Autor: Stefan Niggemeier

Jörg Kachelmann: Die Katastrophe mit Daisy

Jörg Kachelmann gehört seit langem zu den schärfsten Kritikern des staatlichen Deutschen Wetterdienstes (DWD). Aus dessen Pannen schlug die von ihm gegründete Firma Meteomedia erhebliches Kapital: zum Beispiel 2002, als der DWD nicht entsprechend vor dem verheerenden Orkan Anna gewarnt hatte, und den Auftrag, für die „Tagesthemen“ das Wetter vorzusagen, an Kachelmann verlor.

Nun hat das Tief „Daisy“ die Medien in einen apokalyptischen Schneechaosrausch versetzt (der WDR änderte am Freitag und Samstag wiederholt sein Programm, doch Daisy ließ sich auch von insgesamt 120 Minuten Sondersendungen nicht überreden, im Sendegebiet eine Katastrophe anzurichten). Kachelmann macht nicht nur den Medien, sondern auch dem DWD Vorwürfe.

Ein Gastbeitrag.

Es hätte viel zu lernen gegeben für die obersten Wetter- und Katastrophenschutzbehörden. Nach Lothar, Anna, Kyrill und wie sie alle hießen, nach der Elbeflut. Nur eines hat sich geändert: Der Deutsche Wetterdienst verschläft nicht mehr die Unwetter, er warnt vor allem, was sich bewegt. Irgendwo mag schon was passieren, dann war man zuerst und wenn nichts passiert, waren es „die Meteorologen“, die da übertrieben haben. Und wenn dann Schneewalze und Blizzard nicht kommen, sondern nur die ordinären Schneeverwehungen, reicht immer noch das Mittelchen von früher: Nichtstun. Keine Straßen sperren, obwohl man stundenlang zusehen kann, wie sie allmählich zuwehen. Einfach zugucken, wie Autos und LKWs in Schneewehen fahren. Das THW und die Feuerwehr werden’s schon richten am Tag danach, und so ist wenigstens ein bisschen Katastrophe da.

1. Der Hype
Der DWD und angeschlossene Kleinfirmen aus der Welt der Parameteorologie machen die Medien und Leute verrückt. Schon viele Tage, bevor es losgeht, wird großes Trommelfeuer veranstaltet, ein ganzes Land vor Blizzards, Schneewalzen gewarnt und zu Hamsterkäufen getrieben. Nur: So viele Tage vor dem Ereignis ist keine Regionalisierung möglich. Es werden zig Millionen Leute verrückt gemacht, die am Ende Warnungen nicht mehr ernst nehmen werden, weil diese Menschen nichts Dramatisches erleben.

2. Der Salto rückwärts
Kurz bevor es losgeht, sagt ein DWD-Mitarbeiter, dass Panik nicht notwendig sei. Damit ist alles abgesichert: Geht die Welt unter, hatte der DWD schon lange recht, passiert nichts, gilt das letzte gesprochene Wort.

3. Die Enttäuschung
Der erste Unwettertag, bei Daisy der Samstag. Alle rechnen mit furchtbaren Dingen, die so nicht deutschlandweit eintreten. Erste Agenturmeldung des Morgens: Daisy nicht so schlimm wie erwartet.

4. Die Stille vor dem Sturm
Wir sollen Hamsterkäufe machen, erfahren wir vor dem Wochenende, aber am Wochenende wird es bemerkenswert ruhig vom Katastrophenschutz, obwohl die Auswirkungen von Daisy noch nicht mal die Küste erreicht haben. Dort lauert zwar keine Schneewalze, aber eine Altschneedecke, die durch stürmischen bis orkanartigen Wind in Bewegung kommt. Es kommt zu Schneeverwehungen an immer denselben Stellen Norddeutschlands. Bei drohenden Hurricanes weiß jedes amerikanische County, welche Straße rechtzeitig gesperrt wird, Deutschland weiß es irgendwie nicht. Ist es der Wunsch nach selbsterfüllender Prophezeiung oder schiere Ignoranz? Straßen werden erst gesperrt, nachdem Autos und LKWs liegenbleiben, nicht vorher. In der „amtlichen Unwetterwarnung“ des DWD heißt es für die am stärksten betroffenen Landkreise: „Verbreitet wird es glatt.“ Nichts, was der Polo nicht packt.

5. Die Erfüllung
Wir haben gelernt, dass wir Hamsterkäufe machen sollen, wir wurden aber nicht gehindert, Autofahrten in die Schneeverwehungen zu machen. Dadurch bleiben in der Nacht viele Autofahrer an Straßenrändern liegen und werden nicht oder nur notdürftig versorgt. Die Autofahrer sind losgefahren, weil sie von 95% der Bevölkerung erfahren haben, dass Daisy nicht so schlimm sei. Zu viel(e) gewarnt ist so schlimm wie nicht gewarnt. Dafür gibt es Bilder eingeschlossener Autofahrer. Der DWD wird zufrieden feststellen, dass er schon immer gesagt hätte, dass es (irgendwo) schlimm würde. Es gibt Bilder von eingeschlossenen Autofahrern und verwehten Autobahnen. Der Weltuntergang, der meteorologisch nicht stattfand, wird durch die Hintertuer teileingeführt, weil man die Strassen einfach offen und Leute in die Schneewehen fahren lässt.

6. Die Tagesordnung
Hoffentlich keine Toten, selber schuld, wer nachts da noch rumfährt. Die hätten ja wissen müssen, dass nur sie gemeint sind, wenn ganz Deutschland sich auf eine Schneewalze, einen Blizzard vorbereiten und Hamsterkäufe machen soll. Die nächsten Scharlatane aus der Parameteorologie teilen uns mit, dass es auch im Februar kalt bleiben wird. Das weiß zwar niemand auf der ganzen Welt, aber gedruckt wird jetzt alles. Die nächste Katastrophe kommt bestimmt. THW und Feuerwehren werdens schon richten. Zum Glück haben wir wenigstens die.

BGH erklärt Markwort die Pressefreiheit

Das Urteil ist ein Sieg für die Meinungsfreiheit und den kritischen Journalismus und eine Niederlage für die Hamburger Pressekammern und den „Focus“-Chef Helmut Markwort: Der Bundesgerichtshof (BGH) entschied Ende vergangenen Jahres, dass Marktwort es hinnehmen muss, dass die „Saarbrücker Zeitung“ vor zwei Jahren ein Interview mit Roger Willemsen veröffentlicht hat, in dem er Markwort eine Reihe von Verfälschungen und Fehlern vorwirft. Jetzt hat er die lesenswerte Urteilsbegründung veröffentlicht.

