Autor: Stefan Niggemeier

Wo bei 3sat der Spaß aufhört

In der aktuellen Folge ihres wöchentlichen Witz- und Schimpf-Duells setzen sich die Herren Sixtus und Lobo mit den (gefühlten) Wahlprogrammen der Parteien auseinander, darunter dem der CSU. Ins Fernsehprogramm von 3sat, das die Reihe in seiner Computersendung „Neues“ zeigt, schaffte es dieser Teil nur nach einem winzigen Schnitt:

[Offenlegung: Ich betreibe mit Sascha Lobo und Mario Sixtus ein Aufmerksamkeits- und Meinungskartell im Internet.]

Schlag den Raab: Wie man eine halbe Million er- und alle Sympathien verspielt

Selten hat das Publikum einem Kandidaten seinen Gewinn so sehr missgönnt wie diesem. Hans-Martin Schulze, ein 24-jähriger Pharmazie-Praktikant aus Oldenburg, ist seit dieser Nacht um eine halbe Million Euro reicher. Er musste dafür nicht nur den Raab, sondern auch das Publikum schlagen. Am Ende, als er mit verzerrtem Gesicht und einem Triumphschrei den Geldkoffer in die Höhe streckte, buhten sie ihn hemmungslos aus.

Das ist nicht die übliche Rollenverteilung bei „Schlag den Raab“, und es war nicht so, dass dieser Hans-Martin in irgendeiner Weise gefoult hätte. Er hat nur alles getan, um die Sympathien zu verspielen.

Es begann schon, als er und eine Kandidatin auf das Ergebnis warteten, wer von ihnen beiden die meisten Zuschauerstimmen erhalten hatten und überhaupt gegen Raab um die 500.000 Euro spielen durfte. Das ist so ein Moment, in dem man schon einmal angespannt sein darf, aber die Art, wie Hans-Martin sich verkrampfte und wirkte, als wollte er mit seinem ganzen Körper seine Teilnahme erpressen, wirkte merkwürdig abstoßend und brachte den Moderator Matthias Opdenhövel zum ersten höhnischen Witz, fürs Beten sei es nun zu spät.

Der psychologisch vermutlich entscheidende Moment war aber ein anderer: Als er beim Diskuswerfen gegen einen sich ziemlich ungeschickt anstellenden Raab weit vorne lag, bot er gönnerhaft-ironisch an, die letzten Würfe gar nicht mehr zu machen. Das ist schon grundsätzlich keine so gute Idee, aber bei einem Gegner wie Raab erst recht nicht, bei dem genau eine solche Situation die Ausschüttung irgendeines Ehrgeiz-Hormones auslöst, das ihn dann im letzten Wurf das Spiel doch noch unerwartet gewinnen lässt. Und der, noch wichtiger, damit sofort alle Sympathien des Publikums auf seiner Seite hat (das es ihm in anderen Fällen, bei anderen Gegnern, auch gerne gönnt, wenn seine Verbissenheit keine Früchte trägt). Aber spätestens von diesem Moment beim Diskuswurf im Stadion an war das Saalpublikum fast geschlossen auf Seiten Raabs und machte keinen Hehl daraus.

Man weiß ja nicht, was man selbst für eine Figur abgeben würde unter den Bedingungen einer solchen Show, aber man kann zukünftigen Kandidaten den Auftritt von Hans-Martin als reichhaltiges Anschauungsmaterial geben für all das, was sie vermeiden sollten. Er freute sich immer viel zu sehr und oft zu früh über die Fehler seines Gegners, duschte sich in Schadenfreude. Als läppisch verlachte er die Frage, ob es stimmt, dass die Insel Lummerland drei Berge hat. „Klar, das Lied: ‚Eine Insel mit drei Bergen'“, eine Kindergartenaufgabe. Blöd nur, dass das Lied geht: „Eine Insel mit zwei Bergen…“ Seine aggressiven Siegesgesten kamen so wenig an wie sein beunruhigender Hang, sich im Selbstgespräch anzufeuern: „Komm schon“ / „Du schaffst das“ / „Geht doch“.

Er hatte sie bald alle gegen sich: das Publikum, die Moderatoren, den Kommentator. Auch Raab selbst sagte einmal bösartig (und für Hans-Martin vermutlich unerklärlich), er verliere ja immer ungern, in diesem Fall aber besonders. Es tat der Spannung der Sendung keinen Abbruch, gegen den Kandidaten zu fiebern statt mit ihm, aber je deutlicher und einmütiger die Ablehung wurde, desto grausamer wurde die Situation. Opdenhövel sagte zu einer Begleiterin Hans-Martins, dass es ja besser sei, viel Geld zu gewinnen als viele Freunde, und als sie freundlich in die Falle tappte und widersprach, viele Freunde seien ja auch ganz schön, forderte er das Publikum auf, per Applaus zu demonstrieren, für wen sie sind. Sie waren für Raab.

Auf dem Kurznachrichtendienst Twitter formierte sich unterdessen eine wachsende Horde von Leuten, die sich in immer gröberem Spott über den jungen Mann überboten, für den sie früh und konsequent den Spitz- und Erkennungsnamen #hassmartin erfunden hatten. (Unklar blieb dabei allerdings, welchen Grund nun ausgerechnet diese Leute haben sollten, sich mit ihrer begeistert zur Schau gestellten Asozialität dem sozial ungeschickten Kandidaten überlegen zu fühlen.)

Doch dem Urteil, dass hier jemand sensationell unsymphatisch auftrat, kann man nur schwer widersprechen. Der Abend war eine faszinierende und etwas beunruhigende Lektion, wie schnell und vollständig man sich ins Aus katapultieren kann. Dabei wird die Pose des übertrieben selbstbewussten Herausforderers eigentlich schon vom Format und dem Casting vorgegeben. Und viele der Eigenschaften, die bei Hans-Martin so abstoßend wirkten, gehören auch zum Repertoire Raabs, der aber als langjähriger Profi natürlich viel geschickter darin ist, sie in den Spitzen auf ein Maß herunterzuregeln, das im Fernsehen nicht zu peinlich aussieht.

