentlich reichen? Die Zuschauer wollen beides — Film und Studioaktion. Sonst wäre ich ja nur ein überbezahltes Moderationsmaskottchen, dass den Betrieb aufhält.

Auf mich wirkt das oft wie die Not, mit möglichst wenig Stoff möglichst viel Zeit zu füllen, um Geld zu sparen.

Im Gegenteil. Die Sendung ist sehr aufwendig gemacht und damit auch teuer. Es sind auch nicht weniger Themen geworden. Ich finde auch, dass die Filme bei uns sehr oft eine höhere Qualität haben, als das, was Sie sonst so an allgemeiner Schnipselware sehen. Ohne diesen Standard bei den Filmen hätten wir ein Problem — also stecken wir da Geld rein. Nein, was sich geändert hat, sind unsere Sehgewohnheiten. Zum Beispiel dadurch, dass Sie am Computer immer das Tempo bestimmen können, wie es weitergeht. Die gefühlte Geschwindigkeit hat sich komplett verändert. So gesehen mag die Sendung aus der Zeit gefallen sein. Wenn Sie das heute als neues Konzept irgendwo anbieten würde, diese Eindreiviertel-Stunden, auch bei den Öffentlich-Rechtlichen, das bekämen Sie nicht unter.

Sie empfinden diese Langsamkeit als Glück, als Luxus.

Ja, sehr. Dieses lange Erzählen, sich ausführlich um Themen zu kümmern, das ist schon seltener geworden. Das erleben Sie noch bei 3sat-Dokumentationen oder arte-Themenabenden. Und wir holen damit jeden Mittwoch um die drei Millionen Zuschauer und Bestwerte in der jungen Zielgruppe! Vielleicht liegt das auch an dem wirklich breiten Spektrum, das wir abdecken. Dass Sie Unsinn genauso machen können wie wichtige Themen, dass Sie da Minister auflaufen lassen können und danach Seehunde, die aus dem Maul stinken und den Moderator küssen. „Stern-TV“ ist, wie der „Stern“ zu Henri Nannens Zeiten war. Eine Wundertüte. Da kam auch alles drin vor, und die Leute haben das gern gelesen. In dieser Woche hatten wir das Finale der Alters-Serie, eine Geschichte über Videoüberwachung bei Schlecker, Missbrauch in der Kirche, einen Mann, der das Turiner Grabtuch perfekt mit mittelalterlichen Methoden kopiert hat sowie Berliner Jungs, die Break Dance auf Bach tanzen. Da können Sie bei jedem Thema sagen: Geht die Welt unter, wenn das nicht läuft? Nein. Aber es ist eine gute, unterhaltsame, klassische Mischung.

So einfach scheint es ja nicht zu sein, eine Wundertüte zu verkaufen, das merkt Johannes B. Kerner gerade.

Dazu kann ich schlecht was sagen. Wir sind vor 20 Jahren angetreten, das öffentlich-rechtliche Monopol auf die Beschreibung der Zustände in der Gesellschaft aufzubrechen. Aber wir hatten auch den Ehrgeiz, damit am Markt erfolgreich zu sein. Dabei ist „Stern-TV“ am Anfang ziemlich gefloppt. Da war die Heerschar derjenigen, die glaubten, uns genau erklären zu können, woran es liegt, riesig. Bis hin zum Vorstandsmitglied von Bertelsmann, das uns einen Brief schrieb, er habe das zentrale Problem der Sendung erkannt. In Zukunft dürften wir eines nicht mehr tun: weibliche Gäste ohne einen Blumenstrauß verabschieden. Aber es gab früher öfter die Haltung, lass es mal laufen — entweder aus Bequemlichkeit, aus Arroganz, oder weil jemand gewusst hat: Dinge entwickeln sich. Die hektische Ungeduld bestimmt heute das Fernsehen. Einem Neustart von „Stern-TV“ würde kein Senderchef mehr zwei Jahre Bewährungszeit geben. Da werden Programme ja manchmal schon nach zwei Wochen gekillt.

