Autor: Stefan Niggemeier

Ein Mord in 48.123 Zeichen

Die Geschichte vom Mord an Robert Wone wird mit Sicherheit einmal verfilmt werden. Sie hat alles, was ein großer Krimi braucht: Verdächtige, die in einer ungewöhnlichen Dreier-Beziehung zusammen leben, bizarren Sex, schlampige Polizeiarbeit, durch die entscheidende Spuren unbrauchbar werden, ein Tatwerkzeug, das nicht das Tatwerkzeug ist, unerklärliche Widersprüche in den Aussagen der Verdächtigen, die andererseits aber eigentlich auch viel zu wenig Zeit hatten, um ihr Opfer ermordet und die Tat vertuscht zu haben — und am Ende, nach vielen vergeblichen Tests, nur noch genug Blut des Opfers für eine einzige weitere Untersuchung, um herauszufinden, was jemand dem Mann injiziert hat, bevor er erstickt und erstochen wurde.

Genau genommen hat die Geschichte viel zu viel von dem, was ein großer Krimi braucht. Im Zweifelsfall wird der Drehbuchautor vor allem damit beschäftigt sein, Dinge wegzulassen, die einfach zu unwahrscheinlich erscheinen.

Die „Washington Post“ hat den ganzen Fall jetzt aufgeschrieben, in einem grandiosen, akribischen, schier endlosen und bis zur letzten Zeile packenden Text. Er ist nicht in der gedruckten Zeitung erschienen, sondern nur online, in zwei Teilen. Paul Duggan, der den Artikel geschrieben hat, erklärt:

[…] some stories, to be told right, need A LOT of space, and there is a finite amount of it available in the printed paper. Fortunately in this age we have a boundless digital venue that can accommodate narratives like this one.

Nehmen Sie sich eine Stunde Zeit und lernen Sie dank dieses erstaunlichen Stücks Journalismus die unglaubliche Geschichte kennen vom unerklärlichen unnatürlichen Tod des Robert Wone.

[via Gawker]

Fernsehalltag 2009

Für alle Kinderschutzverbände, die es verpasst haben, rechtzeitig auf den Empörungszug zur RTL-Reality-Show „Erwachsen auf Probe“ aufzuspringen, hätte ich folgendes Alternativobjekt, das auch ein bisschen Wutschaum verdient hätte:

Es stammt von der Homepage der Firma „Joker Productions“, die unter anderem die RTL-Unterschichten-Reihe „Mitten im Leben“ mit üblem Trash versorgt.

(Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich war erstaunt, wie viele Aggressionen so ein Smiley bei mir auslösen kann.)

Scheitern beim „NDR Comedy Contest“

Weil mir gerade eh die Zeit fehlt, was Vernünftiges zu bloggen, kann ich auch dem Nico den Gefallen tun und für seine Kandidatur beim „NDR Comedy Contest“ werben. Bitte fragen Sie mich nicht, warum jemand freiwillig beim „NDR Comedy Contest“ mitmacht, aber irgendetwas müssen die jungen Leute ja machen, das ihnen im Alter peinlich sein kann.

Nico Semsrott habe ich im letzten Herbst beim Jugendmedientreffen in Halle kennen gelernt, wo wir an einer Diskussion über Journalismusundso teilnahmen, an der leider der Moment, als sich im Hörsaal die Elektronik einschaltete und versuchte, alle Podiumsteilnehmer in Zeitlupe mit einer Leinwand zu erschlagen, nicht das Bizarrste war. Hinterher saßen wir zusammen im Bahnhof und führten ein unvergessliches Gespräch, an das ich mich nicht mehr genau erinnern kann.

Jedenfalls fragte er jetzt, ob ich nicht Werbung für ihn machen könnte, weil er an diesem „NDR Comedy Contest“ teilnimmt. Und weil er erstens nett ist, zweitens seine Figur ein Seelenverwandter des von mir verehrten Jammerlappens zu sein scheint und es drittens ein schöne Ironie wäre, wenn ein so depressiver Beitrag einen Wettbewerb gewönne, der vom elenden Gute-Laune-Terror-Sender N-Joy mitveranstaltet wird, mache ich das gern.

Hier ist sein Beitrag:

Scheitern

Und hier können Sie für ihn abstimmen („Lebensqualitäter“) und dafür sorgen, dass er beim Finale des „NDR Comedy Contest“ scheitern kann.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Und tun Sie sich nichts an.

Heuchler auf allen Seiten: Die Hysterie um „Erwachsen auf Probe“

Ist es nicht toll, in einem Land zu leben, in dem es mehr Kinderschutzvereine gibt als Kinder? Und in dem die größte Gefahr, die diesen Kindern droht, die Produktion und Ausstrahlung einer Fernsehsendung ist?