Das war der Hauptfehler des Kandidaten an diesem Abend: Dass er nicht erkannt hat, was seine Rolle ist in diesem Spiel. Relativ früh, bevor sie beim 2000-Meter-Bahnradfahren gegeneinander antraten und nicht nur die Kondition gegen Raab sprach, sagte er, da würde er sich aber sehr schämen, wenn er das nicht gewinnen würde, und tätschelte dabei tatsächlich Raabs Bäuchlein. Es war einer dieser Fremdschäm-Augenblicke, die man schwer mit ansehen kann, und Raab hat danach fast instinktiv die Arme vor dieser vermeintlichen Schwachstelle verschränkt. Aber interessanterweise hätte die Szene umgekehrt funktioniert: Raab hätte sich über eine Schwäche des Gegners auf diese Weise lustig machen können, ohne dass es so peinlich gewesen wäre: Er hätte es professionell augenzwinkernd abfedern können, und wenn er durch so eine Form von Arroganz das Publikum gegen sich aufbringt, verschafft er dem Kandidaten nur zusätzliche Sympathien, was sehr in Ordnung geht.

Trotzdem war das Maß, in dem Raabs Erfolge von den Zuschauern im Studio gefeiert wurden, und Punkte von Hans-Martin Schulze fast schweigend quittiert wurden, fast schockierend, und bei den Buhrufen ganz am Ende musste sogar Raab selbst eingreifen. Wie geht man als Mensch eigentlich mit der Erfahrung um, dass die eigene Art auf andere anscheinend derart abstoßend wirkt?

Insofern erinnerte der Abend ein wenig an die erste Staffel von „Big Brother“: Als die Bewohnerin Kerstin Manuela irgendwann schockiert feststellen musste, dass dass sie im Laufe der Wochen im Container für die Zuschauer zuhause zu einer Hassfigur geworden war, und viele ihr das auch zeigten. Hans-Martin verspielte die Sympathien in nur einem Abend. Das hätte er auch nicht geahnt: Dass der Preis für die 500.000 Euro so hoch sein könnte.

Das Manifest, das Wozu und das Danach

War’s das?

Bald wird unser „Internet-Manifest“ vermutlich auch in den letzten südphilippinischen Regionaldialekt übersetzt und vom letzten amerikanischen Blogger retweetet worden sein, und nach über 400 Kommentaren versickert die Diskussion hier im Blog (und drüben beim ix) allmählich in Seitensträngen wie der Frage, ob Mercedes Bunz, die darüber beim „Guardian“ gebloggt hat, prominenter als nur in einer dezenten Vier-Wort-Klammer im dritten Absatz hätte darauf hinweisen müssen, dass sie selbst zu den Autoren gehört. Ich finde: ja. Aber ich finde auch: geschenkt.

Aber was passiert jetzt?

Wir haben darüber beim Zusammenfinden und beim Verfassen dieses Textes nie geredet. Wir haben ihn geschrieben, weil wir das Gefühl hatten, dass er geschrieben werden muss. Weil wir es nicht mehr ausgehalten haben, was die Verleger der Medien, für die wir oftmals arbeiten und auf die wir eigentlich auch in Zukunft nicht verzichten wollen, Woche für Woche für gefährlichen, himmelschreienden Unsinn über das Internet in die Welt posaunt haben.

Die erste Mail von Mario Sixtus, die alles anstieß, begann mit den Sätzen:

Liebe Leute, es reicht!

Ich glaube ich bin nicht der einzige, der mit seiner Geduld am Ende ist, was Verleger, Journalistengewerkschaftsschwafler, Kulturteildummschwätzer und ihre [Städtenamen]-Pamphlete in Sachen Internet angeht. Ich finde, wir müssen etwas tun. Was könnn Journalisten tun? Etwas schreiben. Yeah!

Kein Wunder, dass wir uns keine Gedanken über das Danach gemacht haben und wir über das Wozu gar nicht grübeln mussten. Wir wollten alle etwas sagen, und damit es auch wirklich gehört wird, wollten wir es gemeinsam sagen. Und wie das so ist, wenn man Sachen aufschreibt: Wenn man Glück hat, stoßen sie etwas an, lösen etwas aus, haben sichtbare oder unsichtbare Folgen. Und wenn man Pech hat, verpuffen sie irgendwie. Aber man kann eigentlich in den seltensten Fällen eine konkrete Wirkung einplanen oder gar die Gründung eines Verbandes (was für mich eine der abwegigeren Unterstellungen im Zusammenhang mit diesem Text war).

Es klingt nach einer Plattitüde, wenn ich auf die Frage, was wir mit diesem „Manifest“ eigentlich erreichen wollten, antworte: eine Diskussion anstoßen. Aber genau so ist es. Ich wollte versuchen — und ich glaube, den anderen ging es genau so — in der Debatte über die Zukunft des Journalismus einen Widerpart zu verankern, einen Punkt, auf den andere sich beziehen können, wenn wieder einmal von Lobbyisten irgendeine Erklärung in irgendeiner Stadt verabschiedet wird, in der sie zur Rettung des Publizierens auf Papier auffordern statt zur Rettung des Journalismus. Wenn wieder einmal jemand das Internet auf Diebe, Rufmörder, Kinderschänder reduziert. Wenn wieder einmal jemand glaubt, dass man an dem Medium, in dem ein Text veröffentlicht wird, seine Qualität ablesen kann.

Was wir wirklich schlecht gemacht haben beim Veröffentlichen unseres „Manifestes“: seinen Adressaten zu nennen. Es muss bizarr wirken auf Menschen, die in diesem Medium in einem ganz anderen Maße zuhause sind als ich, wenn da plötzlich 15 Berufs-Publizisten ankommen und ihnen erklären wollen, wie das Internet funktioniert. Vielleicht erklärt sich ein Teil der Ablehnung, den dieser Text gerade bei eingefleischten Onlinern erfahren hat, aus dieser wahrgenommenen Anmaßung, die von uns nie beabsichtigt war.

Natürlich ist unser „Manifest“ auch anmaßend (und mit dem Wort fängt es schon an), natürlich kommt es in vielen Punkten relativ breitbeinig daher, aber einem ganz anderen Ansprechpartner gegenüber: Denjenigen, die das Internet immer noch bekämpfen oder glauben, es gehe weg, wenn man es nur angestrengt genug ignoriert. Denjenigen, die es für eine Phase halten, einen Hype, der vorübergehen wird. Denjenigen, die glauben, ein solch revolutionäres Medium würde nichts ändern, sie müssten sich nicht ändern, und wenn überhaupt, müsste sich das Netz gefälligst ihnen anpassen und nicht umgekehrt, denn sie sind doch die Verleger, die jahrzehntelang den Menschen gesagt haben, was die Menschen wissen müssen, und das waren gute Zeiten für sie und für die Menschen und für die Demokratie, also vor allem: für sie.

