Autor: Stefan Niggemeier

Die Frau, die nicht Frau von der Leyen ist

In ein paar Stunden wird Frank-Walter Steinmeier sein Wahlkampfteam vorstellen, und die Frau, die für die Familienpolitik zuständig sein soll, wird aller Voraussicht nach Manuela Schwesig heißen.

Manuela Schwesig ist seit vergangenem Oktober Sozialministerin in Mecklenburg-Vorpommern, und ihr größter Vor- und Nachteil ist, dass sie noch kein Mensch kennt. (Vielleicht ist das in Wahrheit auch nur ihr zweitgrößter Vor- und Nachteil, und ihr tatsächlicher größter Vor- und Nachteil ist, dass sie so gut aussieht, aber das ist jetzt gar nicht das Thema*.)

Um den Menschen eine solche Unbekannte vorzustellen, oder genauer: anstatt den Menschen eine solche Unbekannte vorzustellen, bekommt sie von den Medien sogleich ein Label oder eine Schublade, und der „Spiegel“, der Frau Schwesig passend zu ihrer Bundes-Premiere in dieser Woche einen Tag lang begleiten durfte, hatte gleich eine naheliegende Kurzformel gefunden und sie direkt in die Überschrift geschrieben: „Die Anti-von-der-Leyen.“ Inhaltlich belegt der Artikel die Behauptung, die darin steckt, zwar nicht so recht. Eigentlich besteht der politische Gegenentwurf im „Spiegel“ nur aus einem Satz: „Dass [Schwesig] aber das Gefühl habe, bei all dem Geburtenratensteigern gerate anderes aus dem Blick: die Kinderarmut, die Probleme Alleinerziehender, die mangelnde Bildung schon bei den Jüngsten.“

Aber es gibt ja eine viel offenkundigere und eingängigere Art des Anti-von-Leyenismus: die Biographie. Der „Spiegel“ schreibt:

Schwesig ist für Ursula von der Leyen eine durchaus ernstzunehmende Gegnerin, sie ist ihr erster leibhaftiger Gegenentwurf. 35 Jahre alt, ostdeutsch, ein Kind, sozialdemokratisch. Von der Leyen ist 50 Jahre alt, westdeutsch, sieben Kinder, konservativ.

Ihr erster leibhaftiger Gegenentwurf? Nun gut. Das erschien am Montag.

Am Dienstag berichtete das „Hamburger Abendblatt“ über das Schattenkabinett Steinmeiers und das „Engagement“ der „bis dato weithin unbekannten 35-jährigen Manuela Schwesig“ — einer Frau, von deren Existenz der Autor vermutlich auch erst durch den „Spiegel“ erfahren hat:

Die Sozialministerin von Mecklenburg-Vorpommern soll das Gegenmodell zur beliebten CDU-Familienministerin Ursula von der Leyen geben. Lange hatte die Parteiführung nach einer geeigneten Kandidatin für diesen Job gesucht. Schwesig ist alleinerziehende Mutter eines zweijährigen Sohnes, sie steht anders als von der Leyen nicht für eine konservative heile Welt. Ob das reicht, um den in den Umfragen taumelnden Genossen Auftrieb geben zu können, wird aber bezweifelt.

Die Logik ist von erschütternder Schlichtheit: Als sei es etwas Bemerkenswertes, dass nicht schon die bloße Tatsache, dass die Schattensozialministerin „nicht für eine konservative heile Welt“ steht, die SPD aus dem Getto einer 20-Prozent-Partei befreit. Der Text ist auch merkwürdig reaktionär in der Art, wie er schon aus dem Fehlen eines Ehemannes eine nicht-heile Welt im konservativen Sinne konstruiert. (Es sei denn, man geht davon aus, dass außer einem Mann auch noch 1 bis 6 Kinder fehlen.)

Der „Abendblatt“-Text hat aber ein größeres Problem: Es heißt Stefan, ist seit neun Jahren Manuela Schwesigs Mann und wähnte sich bis Dienstag glücklich verheiratet.

Was tat der Autor, nachdem er auf den Fehler hingewiesen wurde? Er ließ das Wort „alleinerziehend“ unauffällig aus der Online-Version seines Textes löschen. Und, immerhin: Die Zeitung druckte am Mittwoch eine Korrektur, in der sie darauf hinwies, dass die Sozialministerin in Wahrheit verheiratet sei.

