Als ich Dieter Gorny zum ersten Mal traf, war ich gerade Redakteur bei der Fachzeitschrift „werben & verkaufen“ geworden. Er hatte ausrichten lassen, dass er gerne zu einem Gespräch in der Redaktion vorbei kommen wollte, und so saßen wir da in einem ungemütlichen, viel zu großen Konferenzraum und ich war sehr aufgeregt, weil ich keine Ahnung hatte, welche Botschaft an die Medienwelt er über mich wohl übermitteln wollte. Das Problem war, dass ich es auch nach dem Gespräch noch nicht wusste. Er hatte viel erzählt, und so wie er es erzählt hatte, mit dieser atemlos-erregten Gornysprechweise und dieser knarzigen Gornystimme, gab es keinen Zweifel, dass das meiste davon wichtig, wenn nicht bahnbrechend war. Mit markigen Worten beklagte er, dass die wahren Zusammenhänge in der Musikfernsehbranche fast nie richtig verstanden würden, und ich war stolz, dass er sie mir erklärte, und ein bisschen besorgt, weil ich sie nicht verstand.
Damals stand für mich fest, dass das an mir liegen musste, meiner Unerfahrenheit, meinem fehlenden Hintergrundwissen. Dieter Gorny wusste alles, und ich war zu dumm, es zu verstehen.
Gut zwölf Jahre später bin ich mir nicht mehr so sicher.
Dieter Gorny, der Gründer von Viva, hat inzwischen den zweittraurigsten Job Deutschlands: Er ist Cheflobbyist der Musikindustrie. (Der traurigste war der Grüßonkelposten, auf den man ihn bei MTV nach dem Kauf von Viva gesetzt hatte.) In dieser Funktion ist er eine Mischung aus Hass- und Witzfigur für internetaffine Menschen — was einerseits fast zwangsläufig aus seiner Job-Beschreibung folgt und ihm andererseits sicher egal ist, solange die Politik ihn ernst nimmt, wovon man, fürchte ich, ausgehen muss.
Seine Forderungen sind gefährlich, seine Schuldzuweisungen sind abenteuerlich, sein Selbstmitleid ist rührend — aber was mich wirklich fasziniert, ist, dass seine Interviews immer noch so sind wie früher. Die schlimmste Aufgabe hat nicht der Interviewer. Während man dabei ist, hat man das Gefühl: Das wird gut, der Mann sagt markige Sachen. Die schlimmste Aufgabe hat der Redakteur, der aus dem Interview eine Nachricht machen muss, eine Überschrift und einen Vorspann finden, und dabei merkt, dass all diese großen Wörter Scheinriesen sind. Je genauer man sich die Sätze anguckt, umso weniger schaut zurück. Beim Versuch, einen konkreten Inhalt zu erfassen, bleibt von den schillernden Sprechblasen nur ein feuchter Fleck.
Nehmen wir das aktuelle Interview, das Dieter Gorny dem „WAZ“-Internetangebot „Der Westen“ gegeben hat.
Herr Gorny, Sie haben im Zusammenhang mit der Popkomm einmal gesagt, dass man sich über andere Formen der Messe Gedanken machen müsse. Wie kann man sich so etwas vorstellen in Zeiten des Internets?
Gorny: Der Musikindustrie wird immer vorgeworfen, die Digitalisierung verschlafen und keine vernünftige Musik veröffentlicht zu haben. Das sei der eigentliche Grund der Krise. Wenn aber so viel schlechte Musik auf dem Markt wäre, würde sie auch keiner klauen.
Haaaaalt, da geht’s schon mal los. Dass viele Menschen Musik ohne Bezahlung mitgehen lassen, aber kein Geld dafür ausgeben wollen, ist ein Beweis für die Qualität dieser Musik?
Aha. Weiter.
Gorny: Wir haben ein Strukturproblem, wir haben ein Vertriebsproblem aber wir haben kein Musikproblem. Dem muss eine solche Veranstaltung Rechnung tragen. Es geht darum, spannende, zukunftsfähige und damit auch umsatzfähige neue Musik vorzustellen und erlebbar zu machen. Ob das dann noch eine Messe sein wird, muss man sehen. Im Grunde muss man nicht viel neu erfinden. Deshalb wird man sich jetzt zusammensetzen und überlegen, wie man dem gerecht werden kann.
Testfrage: Wie stellt sich Gorny eine zeitgemäße Popkomm vor? Richtige Antwort: Irgendwie anders, aber nicht viel.