Willemsen hatte im September 2007 im Interview gesagt:

„Unser Verhältnis zur Welt wird zunehmend ironischer und uneigentlicher. Es ist nicht mehr wichtig, ob der Talkshow-Gast ein Problem hat oder es nur fingiert. Als ich anfing, Talkshows zu machen, war das noch der Sündenfall. Einer wie Tom Kummer, der Interviews fingiert und jetzt seine Autobiografie geschrieben hat, löste eine Erosion im Mediengeschäft aus. Heute wird offen gelogen. (…)

Als Chefaufklärer in Sachen Tom gerierte sich damals Helmut Markwort. Bei meinen Recherchen erwies sich der Bock allerdings als Gärtner. Aus der ‚Focus‘-Liste der hundert besten Ärzte war einer schon lange tot und ein anderer saß im Knast, weil er seine Patienten mit Überdosen von Medikamenten versehen hatte. Das ‚Focus‘-Interview, das Markwort mit Ernst Jünger geführt haben will, war schon zwei Jahre zuvor in der ‚Bunten‘ erschienen. Außerdem haben wir ein verfälschtes Mitterand-Interview aufgedeckt.“

Die „Saarbrücker Zeitung“ hatte das Interview unter der Überschrift „Heute wird offen gelogen“ veröffentlicht. Markwort wollte diese Formulierung sowie den Satz „Das ‚Focus‘-Interview, das Markwort mit Ernst Jünger geführt haben will, war schon zwei Jahre zuvor in der Bunten erschienen“ verbieten lassen. Er habe niemals behauptet, persönlich mit Jünger gesprochen zu haben.

Die Klage Markworts hatte für Aufsehen gesorgt, weil sie sich gegen die „Saarbrücker Zeitung“ richtete: Das Blatt habe sich die Aussagen Willemsens zu eigen gemacht. Die Hamburger Pressekammern gaben Markwort in den ersten beiden Instanzen Recht. Viele Kritiker fürchteten damals, dass das Urteil dazu führen könnte, dass Journalisten im Zweifel für jede Aussage eines Interviewpartners haftbar gemacht werden könnten.

Der BGH widersprach Markwort und den berüchtigten Hamburger Kammern nun gleich doppelt: Erstens habe die Zeitung sich Willemsens Aussagen nicht zu eigen gemacht und hafte nicht für sie. Und zweitens sei das, was Willemsen gesagt hat (Überraschung!): die Wahrheit.

Einige Auszüge aus der Begründung des BGH:

Durch die Veröffentlichung des Interviews ist die [„Saarbrücker Zeitung“] ersichtlich als bloße Vermittlerin der Äußerungen aufgetreten. Bereits aus der Form der Darstellung ergibt sich für den Leser, dass es sich um die Wiedergabe eines Interviews handelt. Darauf wird auch in der zweiten Überschrift des Artikels hingewiesen. Die Gliederung in Frage und Antwort unter Voranstellung des Namens und die danach folgende Wiedergabe der Antworten machen dies offenkundig. Der Fragesteller hat auch [Markwort] nicht von sich aus zum Thema des Interviews gemacht. (…) Die [„Saarbrücker Zeitung“] hat mithin die in den Antworten enthaltenen Aussagen nicht als eigene verbreitet. (…)

[Die Presse ist] zwar grundsätzlich in weiterem Umfang als Private gehalten, Nachrichten und Behauptungen vor ihrer Weitergabe auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Daraus folgt indes nicht, dass der Presse solche Sorgfaltspflichten uneingeschränkt abverlangt werden dürfen. Vielmehr sind die Fachgerichte gehalten, auch bei der Bemessung der Sorgfaltspflichten, die der Presse bei Verbreitung einer fremden Äußerung abzuverlangen sind, die Wahrheitspflicht nicht zu überspannen, um den von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG [„Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten“] geschützten freien Kommunikationsprozess nicht einzuschnüren. (…)

Die Aussage „Heute wird offen gelogen“ (…) bezieht sich nicht auf den Kläger persönlich, sondern auf Beiträge in dem in der Verantwortung des Klägers liegenden Magazins „Focus“. Mit der Äußerung zieht Roger Willemsen ein Resümee aus den von ihm im Interview geschilderten Missständen in der Medienwelt. So kritisiert er, dass einst fingierte Probleme von Talkshowgästen als „Sündenfall“ gegolten, dann aber die erfundenen Interviews des Journalisten Tom Kummer zu einer „Erosion“ geführt hätten. Die Sinndeutung, die Beklagte behaupte, [Markwort] oder alle im Interview erwähnten Personen würden „offen lügen“, liegt danach auch unter Berücksichtigung der Platzierung des Satzes als Überschrift des abgedruckten Artikels fern. (…)

Kern der Äußerung [Willemsens über das Ernst-Jünger-Interview] ist nicht der Vorwurf, es handle sich um ein vom Kläger frei erfundenes persönlich geführtes Interview, sondern, dass ein bereits zwei Jahre zuvor in der Zeitschrift „Bunte“ abgedrucktes Interview erneut als aktuelles eigenes Interview im Nachrichtenmagazin „Focus“ veröffentlicht worden sei. Diese Aussage erweist sich bei der gebotenen Textanalyse als wahr. (…) Roger Willemsen prangert in dem abgedruckten Interview Lügen der Medien an. Er weist darauf hin, dass der Kläger zwar als „Chefaufklärer“ gegen den Journalisten Tom Kummer aufgetreten sei, Beiträge in dem in der Verantwortung des Klägers liegenden Magazin „Focus“ aber ebenfalls Unwahrheiten enthalten hätten und nennt drei Beispiele dafür. Für diese Vorkommnisse war der Kläger als Chefredakteur des Magazins „Focus“ unabhängig von der umfassenden eigenen Kenntnis der Umstände persönlich verantwortlich. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist die Äußerung von Roger Willemsen, „Das ‚Focus‘-Interview, das Markwort mit Ernst Jünger geführt haben will, …“, nicht dahin zu verstehen, dass behauptet wird, der Kläger habe vorgegeben, selbst Ernst Jünger interviewt zu haben. Dadurch dass der Name des Klägers in diesem Zusammenhang fällt, soll vielmehr die Wirkung des übrigen Textes verstärkt werden, indem „Markwort“ als Synonym für das Magazin „Focus“ verwendet wird. (…) Mithin zielt die Äußerung nicht auf die journalistische Einzelleistung, also wer konkret das Jünger-Interview geführt hat, sondern auf die journalistische Gesamtverantwortung, die der Kläger als Chefredakteur für die jeweilige Ausgabe des „Focus“ innehatte. (…)

Auf Seiten der [„Saarbrücker Zeitung“] ist das Interesse der Öffentlichkeit an der Wahrheit und Seriosität von Veröffentlichungen in den Medien und der Aufdeckung von unwahrer Berichterstattung zu berücksichtigen. Zum meinungsbildenden Kommunikationsprozess zählt nicht nur die Veröffentlichung der eigenen Meinung, sondern auch die Information über fremde Äußerungen in der aktuellen Auseinandersetzung um eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Frage. Eine solche Information liegt hier vor. Die Äußerungen sind Teil der von Roger Willemsen in seinem Bühnenprogramm geübten allgemeinen Medienkritik. Wollte man Äußerungen der vorliegenden Art unterbinden, wäre jede öffentliche Diskussion über Themen, die die Allgemeinheit interessieren, in einer Weise erschwert, die mit dem Grundrecht der Meinungs- und Pressefreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG unvereinbar wäre.