Unsere Arroganz ist auch eine Art Notwehr, eine Reaktion auf die maßlose Selbstüberschätzung dieser Leute, die glauben, dass das, was sie tun, gut ist und unverzichtbar, weil sie es tun, und nicht, weil es gut und unverzichtbar ist. Die glauben, einen Anspruch darauf zu haben, mindestens so viel Geld zu verdienen im Internet wie Google, weil sie ja tolle und wichtige Inhalte ins Internet stellen und Google nur dafür sorgt, dass Leute sie auch finden. Die immer noch glauben, dass sich diese ganze Internetwelt um sie drehen müsse, und nicht gemerkt haben, dass sie ihre Wichtigkeit, Notwendigkeit, Verlässlichkeit plötzlich jeden Tag neu beweisen müssen, weil sie ein Monopol verloren haben und die Zeiten vorbei sind, in denen Menschen eine Zeitung lasen vom Abitur bis zur Rente. Die es erreicht haben, dass der „Beauftragte für Kultur und Medien“ der Bundesregierung, ein trauriger Mensch namens Bernd Neumann, eine „Nationale Intiative Printmedien“ gegründet hat und keine „Nationale Initiative Qualitätsjournalismus“. Die allen Ernstes fordern, dass ihre Zeitungen und Zeitschriften, darunter auch die ganzen Lügen-, Quatsch- und Wichsblätter, steuerlich günstiger gestellt werden als das tägliche Brot.

Wir sind nicht die Gegner der guten etablierten Medien, im Gegenteil. Wir schreien auf, weil wir die Sorge haben, dass viele von ihnen ihre Zukunft verspielen, wenn sie glauben, die Leser müssten zu ihnen kommen und nicht sie zu den Lesern. Wir sorgen uns um diese Medien, aus ganz eigennützigen Gründen, weil wir für sie arbeiten, und aus ganz anders eigennützigen Gründen, weil wir glauben, dass eine Gesellschaft auch in Zukunft guten Journalismus braucht.

Ich weiß, dass das jetzt merkwürdig pathethisch und eitel klingen mag, aber: Wenn ich tagein tagaus in diesem Blog die Medien kritisiere, dann tue ich das nicht, um Argumente gegen die Existenzberechtigung und Notwendigkeit dieser Medien zu sammeln, sondern im Gegenteil: Weil ich glaube, dass wir dringend Journalisten brauchen, die uns so wahrhaftig und transparent wie möglich informieren über das, was in der Welt passiert. Und weil ich es unerträglich finde, dass die Helmut Markworts dieser Welt ganz andere Prioritäten haben als die wahrheitsgemäße Information seiner Leser, nämlich nur ihre verdammten eigenen Interessen. Und weil ich es nicht glauben kann, dass die Medien, jetzt wo sie Konkurrenz von Amateuren bekommen haben, ausgerechnet an dem sparen, was sie von diesen unterscheidet. Und weil es mich wütend macht, wenn in vielen Online-Redaktionen keine Journalisten mehr sitzen, sondern Tratschweiber, Abschreiber und Klickstreckenbauer.

Ich finde es schlimm, wie viele Kommentatoren im Internet die Probleme des professionellen Journalismus bejubeln und glauben, es könnte eine blühende Zukunft ohne ihn geben. Aber ich kann das nicht den Kommentatoren vorwerfen — den Beweis für seine Relevanz und Zuverlässigkeit muss der Journalismus schon selbst bringen. Auch und gerade online. Patricia Riekel, die Chefredakteurin der „Bunten“, wird von der Fachzeitschrift „Horizont“ mit den Worten zitiert, sie glaube nicht, dass Journalisten „gleichzeitg [sic!] für Online und eine Zeitschrift arbeiten können. Geschichten in der ‚Bunten‘ verlangen Spitzenschreiber“. Das sind die Äußerungen, das sind die Leute, gegen die ich unser „Manifest“ setzen möchte: Leute, die suggerieren, dass man online keine „Spitzenschreiber“ braucht, dass online nur eine gewaltige Müllhalde ist mit merkwürdigen Leuten, die merkwürdige Parteien wählen und Kinderpornographie verteidigen.

Die Leute, die uns vorwerfen, nur Allbekanntes und Banales wichtigtuerisch in Thesenform gebracht zu haben, übersehen die Realität des Online-Journalismus in Deutschland. Natürlich ist es lächerlich, im Jahr 2009 zu schreiben: „Das Netz verlangt nach Vernetzung.“ Aber wie viele Online-Medien in Deutschland, die über einen Bericht, ein Interview in einem anderen Medium schreiben, setzen den Link zu dieser Quelle?

Natürlich ist es banal, im Jahr 2009 zu schreiben, „das Internet macht es möglich, direkt mit den Menschen zu kommunizieren, die man einst Leser, Zuhörer oder Zuschauer nannte – und ihr Wissen zu nutzen“. Aber wie viele Medien tun das tatsächlich? Bei sueddeutsche.de werden, trotz gegenteiliger Ankündigungen, bis heute noch jeden Abend um 19 Uhr die Kommentarbürgersteige hochgeklappt. Natürlich ist es ein Witz, im Jahr 2009 die These „Was im Netz ist, bleibt im Netz“ in ein bedeutungsschwangeres Papier zu schreiben. Aber bis heute glauben viele Journalisten, das Internet sei ein „flüchtiges Medium“ und könne entsprechend behandelt werden, während es in Wahrheit für den Normalbürger die gedruckte Zeitung ist, die schon einen Tag später nicht mehr aufzutreiben ist, während der Online-Artikel (mit all seinen Tippfehlern und unrecherchierten Inhalten) immer noch abrufbar ist.

Also: Ja, unser „Manifest“ steckt voller Selbstverständlichkeiten, von denen ich wünschte, sie wären wirklich selbstverständlich.

Es gibt eine konträre Kritik an dem Text, nämlich die, dass unsere Thesen verdammt steil sind. Die kann ich besser nachvollziehen. Ich habe mir – mit tatkräftiger Unterstützung der Feuilletonkollegen um Claudius Seidl, bei denen sowas gar nicht gut ankam – erst vor wenigen Jahren meinen viele Jahre gepflegten Kulturpessimismus abgewöhnt, und manche optimistische „Behauptungen“, die wir da aufstellen, gehen an die Grenzen dessen, was ich glaube.