Super ist aber auch sein Geraune von irgendeiner Art, wie man interessante neue Musik vorstellen und „erlebbar“ machen kann. Hmm. Musik erlebbar machen. Wie könnte das gehen? Vielleicht müsste jemand so etwas erfinden wie öffentliche Auftritte, bei denen Musiker spielen und andere Leute zuhören. Aber wie könnte man so etwas nennen? Konzert??
Sie haben in der Vergangenheit mehrfach die Politik aufgefordert, im Bereich des Urheberrechts zu handeln. Was heißt das konkret?
Gorny: Es geht nicht darum, das Urheberrecht zu verschärfen. Es geht darum, es auch im digitalen Bereich durchzusetzen. Ich stelle mich da ganz hinter den Kulturstaatsminister. Bernd Neumann hat sehr deutlich gesagt, dass Dinge in Frankreich gehen, die hier vielleicht nicht gehen. Aber es kann nicht sein, dass hier gar nichts geht.
Da steht er etwas unglücklich, der Herr Gorny. Vermutlich verstellt ihm der Kulturstaatsminister (in Sachen sprachlicher Präzision und Aktionismus ein Bruder im Geiste) einfach die Sicht auf die aktuellen Nachrichten, dass das, was in Deutschland nicht geht, auch in Frankreich nicht geht.
Und, wohlgemerkt, das war seine Antwort auf die Frage, was er „konkret“ will. „Konkret“ will Gorny also, dass irgendwas geht. In Wahrheit ist sein Verband übrigens durchaus der Meinung, dass das, was in Frankreich (nicht) geht, in Deutschland geht.
Gorny: (…) Es geht darum, dass die Auffassung, illegales Kopieren sei doch nicht so schlimm, aus den Köpfen verschwinden muss. Dabei hat das Modell in Frankreich einen besonderen Charme. Das ist die Präambel. Was dort geschrieben steht, ist nach meiner Auffassung der Zukunftsweg — in einer digitalen Welt gehören Hochtechnologie und Kultur zusammen und bedingen einander.
Weiß irgendjemand, was er mit „Präambel“ meint? Und inwiefern ist Hochtechnologie in der digitalen Welt eine Voraussetzung für Kultur? Ist nicht die Hochtechnologie schon eine Voraussetzung für die digitale Welt?
Gorny: Technologiebetreiber müssen lernen, dass sie ohne die entsprechenden Inhalte ihre Technologien nicht vermarkten können. Und die Content-Anbieter müssen lernen, dass sie die Technologien brauchen, um ihre Angebote optimal zu verbreiten. Diese Bedingtheit muss konstruktiv diskutiert werden.
Hilfe. Ich versuche mal eine Interpretation: Als T-Online und AOL kann ich einpacken, wenn es im Internet nichts gibt, was die Leute überhaupt sehen wollen. Und als Musikindustrie kann ich einpacken, wenn ich das Internet nicht als Verbreitungsweg nutze. Und darüber soll irgendwer reden, aber so, dass auch was bei rauskommt.
Womöglich will Gorny damit sagen, dass es auch im eigenen Interesse der Internetprovider sei, der Musikindustrie zu helfen, gegen Raubkopierer vorzugehen, weil ohne Musikindustrie niemand mehr Musik produziert, die er auch über das Internet verbreitet, wofür sich Menschen Internetanschlüsse zulegen. Liegt das jetzt an meiner Interpretation oder ist das ein sehr abwegiger Gedankengang?
Gorny: Hier sehe ich die wichtige Rolle der Politik: die Kontrahenten an einen Tisch zu holen.
Welche Kontrahenten? Musicload und iTunes? Universal und Virgin? T-Online und AOL? Alle zusammen?
Was ist mit der Generation, die sich noch nie eine CD gekauft hat, für die es selbstverständlich ist, sich Sachen aus dem Internet herunter zu laden, sei es legal oder illegal? Meinen Sie, Sie kriegen diese Generation je wieder?
Gorny: Diese nicht, aber die nächste. Ich muss an die Schulen gehen und zeige den jungen Leuten Bibliotheken, zeige ihnen Filme und Musik und sage ihnen dann: Das gibt es in Zukunft alles nicht mehr, wenn die Raubkopiererei nicht aufhört.
Mal abgesehen davon, dass Gorny in seiner Antwort implizit den Quatsch der Frage bestätigt, dass auch diejenigen jungen Leute für seine Branche verloren seien, die sich legal „Sachen“ aus dem Internet herunter laden. Ich möchte bitte dabei sein, wenn er den Schülern die Bibliothek zeigt und wartet, bis sie weinend zusammenbrechen und versprechen, nie wieder… öh… ein Buch runterzuladen?