Ist das ganz erstaunlich?

Ich meine nicht nur, dass der alte „Focus“-Mann, der nächste Woche in Berlin für sein „Lebenswerk“ den Ehrenpreis des „Medium Magazins“ bekommt, es nicht aushält, dass ein prominenter Kritiker immer wieder den Finger in alte Wunden legt (obwohl es längst neue gäbe!), und dass Markwort es in seiner Rachsucht sogar in Kauf nimmt, dass die Pressefreiheit Schaden nimmt.

Ich meine vor allem, dass man in Deutschland bis vor den Bundesgerichtshof ziehen muss, um von Selbstverständlichkeiten zu profitieren wie der, dass bei der rechtlichen Beurteilung einer Äußerung ihr Kontext zu berücksichtigen ist. Und auf Richter zu stoßen, die bei der Abwägung einen Gedanken daran verschwenden, dass es Folgen hat für die Demokratie eines Landes, für die Diskussionskultur, für den Journalismus, wenn jede kritische Meinungsäußerung, jeder Bericht über einen Misstand kaum zu erfüllenden Maßstäben genügen muss.

Wer es sich aber nicht leisten kann, einen teuren Rechtsstreit bis vor den Bundesgerichtshof durchzustehen, muss sich weiter mit den Urteilen der Hamburger Richter abfinden, deren Entscheidungen regelmäßig darauf hindeuten, dass sie die Meinungsfreiheit für eine größere Gefahr halten als ihren Verlust.

Schöne Blogs (5): Thomas Trappe

Die Häufung umgefallener Bücher in dem Offenen Bücherschrank auf dem Capitolvorplatz ist aufgeklärt. Es handelt sich nach Recherchen Dirk Haubolds – Leiter der für die zum Bücherregal umfunktionierten Telefonzelle zuständigen Kulturwerkstatt Art – um einen technischen Fehler. So wurde das Regalbrett auf der rechten Seite bei der Installation so ausgefräst, dass die Tür problemlos aufgeht. In dieser Ausfräsung allerdings hätten sich jetzt immer wieder Bücher verhakt, in der Folge seien reihenweise Bücher vom rechten Rand der Telefonzelle zu Boden gefallen. NPD-Stadtrat Jürgen Gansel, ebenfalls vom rechten Rand, sah in den Stürzen Vandalismus, was Anlass für Haubolds Recherchen wurde. Dirk Haubold will jetzt dafür sorgen, dass keine Bücher vom rechten Rand mehr zu Boden fallen. Er sucht deshalb einen Handwerker, der das Regalbrett ohne Entgelt reparieren würde. „Er sollte möglichst nicht zwei linke Hände haben“, so Haubold gegenüber der SZ. (tt)

Die Geschichte hinter dieser Meldung in der „Sächsischen Zeitung“ hat ihr Autor Thomas Trappe in seinem Blog erzählt. Dort schreibt er sehr lesbar (aber zu selten) über das Leben und die Arbeit als Lokaljournalist in Riesa. Es sind — nicht nur, aber auch — Geschichten für Leute, die etwas über Rechtsextremismus erfahren wollen, was sich nicht in eine Statistik pressen lässt.

Malen nach Zahlen

Man kann natürlich fragen, welches Interesse die „Bild“-Zeitung und ihr Chefkorrespondent Einar Koch daran haben, das Ausmaß rechtsextremistischer Gewalt in diesem Land kleinzureden. Ich vermute, es ist ein alter, aus ideologischeren Zeiten übrig gebliebener, rechter Reflex, der in doppelter Hinsicht gegen die Linke zielt: Man versucht ihren Generalverdacht, dass Deutschland immer noch und wieder voller Nazis sei, zu widerlegen. Und man behauptet, dass die Gewalt von links ohnehin das viel drängendere Problem ist. (Die mutmaßlich linken Brandstifter, die in Hamburg und Berlin seit Monaten Autos anzünden, nennt „Bild“ nicht zufällig „Terroristen“.)

Aber der Grund, warum ich mich über die Falschmeldung über den Rückgang rechter Gewalt besonders geärgert habe, hat weniger mit „Bild“ zu tun. Sondern mit allen anderen. In dieser Geschichte steckt fast das ganze Elend des Journalismus von heute.

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Die „Bild“-Zeitung möchte also gerne wissen, wie sich die Zahl der rechten Gewalttaten im vergangenen Jahr verändert hat. Sie möchte aber nicht abwarten, bis im Frühjahr die offiziellen Zahlen bekannt gegeben werden. Sie möchte nicht einmal abwarten, bis in einem Monat die vorläufigen Zahlen für das ganze Jahr vorliegen. Mit anderen Worten: Sie möchte gar nicht wissen, wie sich die Zahl der rechten Gewalttaten im vergangenen Jahr verändert hat. Sie möchte nur irgendwas als erster melden, was vielleicht stimmt und vielleicht nicht. Ich fürchte, damit ist sie nicht allein.

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Glaubt überhaupt irgendjemand, dass sich die Gefahr des Rechtsextremismus durch solche Statistiken messen lässt? Dass man zum Beispiel aufatmen könnte, wenn die Zahl der Gewalttaten tatsächlich um 8,5 Prozent zurückgegangen wäre? Wenn überhaupt, bräuchte man doch einen Kontext: Warum ist die Zahl zurückgegangen? Haben irgendwelche sozialen Angebote geholfen? Gab es massive Razzien? Haben die Neonazis ihr Vorgehen vom brutalen Einschüchtern aufs unauffällige Unterwandern verlagert? Oder was?

Der Zahlenfetisch der Massenmedien hat bizarre Ausmaße angenommen. Irgendwelche Prozentwerte, Statistiken und Hitparaden sagen zwar oft nichts aus, tun aber immer so, als ob. Sie wirken wie Fakten, lassen sich knackig auch in kürzesten Meldungen formulieren und ersetzen die ungleich mühsamere Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit in Form von Anschauung und Reflexion. Was will eigentlich Karl-Theodor zu Guttenberg, wofür steht er, welche Widersprüche tun sich auf? Egal, aber er ist in der Liste der beliebtesten Politiker von Platz 2 auf Platz 1 geklettert! Kein Mensch beschäftigt sich inhaltlich mit den Urteilen des Presserates, aber wenn bekannt wird, dass die Zahl der Beschwerden um 70 Prozent zugenommen hat, seit man sie einfach online einwerfen kann, schreiben das alle. Wie gut sind eigentlich die Kommentare in den „Tagesthemen“? Keine Ahnung, wer guckt das schon, aber der WDR liegt in der Kommentarhitparade an erster Stelle, und Siegmund Gottlieb BR hat zweimal häufiger kommentiert als Holger Ohmstedt vom NDR.

