Autor: Stefan Niggemeier

Wie die „Wirtschaftswoche“ ARD und ZDF erledigt

Er ist ein großer Hit: Der Online-Artikel, in dem die „Wirtschaftswoche“ die Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und der GEZ fordert. Auf den Seiten von Gebührengegnern wird er gefeiert. Laut „Wiwo“ war er einer der am häufigsten abgerufenen Artikel auf der Seite im Oktober.

Zwischendurch war er allerdings eine Weile verschwunden. Und als er wieder da war, war er nicht mehr, wie er war. Auf Nachfrage hieß es, er sei „zum Ergänzen“ offline genommen worden; „Kleinigkeiten“ seien geändert worden.

Nach weiterem Drängen, das Hin und Her zu erklären, veröffentlichte „WiWo“-Online-Chefredakteurin Franziska Bluhm einen Eintrag im Redaktionsblog der „WiWo“. „Der Text enthielt missverständliche Formulierungen und einen kleinen Fehler“, schrieb sie. Die Offline-Phase habe man dazu genutzt, „die Argumente des Kommentars noch klarer zu formulieren. Wir haben sie dabei nicht abgeschwächt, sondern eher noch zugespitzt. Dafür haben den Text teilweise inhaltlich gestrafft.“

In Wahrheit hat die „WiWo“ mehrere gravierende Fehler berichtigt, ganze Absätze gestrichen oder umformuliert. Das ist prinzipiell zu begrüßen, denn den ursprünglichen Text hat jemand ohne Sachkenntnis und mit bestürzenden Artikulationsschwierigkeiten geschrieben. Bloß hat die umfassende Überarbeitung daran nicht so viel geändert.

Es lohnt sich, die „Kleinigkeiten“ anzusehen, die die „Wiwo“ geändert hat, und über den Text zu staunen, den das Blatt nun für vorzeigbar hält.

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Wen betrifft die neue Rundfunkgebühr?

Sie wird für jeden Haushalt und Betrieb fällig. Es soll auch nicht mehr wie bislang Befreiungen für Hartz-IV-Empfänger von der Beitragspflicht geben. Sie bekämen aber entsprechend mehr Geld vom Staat. Ausnahmen sind nur wegen „ersichtlicher Empfangsunfähigkeit“ oder langer Abwesenheit vorgesehen.

Wen betrifft die neue Rundfunkgebühr?

Sie wird zunächst für jeden Haushalt und Betrieb fällig. Hartz-IV-Empfänger können einen Antrag auf Befreiung stellen. Menschen mit Behinderungen werden mit einem reduzierten Beitrag eingestuft.

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„Die aktuelle“-Bingo (5)

Hammer-Panne diese Woche bei „die aktuelle“: Sie titelt, dass Caroline von Monaco Oma wird, und Caroline von Monaco wird tatsächlich Oma. Ich weiß nicht, was da schiefgelaufen ist.

Dann müssen wir das beliebte „die aktuelle“-Bingo halt mit der kleinen Geschichte oben rechts spielen: Welches „verheimlichte Drama“ hat sich im Weißen Haus abgespielt? Worum trauert seine Familie?

(„die aktuelle“ ist eine Zeitschrift der oft kurioserweise immer noch als seriöser Verlag behandelten WAZ-Gruppe. Alle Bingo-Ausgaben stehen hier.)

Nachtrag, 16:35 Uhr. Auflösung hier.

Der „Stern“ glaubt, ein Monopol auf Fakten zu haben

Der „Stern“ glaubt, er besitze das „Urheberrecht“ an den Ergebnissen seiner Recherche. Er irrt.

Die Hamburger Illustrierte hat eine einstweilige Verfügung gegen die FDP erwirkt. Die Partei hatte einen Fragenkatalog, den ihr der „Stern“ über zweifelhafte Geschäfte von FDP-Tochterfirmen zugeschickt hatte, samt Antworten online veröffentlicht.

Der „Stern“ sieht sich dadurch in seiner Existenz bedroht. Sein Rechercheur Hans-Martin Tillack schreibt:

Wenn wir Journalisten nicht mehr darauf rechnen können, dass wir selbst entscheiden, wann wir unsere Erkenntnisse veröffentlichen, können wir uns aufwändige Recherchen kaum noch leisten — weil dann andere vorgewarnt sind, bis hin zu den Konkurrenzblättern. Wir leben — überwiegend  — vom Geld unserer Leser. Nur wenn wir ihnen neue Informationen bieten können, werden sie für unsere Inhalte bezahlen.

