Die Geschichte von dem australischen Forscher, der fordert, dass der Weihnachtsmann endlich abnimmt, ist eine dieser Geschichten, die für Medien unwiderstehlich sind. Der australische Epidemologe Nathan Grills soll in der britischen Ärztezeitschrift „British Medical Journal“ einen Artikel veröffentlicht haben, der vor den Gefahren warnt, dass Kinder sich den Geschenkelieferanten und seinen Lebensstil (Rauchen, Saufen, Rasen ohne Helm) als Vorbild nehmen. Grills habe sogar einen Zusammenhang zwischen Ländern, in denen der Weihnachtsmann verehrt wird, und dem Anteil fettleibiger Kinder gefunden, hieß es.
Grills Artikel wurde gerade rechtzeitig zur Vorweihnachtszeit veröffentlicht, und er hat weltweite Beachtung gefunden. In Deutschland verbreiteten die Nachrichtenagenturen dpa und AFP die Meldung. „Berliner Morgenpost“ und „Die Welt“ meldeten: „Wissenschaftler kritisiert Weihnachtsmann“. Der „Tagesspiegel“ empörte sich:
Ein australischer Forscher hat den Weihnachtsstress auf seine Weise umgesetzt. Er verunglimpfte den Weihnachtsmann unter dem Vorwand wissenschaftlicher Erkenntnisse in dem angesehenen „British Medical Journal“.
Der „Berliner Kurier“ räumte der „Weihnachtsmann-Debatte“ breiten Raum ein („Mediziner schlagen ernsthaft Alarm“) und schrieb:
Ganz klar, der Typ ist eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit, zumindest aber für die Volksgesundheit. So sehen es einige Mediziner, und deshalb soll sich der Weihnachtsmann, denn von ihm ist hier die Rede, einer rigorosen Verhaltenstherapie unterziehen.
Glauben Sie nicht? Das hoch seriöse „British Medical Journal“ schreibt genau das in seiner neuesten Ausgabe.
Der Online-Ableger des sich bestimmt auch für hoch seriös haltenden deutschen „Ärzteblattes“ berichtete ebenso wie tagesschau.de, n-tv.de und die „Pharmazeutische Zeitung“.
Im „Focus“ formulierte Wissenschaftsredakteur Werner Siefer eine Meldung, die mit den Sätzen beginnt:
Der Weihnachtsmann solle abnehmen und das Rauchen aufhören. Diese durchaus ernst gemeinte Forderung stellt der australische Arzt Nathan Grills von der Monash University.
Und Werner Bartens, Leitender Redakteur im Wissenschaftsressort der „Süddeutschen Zeitung“, widmete dem Thema die Heiligabend-Ausgabe seiner Kolumne „Wissenschaft & Wahnsinn“ — was in diesem Fall leider nur zur Hälfte ein treffender Titel war, denn Grills hat seine Forderung durchaus unernst gemeint, und diese Geschichte ist wieder eine von Journalismus & Wahnsinn.
Denn die Studie und die Forderungen von Dr. Grills: Sie sind ein Witz. Satire. Eine Parodie auf die Papiere, die in solchen Zeitschriften veröffentlicht werden. Gedruckt in einem humorvoll gemeinten Weihnachts-Sonderteil des „British Medical Journal“, illustriert übrigens mit dieser Abbildung — der Zeichner ist, was ein deutliches Signal von vielen ist, die Abhandlung nicht ernst zu nehmen, als Co-Autor des wissenschaftlichen Papiers genannt.
Man muss den Menschen vermutlich verbieten, solche Dinge zu veröffentlichen. Denn Journalisten glauben alles, recherchieren nichts, fallen auf jeden Witz herein, tragen ihn um die Welt und werden die Sache nie wieder korrigieren. Oder jedenfalls: Es werden sich immer Journalisten (und Nachrichtenagenturen und Medien) finden, auf die all das zutrifft.
Und es ist nicht so, dass Grills versucht hätte, irgendjemanden zu täuschen. Man musste ihn nur kontaktieren, um das Offenkundige bestätigt zu bekommen: Es war alles ein Witz.
Dabei fällt mir ein, dass „SZ“-Autor Johannes Boie sich in einem Blogeintrag vor ein paar Wochen öffentlich darüber geärgert hat, dass Hinz & Kunz nun glauben, sich als große Medienkritiker aufspielen zu können, wenn sie nur mit einer blöden Täuschungsaktion Journalisten erfolgreich in die Irre geführt haben. Er hat ja nicht ganz unrecht, wenn er sich über die Vielzahl der bewussten Falschinformationen beklagt und die darauf folgende Empörung über die Dämlichkeit der Medien gelegentlich wohlfeil findet. Andererseits sind es halt nicht nur irgendwelche Menschen mit Langeweile, Blog und Geltungsdrang, die versuchen, Journalisten in die Irre zu führen. Es sind Geschäftsleute, die ihre Umsätze schönen. Politiker, die nicht vorhandene Erfolge verkaufen. PR-Leute, die eine Werbebotschaft in die Welt bringen wollen. Geheimdienste, die mit komplexen Lügen an der Legitimation von Kriegen arbeiten. Das ist Alltag journalistischer Arbeit, kein durch böswillige Saboteure herbeigeführter Sonderfall.
Es ist die ureigene Aufgabe von Journalisten, Behauptungen zu überprüfen und auf irgendwelche Lügen und Täuschungsversuche nicht hereinzufallen. (Dass das nicht immer gelingt, ist unvermeidlich. Aber ein Journalist, der Ende 2009 immer noch falschen Twitter-Accounts vertraut, hat den falschen Beruf erwischt.)
Nach dem Bluewater-Debakel gab sich die Nachrichtenagentur dpa zerknirscht und formulierte sechs „Lehren“, wie mit exklusiven Informationen und zweifelhaften Quellen zu verfahren sei. Nur drei Monate später fiel sie auf eine schlichte E-Mail herein, die behauptete, von der Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ zu kommen, dem Bundespräsidenten ein falsches Zitat unterschob und den ebenso guten wie unglaubwürdigen Vorschlag machte, in den Stiftungsrat auch Persönlichkeiten mit Flüchtlingserfahrungen aus aktueller Zeit aufzunehmen. Danach gab es interessanterweise keine Entschuldigung von dpa bei den Kunden oder Lesern, keine Zerknirschtheit, nur ein trotziges: „Dass es sich bei der Mitteilung und der dazugehörigen Internetseite um eine Fälschung handelte, war zunächst nicht erkennbar.“
Oh, Verzeihung, ich bin weit weggekommen von dem Weihnachtsmann-Märchen. Die Geschichte hat noch ein ganz anderes Problem: Sie wäre auch Quatsch, wenn sie kein Quatsch wäre. Warum hat eine Meldung, dass irgendein Forscher am anderen Ende der Welt meint, dass der Weihnachtsmann ein Gesundheitsrisiko darstellt, einen so hohen Nachrichtenwert, dass sie es weltweit in die Medien schafft? Je abwegiger die Forderung ist, die irgendjemand aufstellt, um so größer die Chance, dass sie weite Verbreitung findet.
Der Wissenschaftler Grills untersucht sonst übrigens, wie sich HIV auf dem Land in Indien ausbreitet und wie Wohltätigkeits-Organisationen am besten den Opfern helfen können. Damit hat er aber natürlich nie soviel Aufmerksamkeit bekommen.
[via Stinky Journalism]