Ohne dieses, nun ja: Detail wirkt die Argumentation des „Abendblatts“ zwar noch verwegener. Aber das wäre ja nur dann ein Problem, wenn die Argumentation auf den Fakten aufbauen und daraus Schlussfolgerungen ziehen würde — und nicht von der Behauptung des Gegensatzes ausgehen und sich dann entsprechende (Schein-)Belege zurechtsammeln würde.
 

*) „Financial Times Deutschland“: „Die 35-Jährige Sozialministerin von Mecklenburg-Vorpommern wird in Schwerin als ‚Deutschlands jüngste und schönste Ministerin‘ gefeiert.“ — dpa: „Jung, Frau, Mutter, Ostdeutsche und dazu noch ausgestattet mit einem gewinnenden Lächeln. Es dürften zunächst wohl diese offenkundigen Eigenschaften gewesen sein, die Manuela Schwesig auf die Liste möglicher Mitglieder im Schattenkabinett von SPD- Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier brachten.“ — „Der Spiegel“: „Es ist ein schwüler Sommertag, sie trägt die blonden Haare offen, sie ist sehr hübsch. Vermutlich spricht sie deswegen besonders ernst und bedacht. Das Schöne und die Politik sind einander häufig feind.“

Elende Twitzbolde

Ist es nicht immer wieder rührend zu sehen, wie sehr sich die Leute von „Bild“ freuen, wenn mal einer anderen Zeitung ein Fehler passiert und nicht immer nur ihnen?

Gestern ist mein „FAZ“-Kollege Michael Hanfeld in einer kleinen Randnotiz auf den falschen „Harald Schmidt“ auf Twitter reingefallen, und wenn ich die „Verlierer des Tages“-Meldung in der „Bild“-Zeitung heute richtig interpretiere, hätte ihr das schon deshalb nicht passieren können, weil sie an der Existenz von Twitter insgesamt zweifelt.

Es ist aber auch ein Elend mit diesem „vermeintlichen Blogging-Dienst“ („Bild“). Nehmen wir nur den Scherzbold, der sich da als Peter Sloterdijk ausgibt. Nach der Premiere der ZDF-Sendung „Die Vorleser“ twitterte er über den neuen Moderator und „Zeit“-Redakteur Ijoma Mangold:

Minusvisionen (!)

Die Authentizität dieser Wortmeldung zu überprüfen, ist eine nur mittelanspruchsvolle Aufgabe. Man hätte zum Beispiel diesen Tweet finden können, in dem der Account als Fake bezeichnet wird, hätte sich dann aber möglicherweise in dem logischen Labyrinth verlaufen, ob man mit Hilfe eines Tweets beweisen kann, dass man Tweets nicht trauen darf (vgl. Kreta). Alternativ hätte eine kurze Nachfrage bei der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe geholfen, deren Pressestelle innerhalb von Minuten bestätigt: Nein, hinter @PeterSloterdijk steckt nicht der bekannte Philosoph Peter Sloterdijk.

„Welt am Sonntag“-Mitarbeiter Joachim Bessing jedoch nutzte die Woche Recherchezeit, die ihm theoretisch zur Verfügung stand, für keine dieser Möglichkeiten, sondern konfrontierte stattdessen den echten Mangold mit der vermeintlichen Kritik des falschen Sloterdijk, und brachte also folgende Meldung:

Peter Sloterdijk sieht schwarz für „Die Vorleser“

(…) Peter Sloterdijk äußerte sich unumwunden auf Twitter: „Minusvisionen (!) „Die Vorleser“ im ZDF: Gebe Herrn Mangold noch max. 2 Sendungen …“ schrieb er. Twitter ist nicht die Welt des Moderators und „Zeit“-Feuilletonisten Ijoma Mangold und so bekam er auch nichts von der harschen Kritik des Philosophen mit: „Herr Sloterdijk hat ja selber eine Sendung beim ZDF. Insofern hat er bestimmt einen guten Blick dafür, wie Sendungen verfolgt werden und wann sie wie funktionieren.“

Damit ist zwar nebenbei auch die Frage beantwortet, ob Twitter die Welt des Joachim Bessing ist, aber man muss ihm mildernde Umstände zugestehen. Zu denjenigen, die den falschen Sloterdijk für den echten halten, gehört nämlich auch: Sloterdijks Verlag. Auf der entsprechenden Autoren-Seite von Diederichs (Random House) ist der falsche Account fröhlich verlinkt unter der Zeile: „Aktuelles von Peter Sloterdijk“.