Das mag alles sein. Das gibt dem „Stern“ aber nicht das Recht, anderen zu untersagen, ihnen bekannte Tatsachen der Öffentlichkeit mitzuteilen.

Der „Stern“ hat ein Urheberrecht an seinen Fragen. Er kann der FDP vermutlich untersagen, sie wörtlich zu veröffentlichen. Aber auf welcher Grundlage sollte er die Redefreiheit in Deutschland soweit einschränken können, dass diejenigen, die er etwas fragt, nicht darüber reden dürfen, was er sie gefragt hat?

Nehmen wir an, Herr Tillack hat durch Recherche herausgefunden, dass in meinem Keller eine Leiche sein soll. Wenn er mich, journalistisch korrekt, mit diesem Vorwurf konfrontiert, habe ich natürlich die Möglichkeit, schnell noch in die Offensive zu gehen und selbst der Öffentlichkeit in meinen eigenen Worten mitzuteilen, dass da eine Leiche in meinem Keller ist, um der Enthüllung die Wucht zu nehmen und als erstes die Deutungshoheit zu haben.

Das mag für einen Journalisten ärgerlich und frustrierend sein, aber das ist so.

Es ist selbst dann so, wenn ich von der Leiche in meinem Keller selbst gar nichts wusste und sie erst entdeckte, nachdem der „Stern“-Reporter mich darauf hingewiesen hatte. Was sollte mich daran hindern, mein neues Wissen über die Leichenhaltigkeit meines Kellers mit anderen zu teilen? Womöglich die Sorge, dass der „Stern“, wenn ich ihm so in die Parade fahre, erst recht eine große Leichensuche in meinen Kellern veranstaltet, ja. Vielleicht auch ein Gefühl von Fairness. Aber ein Recht?

Tillack schreibt:

Journalisten haben das Urheberrecht an ihren Fragenkatalogen und an den Rechercheergebnissen, die sich in diese Fragen wiederspiegeln [sic].

Man muss gar nicht, wie Tillack es tut, das Fass der Urheberrechtsdebatte aufmachen, um dem klar zu widersprechen. Es gibt kein Urheberrecht auf Fakten, und das ist auch gut so. Wenn der „Stern“ auf seinem Urheberrecht an der Formulierung der Fragen besteht: Gut, dann muss die FDP die Fragen weglassen oder umformulieren. Aber selbstverständlich hat die FDP das Recht, selbst zu entscheiden, wann und wie sie ihre Antworten auf diese Fragen veröffentlicht.

Und wenn sie damit die Aufmerksamkeits- und Verkaufs-Maximierungsstrategie des „Stern“ durchkreuzt, dann ist das bitter für den „Stern“ und womöglich ein Problem für den investigativen Journalismus insgesamt. Aber es ist nach meinem Rechtsverständnis nichts, das einen Eingriff in die Meinungsfreiheit rechtfertigt.

„Stern“-Chefredakteur Thomas Osterkorn lässt sich mit den Sätzen zitieren: „Das Konfrontieren gehört zur journalistischen Sorgfaltspflicht und dient vor allem den Betroffenen, ihre Sichtweise ebenfalls darzustellen. Wenn diese das Verfahren unterlaufen, indem sie Fragen und Antworten veröffentlichen, wird diese Praxis ausgehebelt.“

Die Betroffenen sollen „ihre Sichtweise“ darstellen dürfen, aber ausschließlich unter den Bedingungen, die das recherchierende Medium diktiert. Davon träumen sie noch beim „Stern“, dass sich dieses Monopol und das damit verbundene Geschäftsmodell auf Dauer aufrecht erhalten lässt.

Nachtrag, 14. November. Hans-Martin Tillack antwortet: Mein Vorwurf, der „Stern“ hätte ein Monopol auf Fakten verlangt, sei falsch. Gleichzeitig wiederholt er aber, dass es notwendig sei, den „Rechercheprozess“ schützen zu können.