Und nur so kommt auch das Thema Rechtsradikalismus verlässlich in die Nachrichten: als Hitparade (die Neonazis sind zum zehnten Mal dabei, bitte nicht wiederwählen).

Wenn Journalisten Zahlen sehen, setzt bei ihnen der Verstand aus. Eine Kosmetikfirma, die sich auf natürlich-dezente Alternativen zum Make-up spezialisert hat, veröffentlicht eine angebliche „Studie“, wonach den meisten Männern dick aufgetragenes Make-Up bei ihren Partnerinnen (!) nicht gefällt. Die offenkundige PR-Geschichte geht in all ihrer Belanglosigkeit um die Welt und erscheint natürlich auch auf „Spiegel Online“ samt zehnteiliger Bildstrecke — unter der bizarr-abwegigen Überschrift „Die Lockstoff-Falle: Wenn Stars zu viel auflegen“. Und weil Autorin und Ressortleiterin Patricia Dreyer offenbar meint, dass andere Leute genau so auf den Statistik-Quatsch reinfallen müssten wie sie selbst, formuliert sie, dass die Umfrage „Katie Price und Kolleginnen zum Nachdenken anregen dürfte“. Genau. Katie Price, das Fotomodell und Gesamtkunstwerk, wird sich jetzt fragen, was sie falsch gemacht hat, all die Jahre, mit der ganzen Schminke und dem ganzen Erfolg.

Mein Lieblingsbeispiel ist natürlich von den Kollegen vom Braanchendienst „Meedia“, die es schafften, in einer Meldung über getötete Journalisten in der Welt gleich zwei Hitparaden unterzubringen: Die Länder- und die Jahres-Hitparade:

Von den weltweit 88 getöteten Journalisten starben allein bei dem Massaker auf den Philippinen Ende November 35. Durch dieses eine Ereignis steigt die südostasiatische Region zum gefährlichsten Land für die Berufsgruppe auf. Auf den weiteren Plätzen: Acht Journalisten wurden in Pakistan getötet, sieben in Mexiko und sechs in Somalia. In Russland verloren fünf Journalisten ihr Leben. Weitere europäische Länder sind in dem Bericht nicht aufgelistet.

Bereits jetzt liegt 2009 im Jahresvergleich an dritter Stelle seit Beginn der WAN-Berichte im Jahr 1998: nur 2007 mit 95 und 2006 mit 110 getöteten Medienvertretern waren noch blutiger.

Ist das nicht toll? Wenn es in diesem Jahr kein einzelnes vergleichbares blutiges Massaker auf den Philippinen gibt, wird „Meedia“ es als „Aufsteiger“ des Jahres in Sachen Journalistensicherheit feiern können. (Die Meldung ist übrigens vom 1. Dezember. Natürlich wollte keiner das Ende des Jahres abwarten.)

Aber zurück zu den rechten Gewalttaten und „Bild“: Das Blatt behauptete gestern auch, die Zahl „rechter Straftaten insgesamt (z. B. Volksverhetzung)“ sei „um 0,35 %“ gestiegen. Diese (vermutlich falsche) Aussage fanden die Agenturen AFP, AP, dpa so interessant, dass sie sie begierig in die Welt trugen. Schreiben wir einmal aus, was der Wert tatsächlich bedeutet: Derjenige Teil der rechten Straftaten zwischen Januar und November 2009, der bereits in einer vorläufigen Zählung erfasst wurde, liegt um ein winziges Fitzelchen höher, als derjenige Teil der rechten Straftaten zwischen Januar und November 2008, die damals schon erfasst wurden, sich im Nachhinein als viel zu niedrig herausgestellt hatte, wovon auch in diesem Jahr wieder auszugehen ist. Das ist eine Nachricht? Wirklich? Warum?

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Und dann ist da der Fluch der Vorabmeldung. Vermutlich gibt es bei Nachrichtenagenturen interne Regeln, wie eine Nachricht auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen ist, bevor man sie veröffentlicht. (Ich weiß, der Anschein spricht nicht dafür, aber es soll solche Regeln tatsächlich geben.) Jede Pflicht zur Überprüfung einer Information erlischt aber offenbar dann, wenn sie per Fax oder E-Mail am späten Abend eintrifft und von irgendeinem Medium kommt, das ankündigt, darüber am nächsten Tag zu berichten.

Ohne jede Kontrolle beeilten sich dpa, APD, Reuters, AFP, die Behauptung von „Bild“, die Zahl rechter Gewalttaten sei zurückgegangen, möglichst schnell und möglichst weiträuming in die Welt zu pusten. So wichtig wie es für „Bild“ war, die vermeintlichen Zahlen über das Jahr 2009 noch vor dem Vorliegen auch nur vorläufiger Zahlen für 2009 in zu veröffentlichen (egal ob sie stimmen oder nicht), so wichtig war es für die Nachrichtenagenturen, diese Informationen noch vor Tagesanbruch weiterzutragen. AP schaffte es 0.15 Uhr als erstes, AFP zog um 1.56 Uhr nach, dpa brauchte bis 2.31 Uhr und die Nachtschicht von Reuters konnte um 4.28 Uhr Vollzug melden.

Keine dieser Agenturen fand die Quelle „Bild“ zu halbseiden, keine erinnerte sich, dass der Autor der „Bild“-Meldung einschlägig bekannt ist und vor knapp vier Jahren schon einmal zum selben Thema eine Falschmeldung produziert hatte. Keine der Agenturen stutzte, dass die Behauptungen von „Bild“, die auf Zahlen des BKA beruhen sollen, den von ihnen allen damals vermeldeten Äußerungen von BKA-Chef Jörg Ziercke widersprachen, der vor drei Wochen erst gesagt hatte, er rechne für 2009 mit ähnlich vielen rechten Straf- und Gewalttaten wie im Vorjahr, und auch angesichts der besonderen Brutalität rechter Schläger davor warnte, an Aussteigerprogrammen zu sparen.

Wenn die Nachtschicht sich nur auch nur zwei Minuten genommen hätte, ins eigene Archiv zu gucken, hätten sie vielleicht auch entdeckt, dass die aktuelle Behauptung von „Bild“, linksradikale Gewalt habe in den ersten drei Quartalen um 49,4 Prozent zugenommen (nein, nicht um die Hälfte, um 49,4 Prozent!) keine Neuigkeit war. Die Zeitung hatte das schon am 16. Dezember behauptet. Das Bundesinnenministerium und das BKA hatten damals davor gewarnt, diesen Zahlen zu glauben, weil sie noch vorläufig und nicht verlässlich seien. Aber die Agenturen hatten sie natürlich trotzdem übernommen.