Nachtrag, 30. Juli. Der Verlag hat den Link entfernt.

Spiegel-TV findet geiles YouTube-Video

So begann am Sonntag auf RTL das „Spiegel TV Magazin“:

Und mal abgesehen von dem etwas beunruhigenden Ansagermodell; abgesehen von der ungewollten „Spiegel“-Selbst-Parodie „Was Nazis, Russen und der Sozialismus nicht schafften: Die Berliner S-Bahn steht“; abgesehen von der B-moviesken Formulierung „Als sich am vergangenen Sonntag um 18.37 Uhr die Sonne über der Autobahn A2 durch die dichten Regenwolken kämpfte, war das Schicksal vieler Autofahrer besiegelt“ und abgesehen davon, dass es den „Spiegel TV“-Leuten schon reicht, Clipfish zu imitieren und geile Aufnahmeschnipsel zu zeigen, ohne sie in irgendeinen journalistischen Kontext zu stellen —

— abgesehen von alldem ist interessant, wie Spiegel-TV an diese Bilder von einem Polizeieinsatz auf St. Pauli gekommen ist. Das Magazin aus der Spiegel-Gruppe, die Seite an Seite mit den Herausgebern von „Coupé“ und „Bild“ gegen „rechtsfreie Zonen“ im Internet kämpft und gegen die „zahlreichen Anbieter“, die die Arbeit von anderen verwenden, „ohne dafür zu bezahlen“, hat sie auf YouTube gefunden und sich einfach bedient.

Dabei wäre der Urheber des Videos leicht ausfindig zu machen gewesen: Die Profilseite des YouTube-Nutzers verlinkt direkt auf das Blog von Matt Wagner, der darin auch über seine Aufnahmen von dem Polizeieinsatz berichtet. [Korrektur, 15:45 Uhr: Das ist falsch. Der Link stand ursprünglich nicht im Profil. Die Redaktion hätte aber über die Kommentarfunktion Kontakt zu Wagner aufnehmen können.]

Doch der wurde nicht gefragt, erfuhr nur zufällig von der Verwendung seines Materials und staunte:

Spiegel TV sucht sich im Internet fremde Inhalte, um u. a. damit Sendungen zu gestalten, mit denen Werbeeinnahmen generiert werden. Die Urheber der fremden Inhalte werden vorher nicht gefragt, und man bietet ihnen auch kein Honorar an.

(…) wenn ein kommerzieller Fernsehsender das tut, dann muss er a) fragen und b) zahlen.

Wagners Kontaktversuche mit Spiegel-TV blieben zunächst ohne Erfolg, bis er einen Anwalt einschaltete. Nun antwortete das Magazin, erklärte, man habe es leider am Sonntag versäumt, den Urheber ausfindig zu machen, entschuldigte sich und bot nachträglich Lizenzgebühren an.

Geht doch. Und wir lernen und staunen: Nicht einmal Spiegel-TV ist eine rechtsfreie Zone.

[mit Dank an Bastian!]

The Age of Aquarium

Alles andere als Flausch-Content, aber macht trotzdem warm ums Herz, das Video, das der Filmemacher Jon Rawlinson im Okinawa Churaumi Aquarium in Japan aufgenommen hat:

Kuroshio Sea on Vimeo.

Ich habe das Video über das Blog von Benjamin Nickel entdeckt, und er und ich sind nicht die einzigen, denen es gefällt: Über eine Million Mal ist es inzwischen auf verschiedenen Plattformen angesehen worden.

Einen wesentlichen Reiz des Filmes macht allerdings die Musik aus, und die hätte Jon Rawlinson eigentlich gar nicht verwenden dürfen. Auch wenn er brav die Quelle nennt und sogar auf den Titel bei iTunes verlinkt — um Erlaubnis gefragt hat er die Gruppe Barcelona, von der das Stück stammt, nicht. Er hat sich einfach genommen, was ihm nicht gehört.

Was passierte nun?

Viele Menschen, denen das Stück gefiel (und die es sich jederzeit bei YouTube kostenlos anhören oder sogar runterladen könnten), kauften sich bei iTunes den Track. Und das Album stieg, obwohl es schon fast zwei Jahre alt ist, plötzlich in die Rock-Charts des amerikanischen iTunes-Stores; gestern zum Beispiel war es auf Platz 53.