Wir unterbrechen diese Sätze für eine Werbebotschaft

Neulich hat „Focus Online“ bekanntgegeben, sich nicht am allgemeinen Wettherunterziehen von Bezahlschranken zu beteiligen. Das Angebot soll kostenlos bleiben. Zu groß sei die Gefahr, Stammleser zu verprellen.

Doch die Umsonstheit hat ihren Preis. Die Stammleser müssen dafür an anderer Stelle besonders hart im Nehmen sein (vom Journalismus jetzt mal ganz abgesehen): Sie müssen sich darauf einstellen, dass „Focus Online“-Artikel mitten im Absatz von Werbebotschaften im Fließtext unterbrochen werden.

Nach Angaben des Werbevermakters Tomorrow Focus handelt es sich um einen Test. Die Werbeform werde den Kunden noch nicht angeboten, ob sie bei „Focus Online“ eingeführt wird, sei noch offen, sagt eine Sprecherin. Die ersten Erfahrungen seien aber „sehr positiv“. (Ich hatte konkret nach Reaktionen von Lesern gefragt, halte es aber eher für unwahrscheinlich, dass sich die Antwort darauf bezieht und stimmt.)

Es handelt sich um eine verschärfte Form von In-Text-Advertising. Das besteht sonst in der Regel daraus, dass einzelne Wörter im Text unterstrichen sind und beim Überfahren mit der Maus dazu vermeintlich passende Werbung angezeigt wird. Hier nun schiebt sich die Anzeige auch ohne (absichtliches oder versehentliches) Zutun des Lesers in den redaktionellen Text.

Selbst für den durchschnittlich desinteressierten Online-Medien-Nutzer muss dank solcher und ähnlicher Zudringlichkeiten längst unübersehbar sein, wie groß die Not der Angebote ist. Werbeformen wie diese sind Monumente der Verzweiflung, eine weitere Eskalation im zunehmend gewaltsamen Versuch, die Aufmerksamkeit der ebenso zunehmend abstumpfenden Leser auf die Botschaften der Werbekunden zu lenken.

Vermutlich muss man froh sein, dass die Werbung nicht mitten im Satz steht oder einzelne Wörter unterbricht, aber wahrscheinlich ist auch das nur eine Frage der Zeit. Die Kreativität, die man im deutschen Onlinejournalismus vermisst, sie scheint in die Erfindung solch immer neuer, immer noch aufdringlicherer Werbezumutungen zu fließen.

Sie haben übrigens noch weitere originelle Ideen bei „Focus Online“. Wenn man einen Artikel eine Weile offen lässt, erscheint oben eine Zeile, die einen informiert, dass es seit dem letzten Besuch „neue Artikel von FOCUS Online“ gebe, und dazu auffordert, die Seite „jetzt“ zu „aktualisieren“. Mit einem Klick kommt man dann auf die Startseite.

Die Einblendung erscheint natürlich unabhängig davon, ob tatsächlich in der Zwischenzeit neue Artikel auf „Focus Online“ veröffentlicht wurden. Sie kommt einfach immer automatisch nach zehn Minuten.

Die eigenen schärfsten Kritiker: Wie die BBC mit ihren Skandalen umgeht

Wenn bei der BBC etwas schiefläuft, setzt ein bemerkenswerter Reflex ein. Brutal schonungslos berichtet sie über ihre eigenen Fehler und gibt ihren Kritikern breiten Raum. Das hat fast etwas Masochistisches, ganz sicher jedenfalls etwas Kathartisches: als solle die Schmach — soweit möglich — dadurch wettgemacht werden, dass sie in brutaler und journalistisch vorbildlichster Offenheit aufgearbeitet wird.

Es ist eine Art Überkompensation im Dienst der eigenen Glaubwürdigkeit: Niemand soll der BBC vorwerfen können, dass sie mit sich selbst weniger hart ins Gericht geht als mit anderen.

Das Ergebnis ist im Sinne des Publikums: Die BBC ist ein guter Ort, sich über Vorwürfe über die BBC zu informieren. Ich kenne keine andere journalistische Institution, für die das in diesem Maße gilt.

Am vergangenen Freitag musste sich „Newsnight“, das wichtige werktägliche Nachrichtenmagazin der BBC, entschuldigen. Die Sendung hatte einen hochrangigen Politiker fälschlicherweise in Verbindung mit einem Kindermissbrauchsfall gebracht. Erst vor wenigen Wochen war bekannt geworden, dass „Newsnight“ im vergangenen Jahr eine Bericht über die Vorwürfe gegen den legendären BBC-Moderator Jimmy Savile aus dubiosen Gründen nicht ausgestrahlt hatte.