Ich habe sie dennoch unterschrieben, weil ich glaube, dass eine mögliche Übertreibung in positiver Sicht ein notwendiger Ausgleich zu all den Untergangspropheten ist, die die unendlichen Chancen, die mit dem neuen Medium verbunden sind, nicht sehen wollen. Ich bestreite gar nicht, dass das Internet mit seinen Freiheiten und Möglichkeiten der Anonymität auch das Schlechteste in Menschen hervorbringt, aber das festzustellen, hilft nichts. Es hilft nur, das Internet zu umarmen und all das Gute, das es ermöglicht, heraus zu holen, und das ist unendlich viel. Natürlich kann an aufzählen, was für Mängel ein Angebot wie die Wikipedia hat. Aber dann nimmt man vermutlich nicht wahr, wie viele Menschen aus rein altruistischen Motiven daran mitgewirkt haben. Ich sehe das ja täglich an den Dutzenden Hinweisen, die wir bei BILDblog bekommen: Die Leute kriegen im Zweifelsfall noch nicht einmal eine freundliche Absage, verdienen tun sie ohnehin nichts. Sie teilen uns Dinge mit, weil sie glauben, dass das eine gute Sache ist.

ix schreibt, ihm fehlt in unserem Text die Euphorie:

mehr will ich mich jetzt eigentlich nicht mit dem manifest auseinandersetzen. ich würde mich jetzt lieber wieder für das internet begeistern und an dem was das internet eigentlich ist berauschen: pures, überbordendes potenzial.

Das trifft mich besonders, denn genau aus diesem Grund habe ich (haben, glaube ich, wir) diesen Text veröffentlicht: Aus dem Gefühl, dass das Netz so viel ermöglicht, das bisher nicht möglich war.

Natürlich kann man lamentieren, dass das Geldverdienen (und womöglich sogar das Qualitätsjornalismusfinanzieren) in der analogen Zeit leichter war. Aber was bringt dieses Lamento, wenn diese Zeit einfach vorbei ist?

Schallplatten sind toll, und ich kann gut nachvollziehen, dass es Liebhaber gibt, die sie sammeln, und Spezialisten, die dieses Medium weiter pflegen, aber wollen wir Journalisten ernsthaft die Leute sein, die dafür kämpfen, die Schallplatte zu erhalten, wenn die CD erfunden wurde und Musik sich längst ganz ohne Datenträger vertreiben lässt? Wollen wir Pferdekutschenbetreiber sein, die staatliche Hilfe fordern, damit uns das schrecklich schnelle, stinkende Auto nicht das Geschäft kaputt macht?

Ich weiß nicht, ob Zeitungen und Zeitschriften aussterben werden, ich glaube es nicht und hoffe es auch nicht — ich liebe Zeitungen. Aber man muss schon sehr verblendet sein, wenn man glaubt, dass auch nach der Ankunft eines Mediums, das so viel schneller, vielfältiger, zugänglicher ist, das aufwändige Drucken und Verschicken von Papier die natürliche, die dominante Form der Informationsvermittlung bleiben wird.

Ich finde in Zeitungen wie der „FAZ“ (für die ich arbeite) und einigen anderen immer wieder herausragende Texte, was kein Zufall ist, weil sie von Menschen geschrieben werden, die dafür ausgebildet wurden und dafür gut bezahlt werden, weil sie von anderen redigiert wurden, weil sie in einem Umfeld entstanden sind, das darauf angelegt ist, beste Bedingungen für die Produktion guter Texte zu schaffen. Die Zeitungen müssen alles dafür tun, diese Qualitäten zu bewahren.

Aber das wird nicht reichen. Sie müssen es schaffen, diese Qualitäten ins Internet zu bringen, dorthin, wo schon heute die jungen Leute sind, und in Zukunft ungefähr alle.

Schon wahr: Die Frage, wie Qualitätsjournalismus im Internet finanziert werden kann, ist noch nicht umfassend beantwortet. Aber daraus zu schließen, dass Qualitätsjournalismus im Internet nicht finanziert werden kann, ist falsch. Ein Grund, warum „Spiegel Online“ eine so dominante Position in Deutschland hat, ist der, dass man dort auch in schlechten Zeiten, als viele Konkurrenten ihr Internet-Angebot herunterfuhren, weiter investiert hat.

Nein, wir haben auch nicht für alle Herausforderungen und Probleme, die dieser Medienumbruch gerade mit sich bringt, konkrete Lösungen, und vermutlich hätten die 15 sehr unterschiedlichen Autoren, die an dem „Manifest“ mitgewirkt haben, auch sehr unterschiedliche Lösungsvorschläge. Wir haben kein 17-Punkte-Programm zur Lösung der Medienkrise vorgelegt.

Es ging mir (und ich nehme an: uns) nicht zuletzt um eine Haltung. Um die Forderung an die Verleger, Lobbyisten, Politiker, zu sehen, wie anders das Internet ist und was es alles verändert, und sich darauf ernsthaft einzulassen. Das klingt furchtbar banal und ist total revolutionär. Und es ging uns darum, ein paar Pflöcke einzuschlagen (ein paar zentrale Eckpfeiler sozusagen, jaha), nein: Markierungen, an denen wir sagen: Hier geht es nicht weiter. Wir können nicht ernsthaft darüber diskutieren, dass man Menschen als Bestrafung für Urheberrechtsverletzungen das Recht entziehen will, online zu gehen, wir können nicht ernsthaft darüber diskutieren, dass Links und Zitate genehmigungs- oder kostenpflichtig sein müssen, und so weiter.

Ich bin ein bisschen abgeschwiffen. Die Frage war: Was passiert jetzt?

Die Antwort liegt doch auf der Hand: Jetzt reden wir drüber. Es ist ein merkwürdiger Vorwurf, der uns gemacht wurde, dass wir mit dem fertigen „Manifest“ an die Öffentlichkeit gegangen seien anstatt vorher das kollaborativ mit allen Interessierten zu entwickeln. Erstens zeigt sich, dass schon 15 Leute eher zu viele als zu wenige sind, um gemeinsam und ohne Hierarchien einen pointierten Text zu entwickeln. Und zweitens ist dieser Text nicht in Stein gemeißelt oder an irgendwelche Kirchentüren geschlagen, sondern er lebt im Internet. Er kann sich weiter entwickeln (man kann sogar peinliche Stilblüten aus ihm streichen), es kann durch die Beteiligung vieler Leute und konstruktive Kritik etwas Neues, Größeres, Besseres daraus werden — und man kann ihn nehmen, um sich an ihm zu reiben und Gegenentwürfe, Parodien, Verrisse zu formulieren.