Und die Band selbst meldete sich zu Wort und lud ein Antwortvideo auf YouTube hoch. Sie sagen darin, wie sehr sie sich geschmeichelt fühlen, dass Rawlinson ihre Musik ausgewählt hat, stellen sich vor, bedanken sich und werben für ihre Tour, bei der sie schon Leute getroffen hätten, die über das Aquariums-Video auf sie aufmerksam wurden:

Ist das nicht eine wunderschöne Geschichte?

Und, nein, ihre Moral lautet nicht, dass jeder einfach die Urheberrechte eines anderen ignorieren darf und dass jeder sich gefälligst freuen soll, wenn seine Urheberrechte verletzt wurden.

Die Moral dieser Geschichte lautet, dass nicht jede unerlaubte Nutzung eines Werkes dem Künstler schadet. Und dass die Welt komplizierter ist, als es all diejenigen wahrhaben wollen, die glauben, man müsse jede unerlaubte Nutzung eines Werkes bestrafen. Und dass man manchmal Geld damit verdienen kann, dass jemand etwas kostenlos zur Verfügung stellt.

Und natürlich: Ist es nicht schön? Mit den Fischen, dem Film, der Musik?

[Im deutschen iTunes-Store ist die Platte übrigens anscheinend nicht zu bekommen. Aber bei Amazon.]

Ein Rechtsanspruch auf Profit?

„Wir können doch redlich feststellen, dass die Zeitungen im Internet vor allem mit dem Textangebot qualitativ hochwertig und vielfältig aufgestellt sind. Für eine negative Veränderung dieser Situation gibt es keine Anzeichen. Das Gegenteil dennoch zu behaupten oder als zukünftig möglich hinzustellen ist schlichtweg unredlich.“

Dietmar Wolff, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger, 18.10.2008 in „Promedia“

„Das Internet ist für den Journalismus eine große Chance. Aber nur, wenn die wirtschaftliche Basis auch in den digitalen Vertriebskanälen gesichert bleibt. Das ist derzeit nicht der Fall.“

„Hamburger Erklärung“ deutscher Presseverlage, 08.06.2009

Irgendetwas muss passiert sein zwischen diesen beiden Zitaten. Zwischen dem Sommer 2008, als den Verlegern und Privaten Rundfunkanbietern nichts wichtiger war als zu betonen, dass sie es ganz wunderbar hinbekommen, in diesem Internet genau die hochwertigen Inhalte zu produzieren, die so eine Demokratie braucht, und schon die Behauptung eines möglichen zukünftigen Marktversagens als eine Art Blasphemie zu tadeln. Und der Gegenwart, in der die Verlage nicht müde werden zu betonen, dass sie unter den gegenwärtigen Umständen eigentlich wirklich nicht in der Lage sind, genau die hochwertigen Inhalte zu produzieren, die so eine Demokratie braucht.

Sicher, zwischendurch ist eine Weltwirtschaftskrise passiert und eine dramatische Werbekrise, aber das ist es nicht.

Im vergangenen Sommer ging es darum, ARD und ZDF im Internet klein zu halten. Zur Debatte stand ein neuer Rundfunkstaatsvertrag und dabei vor allem die Frage, welche Rolle dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk im Internet zugestanden wird. Nun gibt es viele bessere und schlechtere, theoretische und praktische Argumente gegen solche gebührenfinanzierte Internetangebote, aber eines, das von den Lobbyisten der privaten Medien besonders gern benutzt wurde, weil es so anschaulich ist, lautete: Es gibt im Internet (anders als im Fernsehen) überhaupt keine Notwendigkeit, gebührenfinanzierten Journalismus zuzulassen, weil der privatwirtschaftlich finanzierte Journalismus hier doch nichts zu wünschen übrig lässt.

Tatsächlich haben sich die Verleger mit vielen ihrer Forderungen durchgesetzt — und teils groteske und dem Wesen des Mediums widersprechende Einschränkungen im Angebot der öffentlich-rechtlichen Konkurrenz erreicht, was das Geldverdienen langfristig ein bisschen einfacher machen sollte.

Um nun weitere Forderungen vor allem an die Politik zu stellen, war eine klitzekleine Änderung in der Strategie nötig. Plötzlich war es den Verlagen nicht mehr ein Leichtes, für publizistische Qualität und Vielfalt im Netz zu sorgen, sondern angesichts einer Welt voller Räuber, Wegelagerer und Gebenichtse quasi unmöglich. So wird nun begründet, weshalb zum Beispiel neue Rechte und Vergünstigungen für die Verlage hermüssen.