Die „Newsnight“-Sendung vom Freitag hätte einen Platz in den Wörterbüchern verdient, unter cringeworthy. Es ist gleichzeitig schwer anzusehen und unmöglich wegzusehen. Ich bin mir nicht sicher, ob der Moderator sich hinterher etwas angetan hat.

Oder anderen.

Und hier kann, nein: muss man das Radio-Interview hören, das BBC-Star-Moderator John Humphrys am Samstagmorgen in der „Today“-Sendung auf Radio 4 mit dem Generaldirektor der BBC, George Entwistle, führte, der vor der Sendung offenbar noch glaubte, seinen Job behalten zu können.

Von Zombies und hohlen Kürbissen

Halloween nervt. Aber nichts nervt an Halloween so sehr wie Walter Krämer.

Diese lächerlichen Rituale. Dieses Zombietum. Sie passen gut zueinander, das amerikanische Fest und der Vorsitzende des Vereins Deutsche Sprache VDS.

Halloween ist eines der wichtigsten Feste für den VDS. Es ist der Tag, an dem er an die Türen der Menschen klopft und fordert, dass man tut, was er sagt, und von den Medien dafür mit kostbarer Aufmerksamkeit beschenkt wird.

Es droht nichts weniger als der Untergang der deutschen Kultur und Sprache.

Der Dortmunder Verein Deutsche Sprache e.V. protestiert gegen die republikweite Übernahme des amerikanischen Kinderfestes Halloween. „Wir haben nichts gegen fremde Feste und Kulturen,“ erklärte der Vereinsvorsitzende Krämer gegenüber dpa. „Aber die gegenwärtige Amerikanisierung unserer eigenen Kultur geht uns zu weit.“

(2003)

„Jedes Land pflegt seine eigenen Bräuche und seine eigene Kultur“, so der VDS-Vorsitzende Prof. Walter Krämer gegenüber dpa. „Wir in Deutschland brauchen diesen amerikanischen Kürbisfasching nicht.“

(2006)

„Warum äffen wir gedankenlos die Amerikaner nach?“, fragt der VDS-Vorsitzende, Walter Krämer.(…) Bundesbürger, an deren Haustüren am 31. Oktober Kinder um Geschenke bitten, sollten an die christliche Tradition des Martinssingens am 10. und 11. November erinnern, so Krämer.

(2008)

Der US-Import Halloween hat nach Ansicht des Vereins Deutsche Sprache (VDS) in Deutschland nichts zu suchen. Der „inhaltsleere Geisterkult“ sei eine „Frontalattacke gegen deutsche Sprache und Kultur“. „Natürlich wissen wir, dass diese Sitte aus dem keltischen Europa kommt. Aber noch näher steht uns unsere eigene Kultur, die etwa mit dem Reformationstag verbunden ist“, sagte der Vorsitzende Walter Krämer laut einer Mitteilung am Dienstag in Dortmund.

(2012)

Die diesjährige Reinkarnation des Genöles ist besonders schön. Darin doziert Krämer nicht nur, dass in dieser Jahreszeit gefälligst Besinnung zu herrschen habe und für „ausgehöhlte Kürbisse“ darin kein Platz sei. Er fügt auch, scheinbar hilfreich, hinzu:

„Und wer gerne mit Kindern und Laternen durch die Straßen zieht, kann das am hergebrachten St. Martinstag genauso tun.“

Ich mag mich täuschen — ich bin ja, wie Krämer, kein Experte für deutsche Sprache. Aber nach meinem Verständnis bedeutet sein Satz, dass die Kinder es eben auch „genauso“ am Halloween-Fest tun können. Jeder wie er mag. Ein freies Land.

Das hat Krämer sicher nicht gemeint. Er und sein Verein sind Kämpfer gegen die Freiheit. Die Leute sollen gefälligst Reformationstag feiern, ob sie nun evangelisch sind oder nicht.

Und sie sollen gefälligst so reden, wie es dem VDS gefällt. Sogar die — vermeintlich — falsche Aussprache von Landesnamen vom anderen Ende der Welt wird vom Verein abgemahnt.