Und wir? Wir müssen das nur ernst nehmen, was wir selbst geschrieben haben: „Nicht der besserwissende, sondern der kommunizierende und hinterfragende Journalist ist gefragt.“ Von den „sozialen Grundfunktionen der Kommunikation“ haben wir gesprochen: „Zuhören und Reagieren, auch bekannt als Dialog.“ Ich gebe zu, dass wir darin selbst nicht besonders gut waren in den vergangenen Tagen, und ich finde es auch ein bisschen peinlich, dass es so aussieht, als sei uns die weltweite Verbreitung des Textes wichtiger als die Diskussion hier.

Aber das kann sich ja ändern. Und auch das ist doch eine gute Sache an so einem Text: Wir müssen uns jetzt daran messen lassen.

Übrigens ist das Wort „Behauptungen“ im Titel des „Manifests“ kein kokettes Understatement, sondern nicht anderes als die Aufforderung, sich mit Widersprüchen und Belegen daran abzuarbeiten. Ich will gerne dazu beitragen und in Zukunft noch mehr als bisher über über die konkreten Fragen diskutieren, die sich aus den sich ändernden Bedingungen ergeben, unter denen sich Journalismus bewähren muss.

Kurz gesagt: Das „Internet-Manifest“ soll nicht das Ende der Debatte sein, sondern ihr Anfang. Auf meine Fragen zur Hamburger (Bankrott-)Erklärung der Verlage habe ich übrigens von den Papier-Lobbyisten des Zeitschriftenverleger-Verband VDZ bis heute keine Antwort bekommen.

Helmut Markwort, Faktenschwänzer

„Focus“-Chefredakteur Helmut Markwort hat ein erstaunlich flexibles Verhältnis zur Wahrheit und der Notwendigkeit, ihr zu ihrem Recht zu verhelfen.

Aber der Reihe nach.

Am 20. April berichtete der Hamburger „Focus“-Korrespondent Hubert Gude, dass die Landesschulbehörde Lüneburg ein Verfahren gegen den Geschichtslehrer Eberhard Brandt eingeleitet habe. Brandt ist Chef der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Niedersachsen und ein prominenter Kritiker der dortigen Kultusministerin Elisabeth Heister-Neumann (CDU). „Focus“ schrieb, Brandt habe „offenbar jahrelang den Unterricht an seiner Wolfsburger Schule geschwänzt“ und nannte als Quelle „interne Unterlagen der Landesschulbehörde (…), die FOCUS vorliegen“.

In der Überschrift machte die Illustrierte sich die Vorwürfe vollständig zu eigen:

Eine Woche später legte der „Focus“ nach. In einem längeren Artikel warf Gude dem GEW-Mann detailliert jahrelange Fehlzeiten vor und stellte ihn als dreisten Lügner dar, weil er den „Focus“-Vorwürfen zunächst widersprochen hatte. Der Titel:

Unerklärt ließ der „Focus“ dabei, wie er am Montag der Vorwoche berichten konnte, dass bereits ein Disziplinarverfahren gegen Brandt laufe, obwohl dieses Verfahren erst am Dienstag eröffnet wurde (was vielleicht auch erklärt, warum Brandt der „Focus“-Darstellung zunächst so heftig widersprochen hatte).

Das alles war im April. Der „Focus“ hat seitdem nicht mehr über den Fall berichtet.

Was erstaunlich ist, denn es hat sich seitdem einiges getan. Aus dem Fall Brandt ist nämlich in der Zwischenzeit ein Fall Heister-Neumann geworden.

Die „taz“ berichtete am 19. August, dass die SPD „neue Anhaltspunkte“ dafür sehe, dass das Disziplinarverfahren gegen Brandt „politisch motiviert war“. Die SPD fordert deshalb den Rücktritt der Kultusministerin.

Der „Spiegel“ meldete am 24. August:

Vertrauliche Unterlagen legen den Verdacht nahe, dass [die Kultusministerin] ihre Landesschulbehörde angewiesen hat, gegen den schärfsten Kritiker ihrer Schulpolitik, den Gewerkschaftsfunktionär Eberhard Brandt, ein Disziplinarverfahren einzuleiten. Und das, obwohl die Behörde zuvor bereits festgestellt hatte, dass für diesen Schritt keinerlei Veranlassung bestehe.

Die „Süddeutsche“ schrieb einen Tag später:

[…] vier Monate später besteht nun der Verdacht, dass die Geschichte [im „Focus“] nicht nur wie bestellt aussah, sondern tatsächlich bestellt war.

Letzten Mittwoch bereitete die „taz“ den ganzen Fall noch einmal ausführlich auf und begann ihren Artikel so:

Am 20. April 2009 vermeldete Focus, gegen den Vorsitzenden der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Niedersachsens sei ein Disziplinarverfahren eingeleitet worden. Grund: Eberhard Brandt wäre als Studienrat seinen Unterrichtsverpflichtungen nicht nachgekommen. Zum Beweis wurden wörtliche Zitate aus einem internen Vermerk der Landesschulbehörde präsentiert. Wie man heute weiß, stimmte an dem Bericht des Nachrichtenmagazins („Fakten, Fakten, Fakten“) so gut wie nichts. Brandt ist inzwischen rehabilitiert.

Das aber nun fand der „Focus“-Chefredakteur — und damit sind wir endlich wieder bei Helmut Markwort — unerhört und forderte die „taz“ über seine Anwälte auf, die Verbreitung solcher Unwahrheiten zu unterlassen (weshalb der Artikel online inzwischen geändert ist).

Außerdem ließ er Burdas Hauskanzlei noch am selben Tag eine Gegendarstellung aufsetzen, die am Freitag in der „taz“ erschien und in der Markwort bündig feststellt:

Sämtliche in Bezug auf Eberhard Brandt von „Focus“ in der Meldung vom 20.04.2009 veröffentlichten Fakten geben den Stand der seinerzeitigen Aktenlage der Landesschulbehörde wieder.