Das heißt, die Leute gucken es auch aus Gewohnheit?

Wir stellen zumindest fest, dass die Sendung für die Leute eine große Bedeutung hat, weil so viele sie regelmäßig schauen. Wir beobachten aber gleichzeitig , dass sie publizistisch kaum mehr wahrgenommen wird. Oft sind wir mit brisanten Themen die ersten auf dem Markt. Wenn Monate später zum Beispiel ein öffentlich-rechtliches Magazin nachzieht, landet das Thema auf einmal in den Zeitungen. Das ist einerseits angenehm, weil wir in Ruhe arbeiten können und nicht dauernd einer reinquatscht. Und auf der anderen Seite ist es eigentlich ungerecht. „Stern-TV“ hat in zwanzig Jahren noch nie einen Fernsehpreis bekommen. Es gab einmal eine Nominierung für den Deutschen Fernsehpreis für eine rechtsradikale Familie in drei Generationen, die wir über 15 Jahre begleitet haben. Ich bin deshalb nicht beleidigt, aber seltsam ist es schon. Mit „Stern-TV“ verhält es sich vielleicht so: Es wird dunkel, und Sie kommen nach Hause und machen das Licht an. Da stehen Sie dann auch nicht, starren an die Decke und sagen: Boah! Oder beim Händewaschen geht Ihnen auch nicht durch den Sinn: Donnerwetter, Trinkwasser! Könnt‘ ich mir sogar die Zähne mit putzen! Vielleicht funktioniert auch „Stern-TV“ ein bisschen so.

Das erklärt vielleicht auch, warum Sie nicht für das geprügelt werden, für das andere geprügelt werden.

Das stimmt auch wieder.

Kerner und Lanz sind schnell Symbole geworden für all das, was schwierig ist an dieser Art Boulevard-Fernsehen. Sie sind erstaunlicherweise fast völlig davon verschont worden.

Ja, manchmal sitzen wir hinterher auch da und sagen bei irgendeinem Thema: Hoffentlich hat das keiner gesehen. Am nächsten Tag waren dann aber doch überdurchschnittliche 3,5 Millionen Leute dabei …

… aber zumindest niemand, der dann noch drüber schreibt.

Genau.

Macht Ihnen RTL keinen Druck, öfter Schlagzeilen zu produzieren?

Wenn Sie 20 Jahre lang zuverlässig zwischen 16 und 23 Prozent Marktanteil in der Zielgruppe produzieren,sind sie wechselseitig doch etwas entspannter. Vor allem haben wir ja schon an vielen Ufern gestanden. Frau Schreinemakers gegen uns, stundenlang, als Raab anfing mit „TV-Total“, Kerner sowieso. Da hat man viele kommen und gehen sehen.Und fast jeden Mittwoch Champions-League, DFB Pokal oder Länderspiele gegen uns. Und trotzdem: Ich behaupte, dass es kein Magazin gibt, das sowohl formal als auch inhaltlich so frei arbeiten kann wie wir. Uns sagt wirklich keiner was. Das ist ein unglaubliches Privileg gerade im Fernsehen, wo es von Controllern, Bedenkenträgern, Marktforschungsgläubigen und CD-Verkäufern nur so wimmelt. „Stern-TV“ hat zum Beispiel regelmäßig Produkttests. Da gibt es wichtige Werbekunden, die negative Ergebnisse nicht lustig finden. Der Sender steht da seit 20 Jahren, in guten wie in schlechten Zeiten, wie eine Eins hinter uns und läßt uns testen und kommentieren was und wie wir das wollen. Dabei sind da zuweilen siebenstellige Budgets in Gefahr. Soviel Rückendeckung können Sie woanders mal suchen.

Kann es sein, dass Sie die Sendung auch aus einer Art Gewohnheit machen? Es ist bestimmt angenehm, da reinzuschlüpfen wie in einen alten Bademantel. Aber haben Sie mit Ihrer Popularität nicht auch Lust, mal wieder richtig was zu reißen, zu überraschen?