Und die Medien berichten sogar darüber und stellen Krämer Fragen wie:

Ihr Verein hat bundesweit 16 000 Mitglieder, eine erstaunlich hohe Zahl. Was tun die Mitglieder, um die Ziele praktisch durchzusetzen?

Und Krämer gibt Antworten wie:

Ganz einfach: Die deutsche Sprache benutzen und diejenigen, die durch extreme Sprachilloyalität auffallen, auf diese peinliche Illoyalität hinweisen. Denn im Ausland wird dieses Anbiedern an andere genau als das empfunden, was es ist: eine peinliche Missachtung der eigenen Heimat und Kultur. Die Londoner „Times“ hat das einmal typisch deutsche „linguistic submissivness“ genannt.

Das ist auf so vielen Ebenen verkorkst, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Vielleicht beim falsch geschriebenen Wort „submissiveness“. Krämer meint, dass europäische Kinder in der Schule als erste Fremdsprache nicht Englisch lernen sollen, denn das würden sie im Laufe ihrer Ausbildung ohnehin lernen. Q.e.d., nehme ich an.

Kann natürlich auch sein, dass der „Tagesspiegel“ das verbockt hat. Denn Krämer müsste eigentlich wissen, wie sich „linguistic submissiveness“ schreibt, weil er und sein Verein nicht müde werden, den Begriff zu benutzen, als habe er eine Relevanz.

Er stand tatsächlich in der „Times“. Einmal, in einer kruden Glosse ihres Deutschland-Korrespondenten, erschienen am 16. Juni 1960:


So genau erwähnt Krämer das auf seiner seit vielen Jahren andauernden Medientournee mit dem Schlager „Weg mit dem Denglisch“ aber lieber nicht. (Dass der „Times“-Korrespondent den vermeintlichen sprachlichen Minderwertigkeitskomplex „peinlich“ fand, wie Krämer behauptet, ergibt sich auch nicht aus seinem Artikel. Er meint stattdessen, die Niederlage der Deutschen 1945 könnte auch eine Niederlage des Deutschen gewesen sein.)

Und wenn es tatsächlich typisch deutsch sein sollte, Wörter aus anderen Sprachen mit übertriebener Offenherzigkeit zu übernehmen — warum müssen wir das bekämpfen, und dann auch noch im Namen der Verteidigung des typisch Deutschen? Logisch ist das nicht.

Das Tollste an Krämers Argumentation ist, wie sie sich in den Schwanz beißt. Er meint, wir sollten uns nicht an das Ausland anbiedern, weil das im Ausland gar nicht ankomme. Mit anderen Worten: Wir sollten uns dem Ausland dadurch anbiedern, dass wir uns nicht anbiedern.

Dass die Frage, was Leute aus einem anderen Sprachraum über unseren Sprachgebrauch denken, einfach gar keine Rolle spielen könnte, weder im Sinne einer bewussten Übernahme von fremden Wörtern noch den bewussten Verzicht, darauf kommt Krämer nicht. Undenkbar für ihn, dass die Deutschen alberne Wörter wie „Handy“ möglicherweise nicht deshalb benutzen, weil sie den Amerikanern gefallen könnten, sondern weil sie ihnen selbst gefallen.

Aber wenn man das annähme, käme man womöglich auch auf den Gedanken, dass die Fragen, um die sich der VDS mit soviel Wucht, Redundanz, Todessehnsucht und Unkenntnis kümmert, eher Fragen des Geschmacks sind.

Aber der sympathische Krämer verdankt seinen groebelhaften Aufstieg in den Medien natürlich nicht der Rolle eines Meinungshabers und Geschmacksjuroren, sondern seinem zugeschriebenen Expertenstatus.

Es ist nicht ganz klar, was den Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik an der Technischen Universität Dortmund dafür qualifiziert. Schlimmer noch: Der Expertenstatus von Leuten wie Krämer in den Medien wird auch durch erwiesene Unzuverlässigkeit nicht bedroht — es gibt (neben der „Times“-Sache) genug Anlässe, ihn in Sprachfragen eher als Scharlatan zu behandeln.

Und nicht nur da.