Wohlgemerkt: Markwort behauptet nicht, dass die Fakten in dem „Focus“-Artikel stimmen. Er behauptet nur, dass der „Focus“ korrekt wiedergegeben habe, was in den Akten stand. (Dass der „Focus“ über die Vorwürfe keineswegs nur distanziert berichtet, sondern sie sich in den Überschriften zu eigen gemacht hat, erwähnt Markwort natürlich nicht, obwohl ihm solche journalistischen Distanzierungen sonst ganz besonders am Herzen liegen.)

Noch einmal: Der „Focus“ hat seit dem „Er schwänzt weiter“-Artikel vom April nie wieder über den Fall berichtet. Die Illustrierte sah keine Veranlassung, ihre Leser darüber zu informieren, dass die Vorwürfe von damals, die mitsamt der „Schwänzer“-Formulierung von Medien wie „Bild“ und „Hamburger Morgenpost“ weiter verbreitet wurden, inzwischen in einem ganz anderen Licht erscheinen, und man möglicherweise Teil eines gezielten Rufmord-Versuches war. Für „Focus“-Leser ist der GEW-Mann nach wie vor ein dreist die Unwahrheit sagender Schulschwänzer.

Das ist also das Verhältnis von Helmut Markwort zur Wahrheit und der Notwendigkeit, ihr zu ihrem Recht zu verhelfen. Wenn es Entwicklungen gibt, die einen von „Focus“ möglicherweise verleumdeten Mann rehabilitieren, ist das kein Anlass für ihn, darüber zu berichten. Aber wenn jemand behauptet, dass seine Illustrierte so gut wie nichts richtig gemacht habe, obwohl sie doch richtig abgeschrieben hat, wenn auch möglicherweise Falsches — dann schickt er seine Anwälte los. Das wäre ja auch schlimm, wenn eine solche Verleumdung unwidersprochen in der Welt bliebe.

Was für ein erbärmliches journalistisches Selbstverständnis.

Internet-Manifest

Wie Journalismus heute funktioniert. 17 Behauptungen.

1. Das Internet ist anders.
Es schafft andere Öffentlichkeiten, andere Austauschverhältnisse und andere Kulturtechniken. Die Medien müssen ihre Arbeitsweise der technologischen Realität anpassen, statt sie zu ignorieren oder zu bekämpfen. Sie haben die Pflicht, auf Basis der zur Verfügung stehenden Technik den bestmöglichen Journalismus zu entwickeln – das schließt neue journalistische Produkte und Methoden mit ein.

2. Das Internet ist ein Medienimperium in der Jackentasche.
Das Web ordnet das bestehende Mediensystem neu: Es überwindet dessen bisherige Begrenzungen und Oligopole. Veröffentlichung und Verbreitung medialer Inhalte sind nicht mehr mit hohen Investitionen verbunden. Das Selbstverständnis des Journalismus wird seiner Schlüssellochfunktion beraubt – zum Glück. Es bleibt nur die journalistische Qualität, die Journalismus von bloßer Veröffentlichung unterscheidet.

3. Das Internet ist die Gesellschaft ist das Internet.
Für die Mehrheit der Menschen in der westlichen Welt gehören Angebote wie Social Networks, Wikipedia oder Youtube zum Alltag. Sie sind so selbstverständlich wie Telefon oder Fernsehen. Wenn Medienhäuser weiter existieren wollen, müssen sie die Lebenswelt der Nutzer verstehen und sich ihrer Kommunikationsformen annehmen. Dazu gehören die sozialen Grundfunktionen der Kommunikation: Zuhören und Reagieren, auch bekannt als Dialog.

4. Die Freiheit des Internet ist unantastbar.
Die offene Architektur des Internet bildet das informationstechnische Grundgesetz einer digital kommunizierenden Gesellschaft und damit des Journalismus. Sie darf nicht zum Schutz der wirtschaftlichen oder politischen Einzelinteressen verändert werden, die sich oft hinter vermeintlichen Allgemeininteressen verbergen. Internet-Zugangssperren gleich welcher Form gefährden den freien Austausch von Informationen und beschädigen das grundlegende Recht auf selbstbestimmte Informiertheit.

5. Das Internet ist der Sieg der Information.
Bisher ordneten, erzwungen durch die unzulängliche Technologie, Institutionen wie Medienhäuser, Forschungsstellen oder öffentliche Einrichtungen die Informationen der Welt. Nun richtet sich jeder Bürger seine individuellen Nachrichtenfilter ein, während Suchmaschinen Informationsmengen in nie gekanntem Umfang erschließen. Der einzelne Mensch kann sich so gut informieren wie nie zuvor.

6. Das Internet verändert verbessert den Journalismus.
Durch das Internet kann der Journalismus seine gesellschaftsbildenden Aufgaben auf neue Weise wahrnehmen. Dazu gehört die Darstellung der Information als sich ständig verändernder fortlaufender Prozess; der Verlust der Unveränderlichkeit des Gedruckten ist ein Gewinn. Wer in dieser neuen Informationswelt bestehen will, braucht neuen Idealismus, neue journalistische Ideen und Freude am Ausschöpfen der neuen Möglichkeiten.

7. Das Netz verlangt Vernetzung.
Links sind Verbindungen. Wir kennen uns durch Links. Wer sie nicht nutzt, schließt sich aus dem gesellschaftlichen Diskurs aus. Das gilt auch für die Online-Auftritte klassischer Medienhäuser.

8. Links lohnen, Zitate zieren.
Suchmaschinen und Aggregatoren fördern den Qualitätsjournalismus: Sie erhöhen langfristig die Auffindbarkeit von herausragenden Inhalten und sind so integraler Teil der neuen, vernetzten Öffentlichkeit. Referenzen durch Verlinkungen und Zitate – auch und gerade ohne Absprache oder gar Entlohnung des Urhebers – ermöglichen überhaupt erst die Kultur des vernetzten Gesellschaftsdiskurses und sind unbedingt schützenswert.

9. Das Internet ist der neue Ort für den politschen Diskurs.
Demokratie lebt von Beteiligung und Informationsfreiheit. Die Überführung der politischen Diskussion von den traditionellen Medien ins Internet und die Erweiterung dieser Diskussion um die aktive Beteiligung der Öffentlichkeit ist eine neue Aufgabe des Journalismus.

10. Die neue Pressefreiheit heißt Meinungsfreiheit.
Artikel 5 des Grundgesetzes konstituiert kein Schutzrecht für Berufsstände oder technisch tradierte Geschäftsmodelle. Das Internet hebt die technologischen Grenzen zwischen Amateur und Profi auf. Deshalb muss das Privileg der Pressefreiheit für jeden gelten, der zur Erfüllung der journalistischen Aufgaben beitragen kann. Qualitativ zu unterscheiden ist nicht zwischen bezahltem und unbezahltem, sondern zwischen gutem und schlechtem Journalismus.