Das war schlimm genug. Aber nicht zu merken, dass diese Zahlen, die „Bild“ noch einmal veröffentlicht hat, weil sie so einen schönen Kontrast darstellen zur angeblich zurückgehenden Zahl rechter Gewaltdelikte, und sie als Neuigkeit zu behandeln, wie es dpa, AFP und APD getan haben, ist schlicht bekloppt. AFP packte die Scheinnachricht sogar in die Überschrift: „Zeitung: Weniger rechtsextreme Gewalttaten in Deutschland – Laut BKA aber Zunahme bei Linksextremisten“ (wohlgemerkt: jenes BKA, das sich schon von der ersten Veröffentlichung im Dezember distanziert hatte).

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Nächster Akt: Bei dpa bekommt jemand plötzlich einen Rechercheflash. Am Vormittag fragt er beim BKA nach den Zahlen, die „Bild“ unter Berufung auf das BKA nennt, und bekommt zur Antwort: Von uns ist das nicht. Nun könnte man denken, dass das ein guter Grund wäre, die halbgaren Daten aus einer Quelle von der bekannten Seriösität der „Bild“-Zeitung nicht zu verwenden. Falsch. Für dpa ist es ein Grund, die Daten noch einmal zu vermelden — nur halt mit dem Zusatz, dass das BKA sie nicht bestätigen möchte.

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An dieser Stelle muss man noch einmal darauf hinweisen, was passiert, wenn Nachrichtenagenturen Meldungen aus dubiosen Quellen wie „Bild“ übernehmen: Sie machen aus ihnen Meldungen aus seriöser Quelle. Der Presserat, das Selbstkontrollsimulationsgremium, hat erklärt, dass Journalisten sich blind auf die Meldungen von Nachrichtenagenturen verlassen dürfen. Ihnen ist kein Vorwurf zu machen, wenn sie das nicht mehr nachrecherchieren. Ist das nicht toll? Unsere Nachrichtenagenturen melden Dinge, die sie nicht nachprüfen, und andere dürfen sie dann unbesehen übernehmen, weil sie von Nachrichtenagenturen gemeldet werden.

Das passiert im Online-Journalismus natürlich inzwischen sogar weitgehend automatisch, weshalb die Quatschmeldung vom Rückgang der rechten Straftaten innerhalb kürzester Zeit von den Internet-Ablegern vermeintlich renommierter Medien wie der „Süddeutschen Zeitung“, dem „Stern“ und der „Deutschen Welle“ weiterverbreitet wurde.

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Als nächstes habe ich einen Fehler gemacht. Ich habe einem Kollegen bei dpa geschrieben, dass ich angesichts von deren Berichterstattung eine fiese Migräne bekommen habe (sinngemäß), was leider einen anderen dpa-Mann veranlasste, der Sache mit „Bild“ und dem BKA und den Zahlen noch einmal nachzugehen. Vom Bundesinnenministerium erfuhr die Agentur, dass die Zahlen nicht seriös seien, was sie in einer weiteren Meldung brav aufschrieb, bevor sie die unseriösen Zahlen zum inzwischen dritten Mal vermeldete. Vor allem aber hatte sie den Schwerpunkt ihrer, nun ja: Recherche fatalerweise auf nicht die fehlende Aussagekraft der „Bild“-Zahlen gelegt, sondern die Frage, woher die „Bild“-Zeitung schon den vorläufigen Wert für November kennt, obwohl der noch gar nicht veröffentlicht wurde.

Die dpa-Meldung trug den Titel „Wirbel um Zahlen zu rechtsextremen Gewalttaten“, was dem überaus ahnungslosen diensthabenden Nachrichten-Redakteur bei „Focus Online“ offenbar zu langweilig war. Er schmückte die ohnehin abwegige dpa-Geschichte noch weiter aus und verpackte sie so:

Wer hat geplaudert?

Eine Meldung über zurückgehende Zahlen bei rechtsextremer Gewalt hat für Wirbel gesorgt. Die Zahlen waren nicht amtlich, das BKA sucht nach der undichten Stelle. Eine angebliche Spur führt in den Bundestag.

Aus Zahlen ohne Aussagekraft (die aber ohnehin jeden Monat veröffentlicht werden) sind also nun Zahlen von höchster Brisanz geworden (die jemand lanciert hat, obwohl sie eigentlich geheim gehalten werden sollten).

Das ist nun die Art Meldung, auf die der hysterisch-paranoide Mob der Möchtegern-politisch-Inkorrekten gewartet hat. Diese Leute sind der Meinung, dass Ausländer und Moslems dieses Land in den Untergang führen, und dass ihnen dabei eine Verschwörung der Massenmedien und der herrschenden Klasse hilft, die Meldungen über Ausländerkriminalität unterdrücken und die Gefahr durch deutsche Neonazis übertreiben. Man findet diese Leute in besonders konzentrierter Form bei „Politically Incorrect“, einer riesigen Internet-Selbsthilfe- und Selbstbestätigungsgruppe für Menschen, die nicht verstehen, warum sie Rassisten sein sollen, obwohl sie doch nur was gegen Moslems und andere Ausländer haben, aber auch massenhaft in den Kommentarspalten vieler Medien.

Diese Leute verstehen die „Focus Online“-Meldung nun als Beweis für ihre Verschwörungstheorie. Jemand habe verbotenerweise ausgeplaudert, was eigentlich geheim bleiben sollte: dass das mit der Neonazi-Gewalt gar nicht (mehr) so schlimm ist (nachzulesen u.a. in den Kommentaren auf „Focus Online“, natürlich bei „Politically Incorrect“, mit Kommentaren wie: „Der Kampf gegen Rechts ist die SA der LinksgrünInnen“, aber auch in ähnlich schlimmer Form in der „Readers Edition“). Wenn irgendwann im Frühling die tatsächlichen Zahlen über rechte Gewalt veröffentlicht werden (von denen noch unbekannt ist, ob sie zugenommen oder abgenommen hat, deren Zahl aber auf jeden Fall drastisch über den von „Bild“ genannten liegen wird, weil das in der Natur der Sache der vorläufigen Zählung liegt), dann werden diese Leute auch das wieder als Bestätigung für ihre krude Weltsicht interpretieren: Man habe die Zeit genutzt, so lange die Zahlen zu manipulieren, bis das rauskam, was rauskommen sollte, nämlich dass Nazis immer noch ein großes Problem sind, obwohl doch in Wahrheit die Ausländer das Problem seien.

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Hinter der hier exemplarisch beschriebenen Form der flächendeckenden Desinformation steckt keine Panne. Sie hat System. Wenn „Bild“-Chefkorrespondent Einar Koch in seinem Wahn, die Zahl rechtsextremer Gewalt kleinschreiben zu wollen (oder auch nur derjenige zu sein, den alle mit der Exklusiv-News über die Zahl rechtsextremer Gewalt zu zitieren) nächsten Monat oder nächstes Jahr wieder denselben Unsinn veröffentlicht, wird wieder genau dasselbe passieren.