Die Kollegen von „Spiegel Online“ zum Beispiel haben gerade die unangenehme Erfahrung gemacht, was passiert, wenn man sich auf Krämer verlässt und deshalb einen ganzen Artikel lang vom „Durchschnitt“ spricht, wenn eigentlich der „mittlere Wert“ gemeint ist, was nicht dasselbe ist (vgl. Berichtigung hier).

Aus irgendeinem Grund hat DRadio Wissen Krämer jetzt das Mikro hingehalten und einen Beitrag über „Panikmache in deutschen Medien“ gesendet, der ausschließlich auf seinen Aussagen und seinem im vergangenen Jahr erschienenen Buch „Die Angst der Woche“ beruht.

Seine These, dass die Medien uns Angst machen, wo die Risiken in Wahrheit klein sind, und das, was uns wirklich beunruhigen soll, dagegen zu kurz kommt, ist sicher richtig. Aber auf seine Beispiele sollte man sich lieber nicht verlassen.

DRadio Wissen erzählt ein Beispiel Krämers nach:

Viele Zeitungen titelten im März 2012, dass der Farbstoff in Cola und Pepsi krebserregend sei. Allerdings müsste man täglich etwa 1000 Dosen Cola trinken, um sich der Gefahr auszusetzen.

Ja. Und genau so stand das auch in den Medien, die darüber berichteten.

Oder die Sache mit dem Föhn-Test, eine Lieblingsgeschichte, die Krämer gern erzählt. DRadio Wissen beschreibt sie so:

Es gab einmal Schlagzeilen über Haartrockner, die bei einem Test plötzlich Feuer fingen. Walter Krämers genauere Recherche ergab: Es war lediglich ein Haartrockner und der entflammte erst nach 70 Stunden Dauerbetrieb.

Beim unmittelbaren Aufeinanderfolgen der Wörter „Walter Krämer“ und „genauere Recherche“ sollte man stutzig werden.

In diesem Fall hat Krämer gar nicht recherchiert.

Er bezieht sich auf einen Artikel in der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“:

„Gerade mal drei Sekunden föhnte eine Testperson beim Vergleich von 16 Haartrocknern ihre Haare mit dem Elta Germany HAT 352, als dieser mit einem lauten Knall durchschmorte.“ Da hat sich die Testperson sicher sehr erschrocken. „Auch im Dauertest brannte das 10-Euro-Gerät nach 72 Stunden lichterloh, vom Gehäuse blieb nichts übrig.“ Da kann ich nur sagen: Danke, liebe „Hannoversche Allgemeine Zeitung“, dass ihr mir so deutlich zeigt, was alles passieren kann, wenn man einen Föhn 72 Stunden lang ununterbrochen laufen lässt. Das mache ich schließlich fast gewohnheitsmäßig.

Ja, so lustig ironisch ist der Walter Krämer.

Hätte er aber genauer recherchiert (hier in der Bedeutung von „einmal kurz gegoogelt“), hätte er gewusst, dass sich die Testperson keineswegs bloß erschrocken hat. Nach Angaben der Stiftung Warentest drang aus dem Gerät „eine 20 Zentimeter lange Stichflamme“, im Bad fiel der Strom aus, und es roch nach verbranntem Haar und Kunststoff.

Sicher, das ist nichts im Vergleich zu den Gefahren eines Atomkrieges, könnte einem aber doch den Tag versauen und bei der Wahl des Haartrockners ein nicht unwesentliches Argument sein.

Und was den 72-Stunden-Dauerbetrieb angeht: Der bestand nicht, wie Krämer uns glauben machen will, aus ununterbrochenem 72-Stunden-Dauergeföhne. Wie im Testbericht angegeben, wurden die Geräte abwechselnd 15 Minuten lang auf volle Stufe gestellt und durften dann 15 Minuten lang ausruhen.

Das entspricht aber natürlich auch nicht dem Alltag im Hause Krämer. Da hört die Produktion heißer Luft eigentlich nie auf.

Happy Halloween!

Sterben hautnah — eine AZ-Media-Reportage und ihre Folgen

Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) will die Zusammenarbeit mit Filmteams, die seine Helfer bei Einsätzen begleiten, überprüfen. Anlass ist eine Blaulicht-Reportage von AZ Media auf RTL vor zehn Tagen.