Die Frage kommt gerne auch in der Form: Haben Sie nicht noch einen Traum? Wenn ich den habe, werde ich ihn nicht verraten. Ich gebe aber auch zu, dass die Zahl meiner Träume inzwischen überschaubar ist.

Aufs Fernsehen bezogen.

Ja, nur! Vor 25 Jahren wäre es für mich das Größte gewesen, das „heute-journal“ zu moderieren. Die wollten mich ja mal haben.

Das „heute-journal“?

Ich sollte zweiter Mann hinter Ruprecht Eser werden. Da passte ich allerdings proporzmäßig nicht, den Platz bekam dann Siegmund Gottlieb. Die Sendung gefällt mir, aber das zu moderieren ist für mich heute nicht mehr so reizvoll wie damals. Dazu kommt, dass ich Sachen gerne länger mache. Ich war zehn Jahre beim Radio, habe zehn Jahre das „Aktuelle Sportstudio“ gemacht. Ich mache jetzt im elften Jahr „Wer wird Millionär“. Und jetzt im 20. Jahr „Stern-TV“… Dabei habe ich immer gesagt: „Ich will nicht zum Klaus Bednarz von RTL werden“, weil der doch ewig in seinem Pullover „Monitor“ moderiert hat. Bis ich mal nachgeguckt habe, wie lange der das gemacht hat: nur 18 Jahre. Seitdem lasse ich den Bednarz-Vergleich weg.

Schon nach Ihrer Aufzählung liegt doch auf der Hand, dass ein neues Projekt für die nächsten zehn Jahre hermuss.

Wenn ich jetzt mit „Wer wird Millionär“ aufhören würde …

Nein, mit „Stern-TV“ sollen Sie aufhören!

Sie sind wirklich der herzlichste Gratulant, der mir zum 20. Geburtstag der Sendung begegnet ist. Ich nehme das jetzt mit gebührender Abscheu und Empörung zur Kenntnis, und werte es als exotische Einzelmeinung. — Aber erinnern Sie sich an „Wünsch Dir was“? Die haben gesellschaftliche Veränderungsprozesse auf rührend spielerische Weise erspürt und abgebildet. So etwas wäre reizvoll. Aber das scheitert heute oft daran, dass es kaum noch Tabus gibt. Alles was mit Sexualität zu tun hat, mit Reichtum, Armut, Neid und Korruption findet schon in einer teilweise derart grotesken Weise im Tagesprogramm statt, dass da kaum etwas übrig bleibt.

Warum kommt alle paar Tage wieder die Meldung, dass Sie doch noch zur ARD gehen?

Das fragen Sie einfach mal die, die den Knochen dauernd wieder neu ausbuddeln. Ich äußere mich nicht dazu. Wie sich die Dinge damals entwickelt haben, ist bekannt. Mein Eindruck ist, dass es danach auf beiden Seiten Bedauern gab, wie das gelaufen ist.

Das gescheiterte Projekt Ihrer Christiansen-Nachfolge ist natürlich auch ein Ursprung vieler Fragen danach, ob Sie nicht mal was anders machen wollen. Seitdem ist das als unerfüllter Traum dokumentiert.

Ich bin ja noch jung.

Wenn Sie mit „Stern-TV“ aufhören, setzt das auch neue Energie frei.

Das ist schon toll, wie Sie mir eine seit 20 Jahren erfolgreiche Sendung madig zu machen versuchen. Ich möchte aber kein Buch schreiben oder in die Politik gehen. Das können andere besser. Aber demnächst muß ich mich um ein Weingut an der Saar kümmern, dass seit 1805 in Familienbesitz ist und dessen Riesling zum Glück einen Spitzenruf genießt. Wenn ich es nicht übernehme, wird es aus der Familie herausverkauft.Jetzt gehe ich aus Famiientradition sogar in die Landwirtschaft.Das wird noch ein Abenteuer.