Kurz verlinkt (46)

In der ersten Ausgabe des Stern hat Chefredakteur Thomas Osterkorn sein „Unwort des Jahres“ bekannt gegeben: „sparen“. „Wenn Manager vom Sparen reden“, schreibt Osterkorn, „dann meinen sie meistens: die Kosten für Mensch und Material brutal zu senken, um trotz der Krise die Rendite möglichst hoch zu halten.“ Genau so hatte ich es verstanden, als der Stern letztes Jahr dem Großteil seiner Pauschalisten kündigte oder die Redakteure die Order erhielten, keine Freien mehr zu beschäftigen, um als monetäre Melkkuh auch weiterhin ein paar hundert Millionen an Bertelsmann abführen zu können. Aber getäuscht? Das waren gar keine Sparmaßnahmen? Das waren … ähm … ja … also … Oder ist Osterkorn unter die Aufmucker gegangen? Nein, lässt er auf Nachfrage verlauten, „das ist keine versteckte Kritik an Gruner + Jahr“. Das ist Kritik am Umgang mit dem Wort „sparen“.

Silke Burmester in ihrer Medienfront-Kolumne in der „taz“ (in der es nebenbei auch um Konstantin Neven DuMont geht).

Super-Symbolfotos (77)

Heute spielen wir wieder Symbolfotobingo.

FRECHEN – War es Nächstenliebe, Übermut oder einfach nur Dummheit?

Ein Frechener (23) hat in der Nacht zum Sonntag bei der Polizei die Schuld eines Unfalls mit geschätzten 27.000 Euro Sachschaden auf sich genommen – obwohl er gar nichts mit der Sache zu tun hatte. (…)

Und warum das alles? Gegenüber der Polizei gab der falsche Crash-Pilot an, Mitleid mit Unfallverursacher gehabt zu haben…

Und jetzt die Frage: Mit welchem Tier hat der Kölner „Express“ online diese Geschichte illustriert?

(Frettchen ist falsch.)

[entdeckt von Oli Schaefer]

Ein Sandkasten für Konstantin Neven DuMont

Konstantin Neven DuMont hat die Feiertage in diesem Blog verbracht.

Heiligabend übermittelte er seinen Wunschzettel und verteidigte die schmerzhaften Einschnitte, zu denen Verlage wegen der Digitalisierung gezwungen seien; am ersten Weihnachtstag plädierte er für eine strikte Trennung zwischen Artikeln und Kommentaren und eine viel größere Meinungspluralität in den reichweitenstarken Medien, und wehrte sich gegen den Vorwurf der Scheinheiligkeit; am 28. Dezember verzettelte er sich in eine Diskussion mit einem anderen Kommentator, dem er „unbeholfene Kläffereien“ und „skurrile Thesen“ vorwarf, bekannte sich zu seiner Liebe zu Hamburg und übte ein wenig Kritik an einem Artikel aus der „Hamburger Morgenpost“, wies mich auf ein fehlendes Wort in meinem Blogeintrag hin, erzählte, dass er gerne eine Reality-Doku mit mir produzieren würde, gähnte, fühlte sich belästigt und setzte sich für höhere Polizistengehälter ein; am 29. Dezember wies er auf ein Interview mit ihm im Deutschlandfunk hin, fragte, ob die sogenannten Partikularinteressen womöglich zunehmen und wies noch einmal auf ein Interview mit ihm im Deutschlandfunk hin, wünschte einem Kommentator alles Gute, wünschte einem anderen Kommentator alles Gute, verabschiedete sich aus der Diskussion, bekundete die Absicht einer Zusammenarbeit mit mir und versuchte, seinen Urlaub im Bergischen Land zu genießen; am 30. Dezember kündigte er an, 2010 ein eigenes Videoblog zu eröffnen, in dem er politische Lieder und gelegentlich Liebeslieder singt, beschwerte sich über anonyme Kommentare, die irgendwelche Gerüchte in die Welt setzen, freute sich über die Existenz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und einiger Blogger, regte einen kleinen Wettbewerb in Sachen intellektueller Intelligenz an, prahlte mit seinen erwiesenen spitzenmäßigen Managementfähigkeiten, bestritt, dass das alles nur ein Spaß sei und kündigte ein Treffen mit Sascha Lobo an; an Silvester veröffentlichte er vor der Vorbereitung der Silvesterparty seine Agenda für 2010 und bemängelte die „persönlichen Beleidigungen“ durch einen Kommentator; an Neujahr forderte er, dass private Besitzer von Wettbewerb tangierenden Versorgungslinien nicht gleichzeitig die Inhalte darauf bespielen dürfen sollen; gestern erklärte er, dass das kein medientheoretisches Essay war und es ein Fehler von ihm gewesen sei zu glauben, dass man in diesem Blog sachlich diskutieren könne, und heute Mittag wies er darauf hin, bereits mehrere Aktionen zur Förderung der Demokratie angestoßen zu haben.

Nun ist das grundsätzlich natürlich eine feine Sache. Also, nicht nur, dass jemand die Kommentarspalten dieses Blogs so anregend und heimelig findet. Sondern vor allem, dass sich einer der wichtigsten Medienmanager dieses Landes (er sitzt in Leitungspositionen bei „Berliner Zeitung“, „Frankfurter Rundschau“, „Berliner Kurier“, „Hamburger Morgenpost“ und „Mitteldeutscher Zeitung“, und als Sohn von Alfred Neven DuMont wird ihm eines Tages Köln gehören) mit solcher Begeisterung mitten in das Getümmel des sogenannten Web 2.0 stürzt.

Praktisch ist Neven DuMonts Beigesterung dann aber doch ein bisschen beunruhigend. Als Ende November jemand begann, unter seinem Namen hier Kommentare abzugeben, war ich zunächst nicht sicher, ob es sich um den echten Verleger handelte. Dann war ich sicher, dass es sich nicht um den echten Verleger handeln könne: Zu sehr lasen sich seine Beiträge wie eine Parodie auf das Kommunikationsverhalten von jemandem, der es gewohnt ist, dass alles, was er sagt, als wichtiger Debattenbeitrag (miss)verstanden wird, und in dessen Weltsicht die Welt vor allem damit beschäftigt ist, auf seine Einschätzungen zu denen brennenden Fragen unserer Zeit zu warten.

Konstantin Neven DuMont ist im vergangenen Jahr 40 geworden. Zu seiner Geburtstagsfeier kamen der Außenminister, der Oberbürgermeister, der IHK-Präsident, der Präsident des 1. FC Köln, Christoph Daum, Tom Gerhardt, Reiner Calmund und sogar ein Cousin Neven DuMonts aus New York Mallorca. In einer Ansprache warnte das Geburtstagskind davor, dass Journalisten, die nicht aus Köln kommen, nur darauf warten, dass „wir“, also die Kölner, Fehler machen. Gerade Journalisten aus einer Stadt wie Berlin seien zum Teil neidisch auf „unsere“, also die Kölner, Wirtschaftskraft. Er wies darauf hin, dass kaum jemand darauf hingewiesen habe, dass die „New York Times“ Köln zu den 30 besuchenswertesten Städten gewählt habe. Er forderte, das Wort „Hartz IV“ jetzt endlich mal zu ändern, „aber im Ernst“. Er bat den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers, auch „stärker in die Offensive zu gehen“, was die Öffentlichkeitsarbeit von Köln angeht. Er fragte, warum nicht häufiger in der Zeitung steht, dass zwei Prozent der Menschen auf der Welt 50 Prozent des Reichtums besäßen. Er forderte die Gäste auf, als Geburtstagsgeschenk für ihn mehr Geld für die armen Kinder zu spenden. Und fragte den anwesenden Sparkassenchef, warum das eigentlich immer so lange dauert, bis das Geld von Banküberweisungen auf dem eigenen Konto eingetroffen ist.

Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ veröffentlichte ein Video des unsortierten Monologs unter der Überschrift „Unternehmerische Verantwortung“ und schrieb darunter den erstaunlichen Satz:

Anlässlich einer Feier zu seinem 40. Geburtstag hielt Konstantin Neven DuMont eine viel beachtete Rede.

(Das ist ein Grund, warum mir Familienmedienbetriebe Angst machen.)

Jedenfalls fand der Mann, der sich „Konstantin Neven DuMont“ nannte, dass die Rede noch nicht genug beachtet war und postete hier fleißig Links zu diesem Video und anderen ähnlich wichtigen Wortmeldungen des Verlegersohns in diversen Medien. Ungefähr, als er ankündigte, demnächst ein Musikvideo seiner Band hier einzustellen („Singen ist nämlich meine Leidenschaft“), beschloss ich, dass es sich um ein Fake handeln müsse — auch die E-Mail- und IP-Adresse deuteten nicht darauf hin, dass es sich um den „echten“ Neven DuMont handelte. Ich löschte daraufhin einige seiner Kommentare und ließ neue nicht mehr automatisch erscheinen.

Dann bekam ich erst eine Facebook-Nachricht von ihm mit dem Betreff „Zensur auf Ihrer Seite!“ Und dann eine E-Mail seiner Sekretärin, die um Rückruf bat. Es stellte sich heraus, dass es sich sehr wohl um den „echten“ Konstantin Neven DuMont handelte, der erfragen ließ, warum seine Beiträge nicht mehr freigeschaltet werden. Es erforderte dann noch mehrere weitere Telefonate mit der Sekretärin, bis wir zur Zufriedenheit ihres Chefs klären konnten: dass seine Kommentare nun wieder sofort erscheinen würden; dass der eine, der dann noch nicht sofort erscheinen war, nur deshalb nicht sofort erschienen war, weil er zu viele Links enthielt; dass ich ihn aber sofort aus der Moderationsschleife befreien würde; dass er leider die bereits gelöschten Kommentare noch einmal würde eingeben müssen etc.

Seitdem also lebt Konstantin Neven DuMont in den Kommentarspalten dieses Blogs, erzählt, dass sein Lieblingsgetränk „gefiltertes Brunnenwasser“ ist, schlägt vor, dass er und ich und Kai Diekmann uns treffen sollten, um „der Bloggemeinde gemeinsam die Zusammenhänge [zu] erklären“, proklamiert investigativen Journalismus als Zukunftsstrategie, und versucht weitgehend vergeblich, ernsthafte Diskussionen über irgendwas anzustoßen. Zwischendurch fetzt er sich mit einer Ausdauer, von der ich noch nicht weiß, ob ich sie bewundernswert finden soll, mit mehreren Kommentatoren, die ihn mit großer Aggressivität und teils wilden Vorwürfen angreifen, was die Diskussion über andere Themen (zum Beispiel die der jeweiligen Blog-Einträge) ein bisschen erschwert.

Ich würde Herrn Neven DuMont daher, wie versprochen, als nicht ganz uneigennütziges Geschenk den Platz unter diesem Eintrag zur Verfügung stellen: für Links in eigener Sache, Vorschläge zur Rettung der Medienwelt, biographische Notizen, was auch immer. Und zur Auseinandersetzung mit seinen Kritikern natürlich, die ich um ein bisschen Gelassenheit und Anstand bitten möchte.

Keine Sorge: Die Kommentarspalte ist nach unten offen.

Michael Wendler


Foto: Sat.1

Für Adeline, die siebenjährige Tochter des Schlagersängers Michael Wendler, ist so eine Doku-Soap über ihre Familie eine feine Sache. Sie wird sich in zwanzig Jahren viele Analysestunden sparen können, indem sie ihrem Therapeuten einfach die Videos zeigt. Die Szene zum Beispiel, in der sie in der eher zum Putzen als zum Kochen genutzten Küche einen Becher Kakao verschüttet, und ihre Mutter reagiert, als seien dem Kind auf dem Weg zur Schule drei Uranbrennstäbe aus dem Tornister gefallen. Dann kommt die Großmutter hinzu, markiert mit spitzen Fingern alle drei kleinen Kakao-Pfützen und ruft eine ganze „Wie konnte DAS denn passieren?“-Frage der Mutter lang „Iiiieh“. Dass die Mutter sogar noch ein zweites Küchentuch zum Wegwischen braucht, veranlasst Oma zu der Bemerkung, dass sie, solange sie ein Kind habe, nie zur Ruhe kommen werde. Adeline stellt nun die durchaus angemessen erscheinende Frage, warum ihre Mama sie überhaupt zur Welt gebracht habe, wenn sie sie gar nicht wolle, und Oma gibt sich ein bisschen zu viel Mühe, ihr beim Über-die-Haare-Streicheln zu erklären, sie sei doch ein „Wunschkind“ gewesen.

Das ist das Aufregendste, das in den ersten 45 Minuten der sechsteiligen Serie „Der Wendler-Clan“ passiert, die Sat.1 ab heute sonntags um 19 Uhr zeigt. Das Zweitaufregendste ist, wie sich Wendler darüber ärgert, dass ein Kollege ihn auf offener Bühne in Bottrop gefragt hat, ob er mit dem Hubschrauber, dem Lamborghini oder dem 600er Mercedes angereist sei – aus bloßem Neid, wie Wendler meint. (Könnte natürlich auch etwas damit zu tun haben, dass das eine, das Wendler noch mehr mag als den Disco-Fox und sich selbst, das Rumprotzen mit Reichtümern ist. In Oberlohberg, dem unsympathischen Teil Dinslakens, steht ein Baustellenschild: „Hier baut Michael Wendler, der König des Popschlagers, sein Märchenschloss.“)

Er ist ein Phänomen, vor allem in seiner ungebrochenen Begeisterung für sich selbst, die gleichzeitig so befremdlich und beneidenswert ist, dass man sie ihm nicht einmal richtig übel nehmen kann (solange er nicht singt). Als niedliche Figur aus einem Gruselkabinett hat er dem Fernsehen sogar schon unerwartete (und teils unfreiwillige) Glanzminuten beschert, im „perfekten Promi-Dinner“ etwa und bei Ina Müller. Aber von dieser biederen und sehr gespielt wirkenden Doku-Soap bleibt bestenfalls eine Redensart: In Dinslaken ist ein Becher Kakao umgefallen.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Und jährlich grüßt das Murmeltier