„Ein 46-jähriger Mann gibt keine Lebenszeichen mehr von sich. Seine Ehefrau hat den Notruf abgesetzt.“ So nüchtern beschreibt der Sprecher den Fall, zu dem ein Rettungswagen des Hamburger Roten Kreuzes gerufen wurde. Aber die Filmemacher wissen, was für ein Hingucker die Aufnahmen sind, die sie in den folgenden Minuten gemacht haben. Deshalb haben sie sie gleich am Anfang ihrer Reportage schon gezeigt. Und dann noch einmal vor der Werbepause, um die Zuschauer vom Umschalten abzuhalten.

Die Filmemacher sind dabei, als die beiden Rettungsassistenten zum Einsatzort fahren. Sie laufen hinter ihnen die enge Treppe hinauf in das Zimmer, in dem der Mann auf einem Bett liegt. Sie zeigen, wie die Helfer fühlen, ob er noch warm ist. Sie zeigen, wie sie versuchen, ihn vom Bett auf den Fußboden zu tragen. Sie zeigen, wie die Ehefrau mit anfassen muss, weil der Mann stark übergewichtig ist. Sie zeigen, wie der Sanitäter im Rhythmus auf das Brustbein des Mannes presst, um ihn wiederzuleben.

Wir hören, wie die Frau im Hintergrund stöhnt und schreit, und sehen, wie der Sanitäter weiterpumpt, während er zu ihr sagt: „Wir geben jetzt unser Bestes. Setzen Sie sich hin. Beruhigen Sie sich. Ok?“

Dann übernimmt seine Kollegin, und während sie mit beiden Händen sein Herz massiert, sagt sie zu den Fernsehleuten, die neben ihr stehen: „Wir drücken jetzt auf jeden Fall so lange weiter, bis der Notarzt kommt.“

Der Notarzt kommt, und der Sprecher sagt aus dem Off: „Der Patient hat es nicht geschafft. Todesursache: Vermutlich Herzversagen. Todeszeitpunkt …“ Der Satz wird von der Sanitäterin im Bild vervollständigt: „… elf Uhr zwölf.“

Gesicht und Teile des Körpers des Mannes sind unkenntlich gemacht. Aber die Aufnahmen sind auch so drastisch und schockierend. Ein Glücksfall. Wie man den Arm des Sterbenden im Rhythmus des Pumpens seiner Brust rudern sieht. Wie seine Frau wimmert. Wie sie mit anfassen muss, um den schweren Körper vom Bett zu hieven.

„Die Retterinnen“ heißt die Sendung. Sie lief in der Reihe „Die große Reportage“. Angefloskelt wurde sie mit den Worten: „Drei Frauen gehen täglich an ihr Limit, im Kampf ums Überleben. Von Null auf Hundert innerhalb kürzester Zeit. Adrenalin pur.“

Die Sendung läuft im Fensterprogramm der Produktionsfirma AZ Media, das RTL laut Rundfunkstaatsvertrag zeigen muss. Solche Zwangsausstrahlungen von irreführend „unabhängige Dritte“ genannten Firmen dienen vorgeblich der Sicherung der Meinungsvielfalt, tatsächlich aber ausschließlich als Mahnmal für die Idiotie des deutschen Rundfunkrechts. Sie müssen eigentlich „einen zusätzlichen Beitrag zur Vielfalt … insbesondere in den Bereichen Kultur, Bildung und Information leisten“.

AZ Media steht nach den Worten von AZ Media „für exzellente Information und Unterhaltung mit dem Anspruch, wahrheitsgetreu und glaubwürdig zu berichten unter Beachtung der journalistischen Grundsätze, die der Rundfunkstaatsvertrag vorgibt“.

Ich habe die Firma angesichts der Aufnahmen gefragt:

  • Hatte das Filmteam das Einverständnis der Ehefrau, mit den Rettungsassistenten in die Wohnung zu kommen und die Reanimation zu filmen?
  • Hat die Frau nachträglich die Erlaubnis gegeben, die Aufnahmen zu verwenden?
  • Glauben Sie, dass man es, wenn man selber in einer solchen Notlage ist, hinnehmen muss, dass man selbst sowie die Retter dabei gefilmt werden?
  • Gab es Auflagen vom DRK Hamburg-Harburg, was den Einsatz des Kamerateams angeht?
  • Hat AZ Media selbst Richtlinien, die festlegen, wie weit Kamerateams in solchen Situationen gehen dürfen und welche Aufnahmen gezeigt werden?