Das gipfelt in der, sagen wir: Anregung, die Hubert Burda, Präsident der Zeitschriftenlobby VDZ, im aktuellen „Manager Magazin“ aufgreift, die Presse von der Mehrwertsteuer zu befreien. Schon jetzt gilt für Zeitungen und Zeitschriften wie für Lebensmittel und viele Kulturgüter der ermäßigte Umsatzsteuersatz von 7 Prozent — nach der Logik, dass es sich um Dinge handelt, die lebensnotwendig oder gesellschaftlich förderungswürdig sind. Da bin ich sehr gespannt, wie die Verleger das begründen wollen, dass „privatwirtschaftlich verfasste Zeitungen und Zeitschriften“ in einer Demokratie nicht nur unverzichtbar sind, wie sie schon im vergangenen Jahr in ihrer „Münchner Erklärung“ verkündet haben, sondern sogar noch lebenswichtiger als das tägliche Brot, das ihnen gegenüber dann ja steuerlich benachteiligt würde.

Um es deutlich zu sagen: Ich habe ein großes Interesse daran, dass für die Presseverlage Rahmenbedingungen herrschen, die es ihnen ermöglichen, guten Journalismus zu machen. Das ist gut für mich und gut für uns alle (von mir aus auch in umgekehrter Reihenfolge). Aber die Art, wie die Verleger die Monstranz der Unersetzbarkeit und Gemeinnützigkeit vor sich hertragen und mit wechselnden selbstgebauten Popanzen ein Recht auf Profit unter allen Bedingungen einfordern, ist abstoßend.

Wider den Fluch der Durchhörbarkeit

Anders als ihre Kollegen vom Fernsehen bekommen Radiomacher (zum Glück) keine Kurve, die ihnen exakt zeigt, an welcher Stelle im Programm das Publikum am Tag zuvor zu- oder weggeschaltet hat. Aber es wäre interessant zu wissen, was heute Mittag um 12.13 Uhr mit den Hörerzahlen von You FM, der Jugendwelle des Hessischen Rundfunks, passiert ist. Im flauschigen Tagesprogramm zwischen Green Day und T.I. feat. Justin Timberlake verstieß der Sender nämlich gegen das erste Gebot modernen Radiomachens: die Durchhörbarkeit.

Es lief die erste Folge von „All Inclusive“, einer 30-teiligen Mystery-Serie. Es geht um vier Freunde, die ihren Urlaub in der Dominikanischen Republik verbringen. Das Grauen beginnt, als plötzlich eine von ihnen unter verstörenden Umständen stirbt.

Das Hörspiel steht offenbar in der Tradition des Films „Blair Witch Project“ und erzählt seine Geschichte teils nicht-linear in vielen kurzen Audiofetzen — und mit Cliffhanger am Ende jeder Folge. Es ist ein Experiment, ob man ein Hörspiel im Erzählstil von „Lost“ ins Tagesprogramm eines populären Radiosenders bringen kann.

Es sind zweieinhalb Minuten Irritation in einem Umfeld, das sonst peinlich genau darauf achtet, nicht zu irritieren. Mit etwas Pech ist es auch das, was die Radioleute einen „Abschaltimpuls“ nennen — das Elend vieler moderner Hörfunkwellen lässt sich nicht zuletzt dadurch erklären, dass sie seit vielen Jahren daraufhin optimiert werden, solche Abschaltimpulse zu vermeiden, anstatt sich darüber Gedanken zu machen, was ein Einschaltimpuls sein kann.

„All Inclusive“ wird sicher einen Teil der Hörer zum reflexartigen Umschalten bringen. Ein Erfolg wäre es dann, wenn für einen anderen Teil der Hörer ein Grund zum Einschalten oder zum Abonnieren des Podcasts ist und dazu beiträgt, den Sender unverwechselbar zu machen. Wenn es, kurz gesagt: Fans produziert.

Ich kann schlecht beurteilen, wie die Zielgruppe auf eine solche Störung reagiert und ob sie bereit ist, sich auf ein sechs Wochen laufendes, 30-teiliges Hörspiel-Abenteuer von jeweils zweieinhalb Minute einzulassen. Aber so etwas auszuprobieren, steht öffentlich-rechtlichen Sendern gut an — und die Produktion der Berliner Firma „Raumstation“ kann sich, nach den ersten beiden Folgen zu urteilen, hören lassen.