11. Mehr ist mehr – es gibt kein Zuviel an Information.
Es waren einst Institutionen wie die Kirche, die der Macht den Vorrang vor individueller Informiertheit gaben und bei der Erfindung des Buchdrucks vor einer Flut unüberprüfter Information warnten. Auf der anderen Seite standen Pamphletisten, Enzyklopädisten und Journalisten, die bewiesen, dass mehr Informationen zu mehr Freiheit führen – sowohl für den Einzelnen wie auch für die Gesellschaft. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

12. Tradition ist kein Geschäftsmodell.
Mit journalistischen Inhalten lässt sich im Internet Geld verdienen. Dafür gibt es bereits heute viele Beispiele. Das wettbewerbsintensive Internet erfordert aber die Anpassung der Geschäftsmodelle an die Strukturen des Netzes. Niemand sollte versuchen, sich dieser notwendigen Anpassung durch eine Politik des Bestandsschutzes zu entziehen. Journalismus braucht einen offenen Wettstreit um die besten Lösungen der Refinanzierung im Netz und den Mut, in ihre vielfältige Umsetzung zu investieren

13. Im Internet wird das Urheberrecht zur Bürgerpflicht.
Das Urheberrecht ist ein zentraler* Eckpfeiler der Informationsordnung im Internet. Das Recht der Urheber, über Art und Umfang der Verbreitung ihrer Inhalte zu entscheiden, gilt auch im Netz. Dabei darf das Urheberrecht aber nicht als Hebel missbraucht werden, überholte Distributionsmechanismen abzusichern und sich neuen Vertriebs- und Lizenzmodellen zu verschließen. Eigentum verpflichtet.

*) Stilblüte gelöscht

14. Das Internet kennt viele Währungen.
Werbefinanzierte journalistische Online-Angebote tauschen Inhalte gegen Aufmerksamkeit für Werbebotschaften. Die Zeit eines Lesers, Zuschauers oder Zuhörers hat einen Wert. Dieser Zusammenhang gehört seit jeher zu den grundlegenden Finanzierungsprinzipien für Journalismus. Andere journalistisch vertretbare Formen der Refinanzierung wollen entdeckt und erprobt werden.

15. Was im Netz ist, bleibt im Netz.
Das Internet hebt den Journalismus auf eine qualitativ neue Ebene. Online müssen Texte, Töne und Bilder nicht mehr flüchtig sein. Sie bleiben abrufbar und werden so zu einem Archiv der Zeitgeschichte. Journalismus muss die Entwicklungen der Information, ihrer Interpretation und den Irrtum mitberücksichtigen, also Fehler zugeben und transparent korrigieren.

16. Qualität bleibt die wichtigste Qualität.
Das Internet entlarvt gleichförmige Massenware. Ein Publikum gewinnt auf Dauer nur, wer herausragend, glaubwürdig und besonders ist. Die Ansprüche der Nutzer sind gestiegen. Der Journalismus muss sie erfüllen und seinen oft formulierten Grundsätzen treu bleiben.

17. Alle für alle.
Das Web stellt eine den Massenmedien des 20. Jahrhunderts überlegene Infrastruktur für den gesellschaftlichen Austausch dar: Die „Generation Wikipedia“ weiß im Zweifel die Glaubwürdigkeit einer Quelle abzuschätzen, Nachrichten bis zu ihrem Ursprung zu verfolgen und zu recherchieren, zu überprüfen und zu gewichten – für sich oder in der Gruppe. Journalisten mit Standesdünkel und ohne den Willen, diese Fähigkeiten zu respektieren, werden von diesen Nutzern nicht ernst genommen. Zu Recht. Das Internet macht es möglich, direkt mit den Menschen zu kommunizieren, die man einst Leser, Zuhörer oder Zuschauer nannte – und ihr Wissen zu nutzen. Nicht der besserwissende, sondern der kommunizierende und hinterfragende Journalist ist gefragt.

Internet, 07.09.2009

Markus Beckedahl
Mercedes Bunz
Julius Endert
Johnny Haeusler
Thomas Knüwer
Sascha Lobo
Robin Meyer-Lucht
Wolfgang Michal
Stefan Niggemeier
Kathrin Passig
Janko Röttgers
Peter Schink
Mario Sixtus
Peter Stawowy
Fiete Stegers

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internet-manifest.de

24 Stunden Berlin

Natürlich hätte ich den Rekorder programmieren und mir die erste Stunde, die von sechs bis sieben Uhr geht, gepflegt ab zehn ansehen können, anstatt mich im Morgengrauen aus dem Bett zu quälen. Aber das wäre nicht dasselbe gewesen. So sah ich, während ich mit der Müdigkeit kämpfte und den Tag verfluchte, Menschen, die mit der Müdigkeit kämpften und den Tag verfluchten. Im Fernsehen war es schon ganz schön hell, morgens um sechs, am 5. September 2008, in Berlin, und ich guckte aus dem Fenster und verglich.

Die Realzeit, in der das Mammutprojekt „24h Berlin“ von Volker Heise einen Tag im Leben dieser Stadt erzählt, schafft erstaunliche Verbindungen zwischen dem Leben vor dem Bildschirm und dem Leben darin. Natürlich war die Ausstrahlung gestern eine Art Event, aber die ganzen Public-Viewing-Veranstaltungen waren einigermaßen abwegig. Denn das Spektakuläre an den Geschichten ist ihre Alltäglichkeit: der Alltag einer Callcenter-Mitarbeiterin, eines alten Ehepaares, eines Junkies, eines Regierenden Bürgermeisters. Was „24h Berlin“ zu einem außerordentlichen Fernseherlebnis machte, war paradoxerweise der Reiz, es nebenbei sehen zu können oder umgekehrt: selbst nebenher leben zu können.