Die Antwort von AZ-Media-Chefredakteur Markus Engelhart auf diese Fragen lautet vollständig:

Wir können Ihnen versichern, dass alle für die Dreharbeiten der Reportage „Die Retterinnen“ notwendigen Genehmigungen rechtzeitig eingeholt wurden.

Der Sender RTL hat zwar keinerlei redaktionellen Einfluss auf die Fensterprogramme, betrachtet aber anders als die im Dienste der Meinungsfreiheit privilegierten AZ-Media-Verantwortlichen nicht schon das Beantworten kritischer Fragen als Zumutung. Ein Sprecher erklärt:

Wir haben interne redaktionelle journalistische Richtlinien für die Arbeit unserer Redaktionen von infoNetwork [der RTL-Magazin- und Nachrichtentochter]. Sie sind Leitfaden für das journalistische Vorgehen und Umsetzen insbesondere kritischer Situationen wie dieser. Für Auflagenprogramme gelten die Richtlinien nicht. In diesem Fall ist das Thema jedoch aus unserer Sicht angemessen und mit der nötigen Sorgfalt dargestellt worden. Dass Rettungssanitäter bzw. -Assistenten Menschen in Notsituationen medizinisch erstbehandeln, ist Titel und somit auch Gegenstand der Reportage. Reanimationen gehören zum Alltag der dargestellten Berufsgruppe dazu. Die Angehörige wurde im Bild nur kurz und hier auch verpixelt gezeigt.

Richtig: Reanimationen gehören zum Alltag von Rettungsassistenten. Das beantwortet aber ebenso wenig die Frage, ob sie deshalb auch im Fernsehen gezeigt werden müssen, wie die, ob wir wirklich wollen, dass in einer solchen Extremsituation plötzlich nicht nur Retter, sondern auch Fernsehleute in unserem Wohnzimmer stehen, und die Retter neben ihrer Arbeit den Fernsehleuten noch erklären, was sie da tun. Es gibt Rettungsdienste, die das Filmen von Reanimationen und das Filmen in Wohnungen untersagen.

Der Kreisverband Hamburg-Harburg des DRK, für den die gezeigten Sanitäter arbeiten, erklärte mir: „Das Filmteam hat die Ehefrau des Verstorbenen bei Betreten der Wohnung gefragt, ob es in Ordnung ist, wenn in der Wohnung gefilmt wird.“

Man stelle sich das kurz praktisch vor.

Die gezeigte Assistentin habe versichert, so das DRK Hamburg-Harburg weiter, „dass sie und ihr Kollege durch die Kamera und das Filmteam zu keinem Zeitpunkt in ihrer Arbeit beeinträchtigt wurden. Das Filmteam hatte von uns die Vorgabe, Personen unkenntlich zu machen, keine Namen und Adressen zu nennen und die Arbeit der Rettungsdienstmitarbeiter nicht zu stören.“

Zusätzlich werde das DRK-Harburg aber in Zukunft darauf hinweisen, „dass Filmteams keinen Zutritt zu Privaträumen erhalten“.

Das ist vermutlich eine Reaktion darauf, dass die Szene in der Berliner Zentrale des DRK gar nicht gut angekommen ist. „Wir sind der Auffassung, dass die angesprochene Reportage-Szene die Grenzen des guten Geschmacks überschreitet und so nicht hätte gesendet werden dürfen“, sagt der Kommunikationschef Jörg Angerstein. Und weiter:

Das DRK regelt diese spezielle Form der Zusammenarbeit zwischen Medien und Einsatzeinheiten bisher nicht. Wir unterstützen und wertschätzen die Arbeit der Medien —  und verlassen uns darauf, dass die Medien den Pressekodex einhalten. Die vorliegende Kooperation zeigt uns aber, dass das nicht immer der Fall ist. Daher werden wir den Fall zum Anlass für eine verbandweite Diskussion über die Grenzen von Medienkooperationen nehmen.

Nachtrag, 25. Oktober. Ein Kommentator weist darauf hin, dass auch Spiegel-TV keine Hemmungen hat, solche Aufnahmen zu drehen und zu zeigen.