Das „Zeit Magazin“ hat Sie im vergangenen Jahr als eine Art Arbeitstier beschrieben, fast wie ein Bergmann, der nie aus dem Stollen kommt.

Seit meinem 20. Lebensjahr stehe ich regelmäßig in Studios. Dadurch, dass ich jede Woche eingetaktet bin, habe ich von der Welt tatsächlich nicht viel gesehen. Und ich kann nicht so leicht sagen, ich möchte jetzt mal die üblichen zwei Jahre Weltreise machen.

Kann es sein, dass Sie andererseits auch eine Art Bequemlichkeit entwickelt haben?

Man kann es Bequemlichkeit nennen, aber vielleicht auch Weitsicht. Sie können natürlich alle Vierteljahre mit einer neuen Idee mit fliegenden Fahnen untergehen. Dazu habe ich aber keine Lust und es wäre auch nicht sehr klug.

In zwei Wochen feiern Sie in zwei großen Shows — die natürlich Ihre Firma produziert — sechzig Jahre ARD. Da sieht man dann auch den jungen, abenteuerlustigen Günther Jauch, der in der legendären Action-Spielshow „Rätselflug“ am Hubschrauber hängt.

Das finde ich schön, dass Sie da nostalgisch dran hängen. Ich treffe auch immer wieder Leute, die schon im fortgeschrittenen Alter sind und sagen: Als Schulkind habe ich Sie im Radio gehört. Da zucke ich dann schon immer zusammen. Aber es ist wirklich so, dass alles seine Zeit hat.

Sie klingen da weniger verklärt als Ihr Publikum.

Doch, das hat mir damals gefallen. Aber es wird davon nichts bleiben.

Na, die Erinnerung.

Ja, aber wenn ich mir heute Loriot ansehe, finde ich den immer noch so witzig wie damals. Das ist bei meinen Sachen nicht so. Es ist tatsächlich Gebrauchsfernsehen: Das ist für den Moment okay. Deshalb stehe ich auch zu „Stern-TV“. Formal sind wir da vielleicht zehn, 15 Jahre zurück, aber es funktioniert, und so gesehen halte ich die Sendung immer noch für absolut zeitgemäß. Und das Schönste ist: Ein paar Millionen — außer Ihnen — sehen das jeden Mittwoch Abend auch so.

Falsche Experten mit echten Zitaten?

Dem freien Journalisten W.* wird vorgeworfen, Zitate und Personen in seinen Artikeln erfunden zu haben.

Da ist zum Beispiel Jost Merten, angeblich „Fachanwalt für Familien- und Mietrecht aus Köln“, den W. in einem „Welt Online“-Artikel im vergangenen Juli zitierte, in dem es darum geht, wie Paare mit Kindern angeblich von Vermietern diskriminiert werden. Ein solcher Anwalt ist nicht aufzutreiben. Aber das, was er laut W. sagte, schon. Fast wörtlich steht es in einem Artikel des Mietervereins München, der mindestens fünf Jahre vorher erschienen ist.

Ähnliches gilt für viele der strittigen Experten aus W.s Artikeln:

Artikel von W. ältere Artikel von anderen
„Welt“, 3.7.2009: Mieterverein München, 24.6.2004:
„Kindern von Mietern stehen natürlich dieselben Rechte zu wie den Mietern selbst“, sagt Jost Merten, Fachanwalt für Familien- und Mietrecht aus Köln. Wenn Kinder in der Wohnung spielen, darf es also auch lauter zugehen. Und Kindern von Mietern stehen natürlich dieselben Rechte zu wie den Mietern selbst. Das heißt, dass sie selbstverständlich in der Wohnung spielen dürfen und dabei darf es auch lauter zugehen.
„Welt“, 3.7.2009: Rechtsanwalt Mahlstedt / Vermietertelegramm 06.03.2008:
„Es geht den Vermieter überhaupt nichts an, ob Kinder geplant sind oder die Partnerin schwanger ist“, sagt Anwalt Merten aus Köln. Beispielsweise ist es unzulässig zu fragen, ob Kinder geplant sind, ob die Partnerin schwanger ist, …
„Welt“, 18.8.2008: dpa, 21.6.2004:
„Der Chef kann das Arbeiten im Urlaub nicht generell verbieten“, erklärt der Arbeitsrechtler Peter Soldner. Und hier liegt das Problem im Detail: „Wenn beispielsweise ein Gärtner in seinem Urlaub eine Anstellung bei einer fremden Gärtnerei sucht, kann ihm der Chef die Erlaubnis dazu verwehren“, erklärt der Fachanwalt für Arbeitsrecht aus Köln. „Der Chef kann das Arbeiten im Urlaub nicht generell verbieten“, bestätigt [Alexander] Krafft, [Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht in Öhringen]. „Es ist dann möglich, wenn es dem Erholungszweck dient.“
Anders sieht es aus, wenn beispielsweise ein Polizeibeamter im Urlaub auf einem Bauernhof mithelfen will: „Hier ist die geistige, körperliche und seelische Regeneration vom üblichen Job gegeben“, erklärt Soldner. So hat zum Beispiel ein kaufmännischer Angestellter vor Gericht das Recht zugesprochen bekommen, während des Urlaubs auf einem Bauernhof mitarbeiten zu dürfen, berichtet Helmut Platow, Bereichsleiter des Ressorts Recht bei […] ver.di in Berlin. Denn diese Tätigkeit sei der geistigen, körperlichen und seelischen Regeneration förderlich.
Welt“, 27.8.2007: „test“, 10.10.2006:
Auch wenn also keine Pflicht für Hundebesitzer besteht, raten Verbraucherschützer zur freiwilligen Absicherung: „Ohne Schutz kann ein größerer Schaden für den Besitzer leicht den finanziellen Ruin bedeuten“, erklärt der Berliner Versicherungsanwalt Udo Schmidtke. Für Pferdehalter ist die Tierhalter-Haftpflichtversicherung freiwillig. Dennoch gilt: Ohne Schutz kann ein größerer Schaden für den Besitzer leicht den finanziellen Ruin bedeuten. Daher sollte sich jeder Pferdebesitzer für die Absicherung entscheiden.
„Welt“, 27.7.2009: „Welt“, 21.7.2008:
Hiervor warnen Juristen dennoch: „Die Strafe muss zwar nicht bezahlt werden, aber bei der Wiedereinreise kann es zu Problemen kommen“, warnt Carsten Penkella, Anwalt aus Köln, „In vielen EU-Mitgliedsstaaten werden offene Rechnungen für bis zu fünf Jahre elektronisch erfasst. Bei der Einreise wird neben dem Pass auch das Kennzeichen kontrolliert.“ Wird ein Temposünder so am Grenzübergang gestellt, muss er gleich an Ort und Stelle die Strafe von damals und zusätzlich satte Verzugsgebühren zahlen. Doch allzu große Sorglosigkeit sollte nicht aufkommen. „Wer seine ausländischen Bußgeldbescheide nicht bezahlt, muss aber bedenken, dass es bei der Wiedereinreise zu Problemen kommen kann“, erklärt Verkehrsrechtsexperte Wilson. „Viele Staaten speichern offene Rechnungen bis zu fünf Jahre. Und so können bei der Einreise neben dem Pass auch offene Bußgelder überprüft werden. Entdecken die Beamten dort offene Posten, muss der Reisende vor Ort seine Schulden bezahlen – plus Verzugsgebühren.

W. hat auch mir persönlich gegenüber bestritten, Zitate oder Personen erfunden zu haben. Belege für die Herkunft der Experten und Zitate oder eine überzeugende Erklärung ist er bislang schuldig geblieben.

*) Aus juristischen Gründen werde ich den Namen des Beschuldigten nur noch in anonymisierter Form verwenden.