Gorny: (…) Das geht nur nicht sofort, indem Sie alle Ampeln auf rot stellen – es ist ein Prozess. Und man muss dabei deutlich machen, dass es dabei nicht um ein Kavaliersdelikt geht.
(Natürlich hätte der Interviewer an dieser Stelle fragen müssen, wie hoch der Anteil an roten Ampeln denn idealerweise sein soll und ob die anderen auf gelb oder grün oder ganz was anderes stehen sollten. Ich kann aber irgendwie verstehen, dass er sich nicht getraut hat.)
Wie könnte ein sinnvolles Zusammenspiel zwischen Musikindustrie und Internet aussehen?
Gorny: Alle Content-Anbieter müssen erkennen, dass der Vertrieb über das Internet eine enorm wachsende Rolle spielt.
Aber echt. Enorm wachsend. Bald geht’s los mit diesem Internet.
Gorny: Also muss man gemeinsame Geschäftsideen entwickeln.
Ob ihm mal jemand iTunes zeigen könnte?
Gorny: Diese gemeinsamen Geschäftsideen nutzen aber nichts, wenn beim Anbieter nebenan alles umsonst ist.
Ob ihm mal jemand iTunes zeigen könnte?
Gorny: Also brauchen wir auch gemeinsame Regeln. Die könnten so aussehen: Konsens ist, im Internet gibt es spezielle Warenhäuser, und wir sorgen dafür, dass der Anbieter da vernünftig verkaufen und der Kunde vernünftig kaufen kann.
Ob ihm mal jemand iTunes zeigen könnte? Oder Amazon? Oder Musicload? Oder Saturn?
Gorny: Das heißt nicht, dass man die Piraterie auf Null kriegt. (…) Das Geschäftsmodell ist ganz simpel: Ich biete etwas an im Internet und dafür wird etwas bezahlt. Der Marktpreis richtet sich nach dem Bedürfnis, und wenn jemand etwas klaut, kriegt er eins auf die Nase.
Ja, bravo. Und wie erreichen wir das? Also, das mit der Nase? Oh, hallo, DerWesten!:
Das genau ist die Frage, wie möchten Sie das schaffen?
Gorny: Indem Sie die Warenhäuser regulieren und schützen.
Er will die Warenhäuser regulieren? Warum? Und wie?
Man muss bei der Debatte über die Musikindustrie immer bedenken, dass ihr Produkt ja gewollt ist. Das heißt, die Leute wollen Musik. Die Nachfrage ist da, es gibt aber noch keinen Konsens, wie man Angebot und Nachfrage in ein ökonomisches Gleichgewicht bringt.
Okaaaay… Und was hat das mit der Frage zu tun, wie wir demjenigen, der Musik klaut, ohne dafür zu bezahlen, was auf die Nase geben?
Gorny: Und was mir bei der Debatte die größten Sorgen bereitet, ist, dass die Vermarktungskrise derzeit nicht nur die großen Künstler trifft…
Nein, da kommt keine Antwort mehr auf die Frage.
Was würden Sie einem jungen Künstler, der in Zukunft Geld verdienen möchte, raten?
Gorny: Er muss sich erstmal rechtlich absichern. Im Zweifelsfall sollte er zusehen, dass er alle Rechte möglichst gebündelt hat.
Das ist ja mal eine Super-Idee. „Hallo Jungs, willkommen bei Gorny Records, wir bringen Euch ganz groß raus, sogar mit der Option, Geld zu verdienen. Eine Frage noch: Wollt Ihr die Rechte lieber lose oder gebündelt?“ — „Gebündelt, bitte. Wegen der Raubkopierer.“
Es kann natürlich sein, dass es immer noch an mir liegt, dass ich Gorny nicht verstehe. Und dass mir meine ganzen überheblichen Anmerkungen hier auf die Füße fallen, weil sie nur meine Ahnungslosigkeit demonstrieren.
Vielleicht ist es aber auch so, dass dieses vage, wirre Wortgeklingel genau das Richtige ist, um bei Politikern und anderen Verantwortlichen ein ähnliches Gefühl zu wecken wie bei mir als junger Redakteur damals: Dass ein Mann, der so überzeugend so unverständliche Sachen sagt, sich richtig gut in der Materie auskennen muss. Man muss dann seinem Appell unbedingt folgen, etwas zu tun, um die Musikindustrie zu retten, und zwar 1.) irgendetwas und 2.) ohne Rücksicht auf Verluste.
[Bitte beachten Sie auch das schöne Symbolfoto im Text.]