Dann war da noch Wolfgang Röhl, der beim „Stern“ für das lautstarke Einrennen offener Türen zuständig ist. Auf stern.de ärgert er sich wieder einmal darüber, dass ARD und ZDF dauernd nur alte Filme wiederholen. Sein Artikel wiederholt (was ungewollt selbstironisch wirkt) sämtliche schon unendlich oft wiederholten Klischees über die öffentlich-rechtlichen Anstalten, die mit den Milliarden aus dem „Zwangsgebührenpool“ lieber Mitarbeiter und teure Dienstwagen bezahlen als „Inhalte“. Röhl recycelt auch fröhlich Versatzstücke eines eigenen „Stern“-Artikels aus dem Jahr 2001, inklusive des lustigen Wortes „Couch-Kartoffel“, der damals mit den Sätzen begann:

Es lebe die Grundversorgung. Das Erste bombardierte uns im Drei-Nullen-Jahr mit einem Teppich aus vergilbten Tatorten, darunter die schätzungsweise 45. Wiederholung der „Reifeprüfung“. Ansonsten wurde vom ersten Bond bis zum letzten Bronson alles recycelt, was nach der zigsten Abspielung gar nicht erst wieder ins Archiv geschafft worden war.

Aber die Klage über die endlosen Wiederholungen lässt sich natürlich endlos wiederholen, es ist ein Text, den ein recherche- und gedankenscheuer Journalist in nullkommanix produzieren kann und dafür jedesmal wieder Beifall bekommen wird.

Es war nur keine gute Idee, dass Röhl es diesmal nicht bei vagen Mutmaßungen beließ („schätzungsweise 45. Wiederholung“), sondern seinem Text eine lange Liste von konkreten Beispielen für Filmwiederholungen bei ARD und ZDF beifügte:

Die Hitliste des Grauens

Unter den kinematografischen Reservisten, die das öffentlich-rechtliche Bezahlfernsehen immer gern an die Unterhaltungsfront schickt – oft mehrmals im Jahr – besuchen uns besonders diese alten Bekannten alle naselang:

Ich habe mir mal ein paar dieser, höhö, „kinematografischen Reservisten“ rausgepickt, die ARD und ZDF angeblich dauernd zeigen.

  • „Die Vögel“
    läuft seit 2004 jährlich auf Vox, zuletzt an Heiligabend.

  • „Für eine Handvoll Dollar“
    lief 2007, 2005, 2003, 2002, 2001 auf Kabel 1; 1999, 1998 auf Pro Sieben; 1997, 1996 auf Kabel 1; 1995, 1994 auf Pro Sieben; 1993, 1991 auf Sat.1.
  • „Für ein paar Dollar mehr“
    lief 2007, 2005, 2003, 2002, 2001 auf Kabel 1; 1999, 1998 auf Pro Sieben; 1997, 1996 auf Kabel 1; 1995, 1994 auf Pro Sieben; 1993, 1992 auf Sat.1
  • „Hatari“
    lief 2009 auf Das Vierte; 2007, 2006, 2004, 2003, 2002 auf Kabel 1; 2001, 2000 auf Sat.1; 1999 auf Kabel 1; 1997 auf Pro Sieben; 1997, 1996 auf Kabel 1; 1995 auf Pro Sieben; 1994, 1992, 1989 auf Sat.1.

  • „Der Flug des Phoenix“
    lief 2009 zweimal auf Das Vierte; 2008 auf arte; 2006, 2005, 2003 auf Kabel 1; 1998 im ZDF.

  • „Papillon“
    lief tatsächlich in diesem Jahr dreimal (!) auf arte; aber davor: 2008 (zweimal), 2007, 2004, 2003, 2001 auf Kabel 1; 2001 auf Sat.1; 2000 auf Kabel 1, 1999, 1998, 1996, 1995 auf Pro Sieben; 1994, 1992 auf Sat.1.

  • „Die toten Augen von London“
    lief 2008 auf Das Vierte; 2007, 2006, 2002, 2001, 2000, 1998, 1996, 1995, 1994 auf Kabel 1.

  • „Der längste Tag“
    lief 2009 auf Das Vierte; 2009, 2008, 2005, 2004, 2003, 2002, 2001 auf Kabel 1; 1999 im ZDF.

  • „Der Marathon-Mann“
    lief 2008 auf Kabel 1; 2007 auf Sat.1, 2006, 2004, 2002, 2001, 2000, 1999 auf Kabel 1; 1997, 1995 auf Sat.1; 1994 auf Kabel 1; 1993, 1992, 1991 auf Pro Sieben; zuletzt 1989 in der ARD.

  • „Der Klient“
    lief 2009 auf Vox; 2007 mehrmals auf Tele 5; 2006 auf Kabel 1; 2005 auf Pro Sieben; 2004 auf Sat.1; 2004 auf Kabel 1; 2003, 2002, 2001, 2000, 1999, 1998 auf Pro Sieben.

usw. usf.

Ich habe mir nicht jeden Punkt angesehen, aber es ist eine wilde Liste mit einigen richtigen und vielen falschen Beispielen — teilweise erinnert sich Röhl nicht einmal richtig an die Titel der angeblich dauernd laufenden Filme. Sogar, dass das HR-Fernsehen gerade eine Serienrarität wie „Privatdetektiv Frank Kross“ von 1971 ausgegraben und nach Jahrzehnten erstmals wieder ausgestrahlt hat, rührt er in seine besinnungslose Klage über die öffentlich-rechtliche Dauerwiederholerei.

Er irrt auch, wenn er behauptet, dass „kaum ein Streifen – abgesehen vom ‚Tatort‘-Klassiker ‚Reifezeugnis‘ mit Nastassja Kinski – im deutschen Fernsehen so oft abgenudelt“ wurde wie „Telefon“ mit Charles Bronson: Die Ausstrahlung von „Telefon“ im Oktober im ZDF wurde von Fans sehnsüchtig erwartet, weil der Film [Nachtrag: abgesehen von einem Wiederholungsrausch auf Tele 5 zwischen 2006 und 2008] vergleichsweise selten läuft (und schon länger nicht im öffentlich-rechtlichen Fernsehen). Und der Ausstrahlung von „Reifezeugnis“ ging eine immerhin vierjährige Sendepause voraus, was einem jetzt auch nicht lang vorkommen muss, aber doch länger als die vollmundige Behauptung, diese Schinken liefen „oft mehrmals im Jahr“.

Röhls Wiederholungstext ist das beste Beispiel für gefühlte Recherche: Er meint zu wissen, was alles dauernd bei ARD und ZDF läuft. Warum sollte er sein Gefühl irgendwo mal überprüfen? Warum sollten seine Beispiele stimmen müssen, wenn er doch weiß, dass seine These stimmt?

Röhl ist übrigens ständiger Gastautor der „Achse des Guten“. Da passt er hin.