Folge 1: [audio:http://www.stefan-niggemeier.de/blog/wp-content/allinclusive3.mp3]

Folge 2: [audio:http://www.stefan-niggemeier.de/blog/wp-content/allinclusive4.mp3]

„All Inclusive“ läuft werktags um kurz nach 12 und kurz nach 18 Uhr auf You FM und um 18.15 Uhr auf Das Ding. Fritz wird die Serie vom Herbst an ausstrahlen.

Felipe Massas Krankenschwester fürs Leben

In der mehrdutzendteiligen Bildergalerie von RTL.de, die den Unfall von Felipe Massa beim Qualifying zum Großen Preis von Ungarn als eine Art Daumenkino aufbereitet, folgt auf dieses Bild:

Dieses:

(Sie finden die Unfallfotos übrigens selbstverständlich in der Rubrik „Die schönsten Bilder vom Ungarn-GP“, und zwar unter der RTL.de-typischen Überschrift „Horror: Massa von brutal abgeschossen“:

Und wenn Sie mich fragen, ob bei RTL.de überhaupt jemand arbeitet, der noch was merkt: Aber ja! Schauen Sie nur auf den Teaser unten rechts.)

PS (via Christian in den Kommentaren):

[eingesandt von Jan]

„Journalisten“ im Auftrag der INSM

Wenn Redaktionen Journalisten nicht vernünftig bezahlen, tun es andere.

Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), eine von Arbeitgeberverbänden finanzierte Organisation, die Stimmung für neoliberale Ideen und Konzepte macht, hat drei Jounalisten angeheuert, um kritischen Journalismus zu simulieren. Unter dem Namen „Deutschland 24/30“ sollen sie einen Monat lang durchs Land fahren, wichtige Menschen wie Anne Will, die Bundeskanzlerin und „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann treffen und Sachverhalte „durchaus auch kritisch“ hinterfragen. Rekrutiert wurden offenbar gezielt Journalisten, die „der sozialen Marktwirtschaft gegenüber positiv eingestellt und einem unternehmernahen Auftraggeber gegenüber aufgeschlossen sind“. Die drei zu Propagandisten mutierten Kollegen haben durchaus namhafte Medien im Lebenslauf.

Nach Informationen des Vereins „LobbyControl“ sollen diverse Medien über die Protagonisten und die Aktion berichten; aus den einzelnen Reiseberichten solle schließlich eine Fernseh-Reportage produziert werden. Der Berufsverband freier Journalisten, „Freischreiber“, berichtet, dass das Honorar für jeden der drei Journalisten zwischen 6000 und 7000 Euro betragen soll.

Es ist eine Win-Win-Win-Situation: Die freien Journalisten kriegen ein schönes Thema und werden endlich mal ordentlich bezahlt. Die INSM kriegen schöne Berichte, die ihre Ideologie transportieren. Und die Medien kriegen günstige Inhalte, um ihre Seiten und Sendeminuten zu füllen.

Ein echtes Zukunftsmodell.

[Ich bin „Freischreiber“-Mitglied.]

Nachtrag, 27. Juli. Gegenüber dem „Spiegel“ hat die INSM eingeräumt, Fehler gemacht zu haben. Dass „Anne Will“ oder die „Zeit“ über die Aktion berichten würden und Personen wie Angela Merkel als Gesprächspartner zur Verfügung stünden, wie es in einem Arbeitspapier hieß, mit dem die Journalisten angeworben wurden, seien nur „erste Vorüberlegungen“ gewesen, „wen man ansprechen könnte“. In Wahrheit hätten diese Prominenten abgesagt. Einer der beteiligten Journalisten sagte, er habe gegenüber der INSM auf journalistischer Freiheit bestanden. Die merkwürdigen PR-Praktiken der Lobbyorganisation seien ihm nicht bekannt gewesen.

Kurz verlinkt (39)

Langsam und sehr, sehr würdevoll schwebte die Fee aus dem Pressehaus am Schiffbauerdamm in den Berliner Abendhimmel. „Ein bisschen wie Mary Poppins“, flüsterte einer der Herren, die eben noch rund um den DJV-Konferenztisch versammelt saßen und jetzt aus dem offenen Fenster starrten. Es dauerte einen Moment, bis sich einer an den Laptop setzte und „news.google.de“ eintippte — Server nicht gefunden. Die Fee hatte es tatsächlich getan: Google News war verschwunden.

Weiterlesen bei Alexander Svensson im „Wortfeld“.