Morgens um kurz nach sechs lernt man Mario in der Obdachlosenunterkunft kennen. Wenn man nach dem eigenen Frühstück gegen zehn wieder einschaltet, sieht man ihn vor einem Bahnhof mit ein paar Straßenzeitungen stehen. Und ein paar Stunden später, ein paar Stunden in seinem Leben und ein paar Stunden in meinem, hat er immer noch keine verkauft. Erst am Nachmittag reicht es, dass er sich erst ein Bier besorgen kann und dann Heroin. Inmitten dieser und vieler anderer, erstaunlich vielfältiger Geschichten tauchen Szenen wie Running Gags auf – ein offenkundig dramaturgisches Element und zugleich ein extrem dokumentarisches: Immer wieder sehen wir die U-Bahn-Fahrerin, die von Ruhleben zurück nach Pankow fährt und von Pankow zurück nach Ruhleben, und den „Bild“-Chefredakteur, der schon wieder in einer anderen Sitzung ist und immer noch keine Schlagzeile für den nächsten Tag hat.

Das entwickelt einen erstaunlichen Sog, auch in der Mischung aus Dingen, die man selbst sehen könnte, wenn man auf die Straße ginge, und Einblicken in fremde Welten in der Nachbarschaft. „24h Berlin“ behandelt das Fernsehen als das, was es längst weitgehend ist: ein Nebenbeimedium, aber es nimmt den Anspruch, eine Dokumentation der Realität zu sein, in bemerkenswerter Weise ernst. Nicht so sehr die Rekordlänge, sondern diese Kombination ist es, weshalb „24h Berlin“ Fernsehgeschichte geschrieben hat.

(c) Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Mitbüroner gesucht!

Journalistenbüro in Berlin-Kreuzberg, bekannt aus Funk und Fernsehen, hat noch ein bis zwei Plätze frei. Ehemaliges Ladenlokal, unmittelbar am Schlesischen Tor, mit Blick auf die Hochbahn und — bei geringen Verrenkungen — Spree und Oberbaumbrücke, alternativ auch zum ruhigen Hof. Gesucht sind: nette, unkomplizierte, kreative Kollegen (Mitbloggen optional). Details auf Anfrage. Ernstgemeinte Zuschriften bitte an: mich.

Durch die Nacht mit… Heye und Spreng

Heute Abend läuft eine neue Folge der arte-Reihe „Durch die Nacht mit…“. Diesmal treffen sich in Berlin Uwe-Karsten Heye (links, früher Regierungssprecher unter Gerhard Schröder, heute „Vorwärts“-Chefredakteur) und Michael H. Spreng (rechts, früher Berater von Kanzlerkandidat Edmund Stoiber, ganz früher „Bild am Sonntag“-Chefredakteur). Sie kaufen einander Krawatten, gehen was essen, lassen sich von StudiVZ erklären, was „Gruscheln“ ist (und nehmen davon Abstand, es mit Angela Merkel oder Frank-Walter Steinmeier zu tun), besuchen das Kreativen-Netzwerk „Platoon“, besichtigen mit Klaus Staeck dessen Retrospektive, fahren mit dem SPD-Fahrstuhl in die Reichstagskuppel, schauen sich mit Peter Frey das ZDF-Studio von „Berlin direkt“ an und trinken am Ende noch ein Bier mit Jörg Thadeusz.

Das ist ein bisschen viel Programm, nicht nur für die beiden älteren Herren, die beim Finale in der Kneipe — weit, weit nach Mitternacht — arg in den Seilen hängen, sondern auch für die Zuschauer. Doch trotz dieser Atemlosigkeit ist der Film von Edda Baumann-von Broen eine sehr unterhaltsame Stunde Fernsehen, und das liegt vor allem an Michael Spreng.

In einer kleinen Podiumsdiskussion nach der Pressevorführung behauptete der zwar, dass es nur am Schnitt liege, dass die Dokumentation den Eindruck erwecke, als würde er alle anderen an die Wand quatschen, aber vermutlich glaubt er das nicht einmal selbst. Ganz ähnlich wie in seinem Blog sprengsatz.de (aus dem er begeistert selbst seinen Lieblingsspruch von „Frau Dr. Angela Merkel, Chefärztin für politische Anästhesie“ zitiert) spürt man bei ihm immer wieder die Lust, ohne die Zwänge einer Verlags- oder Parteiräson kommentieren und frotzeln zu können. Er mag konservativ sein, vor allem aber ist er unabhängig — und genießt es, das zu beweisen. Er sagt, er blogge „gleichermaßen verletztend gegen jedermann“.

Vergnügt liest er die bösartigen Sprüche über Merkel und Steinmeier auf deren StudiVZ-Pinnwänden vor, lästert über den Starschnitt von Franz Müntefering im „Vorwärts“ und die Arschlochhaftigkeit der großen Wirtschaftsbosse und erzählt, dass Politiker in den letzten sechs Wochen „nur noch gute Nachrichten hören“ wollen.

Dann kritisiert er die blöden Plakate im Europawahlkampf, und als Christoph Frank von „Platoon“, deren Philosophie ihm sichtlich suspekt ist, sagt, dass er die aggressiven Motive der SPD ganz gelungen fand, duldet er keinen Widerspruch: Nein, das sei falsch, in einer Weltwirtschaftskrise negative Werbung zu machen, ein Fehler, falsch, falsch. Er lässt sich auch nicht darauf ein, dass man da vielleicht unterschiedlicher Meinung sein könne, und sagt dann ziemlich wörtlich den wunderbaren Satz: „Ich sage das nicht, weil ich klüger bin, sondern weil ich Recht habe.“ (Nachtrag: Naja, ich hab’s ein bisschen verkürzt.)

Mit Klaus Staeck dagegen diskutiert er gar nicht mehr, sondern setzt sich unauffällig ab. Die beiden hatten aber auch keinen guten Start: Der Künstler verwechselte ihn mit dem grobschlächtigen Hans-Hermann Tiedje, einen konservativen Strippenzieher ganz anderer Art. „Tiedje? Den Vergleich lehne ich ab“, sagt Spreng. „Da besteht ein wesentlicher kultureller Unterschied.“

Auf der Pressekonferenz erzählte er später noch, dass es von Anfang an keine glückliche Beziehung war zwischen ihm, dem „BamS“-Chef, und Tiedje, der damals die „Bild“ leitete. Sie waren essen in einem Restaurant, und „Tiedje hat erst meinen Salat genommen und dann meine Serviette“, erzählt Spreng. „Dabei hat er mir zwei Stunden lang erzählt, wie ich die ‚Bild am Sonntag‘ machen sollte.“ Wunderbare Freundschaften beginnen anders.

  • „Durch die Nacht mit Heye und Spreng“
    noch bis kommenden Donnerstag auf arte.tv.