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Man bräuchte längst ein neues Wort, um das zu beschreiben, was um die RTL-Sendung „Erwachsen auf Probe“ tobt, in der vier jugendliche Paare unter Aufsicht und vor Kameras lernen, was es bedeutet, Kinder zu haben. „Hysterie“ war ganz treffend, um die Stimmung vor zehn Tagen zu beschreiben, aber seitdem ist alles viel schlimmer geworden.

60 Verbände haben den Sender Ende vergangener Woche in einer gemeinsamen Erklärung [doc] dazu aufgerufen, die Reality-Reihe nicht auszustrahlen. 60 klingt nach viel, aber das täuscht. Dabei ist zum Beispiel der „Pflege- und Adoptivelternkreis Kreis Wesel“, und da fragt man sich doch sofort, ob es in den Landkreisen Cochem-Zell, Sonneberg, Steinfurt und Alzey-Worms keine Elternkreise gibt, die hätten unterschreiben können. Oder warum von der Arbeiterwohlfahrt nur der Bezirksverband Hannover unterschrieben hat, obwohl die Organisation noch 28 weitere Landes- und Bezirksverbände hat. Und ob es nicht noch mehr obskure Organisationen wie „TQL – Total Quality Life“ gibt, die ihr Eingetragenes-Warenzeichen-Zeichen mit unter die Erklärung gepackt hätten.

Nein, da geht noch was. Bestimmt kommt morgen eine Erklärung, die 6000 Verbände unterschrieben haben, und natürlich wird das den Agenturen wieder Anlass sein für eine Meldung.

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All diese Verbände (darunter zu meinem persönlichen Entsetzen auch die Deutsche Pfadfinderschaft Sankt Georg) haben eine Erklärung unterschrieben, die davon ausgeht, dass in der Sendung „Eltern ihre Kinder für mehrere Tage in einem kameraüberwachten Haus an Jugendliche abgeben“. Keiner dieser ach-so-besorgten Verbände hat zur Kenntnis genommen, dass RTL das inzwischen bestreitet. Der Sender behauptet, die Eltern seien „die ganze Zeit bei ihren Kindern dabei“ gewesen, „oft nur wenige Meter von ihren Kindern entfernt“ und „mitunter direkt hinter dem Kameramann“. Katrin B., eine der Mütter, sagt, ihr Sohn sei „nie über mehrere Stunden alleine bei den Probeeltern“ gewesen und habe jede Nacht bei ihr geschlafen.

Die Erklärung der Dutzenden Vereine geht von einer falschen oder wenigstens unbewiesenen Annahme aus. Ob man, wenn man die Situation korrekt dargestellt hätte, wohl mehr oder weniger Unterzeichner bekommen hätte?

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Das Deutsche Jugend-Institut (DJI) hat die Erklärung nicht unterzeichnet, brauchte das aber vielleicht auch nicht, weil es seinen Beitrag zur Eskalation des Irrsinns auch so schon geleistet hat. Christian Lüders, Leiter der Abteilung Jugend und Jugendhilfe, brachte die Möglichkeit ins Gespräch, dass man den Eltern, die an der Sendung teilnahmen, eventuell die Kinder wegnehmen müsse. Wenn man bedenkt, dass der der brisanteste Vorwurf gegenüber der Sendung lautet, dass bei Kleinkindern, die vorübergehend von ihren vertrauten Bezugspersonen getrennt werden, irreparable Bindungsprobleme entstehen können, ist der Vorstoß des DJI von betörender Konsequenz: Warum Kinder nur ein paar Stunden von ihren vertrauten Bezugspersonen trennen, wenn man es gleich für Jahre tun und den Schaden maximieren kann?

Auch die Erklärung der 60 Verbände fordert die zuständigen Jugendämter auf, mit den beteiligten Eltern zu sprechen und „notfalls einzuschreiten“. Wie muss man sich einen solchen Notfall vorstellen? Die Sendung wurde im vergangenen Jahr produziert, alle irreparablen Schäden sind längst irreparabel. Aber da die Verbände davon sprechen, dass die Kleinkinder „prostituiert“ wurden, gehen sie vermutlich davon aus, dass die Eltern ohnehin nur darauf warten, dass ihr Nachwuchs endlich alt genug ist, um auf den Strich geschickt zu werden. Das könnten die Jugendämter natürlich „notfalls“ noch verhindern.

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Ist es nicht bemerkenswert, in welchem Maß diese vielen sozialen Organisationen bereit sind, im angeblichen Kampf für die Rechte der Kinder die der Eltern zu missachten? Ohne Hemmungen werden diese Paare als gewissenlose, geldgierige Monster dargestellt. Natürlich ist es richtig, Kinder notfalls auch vor ihren Eltern zu schützen, aber woher nehmen die krakeelenden Kinderschützer die Gewissheit, dass dies so ein Fall ist? Die Eltern des damals zehn Monate alten Lasse erzählen, wenn man sie fragt, dass ihr Sohn viel Spaß an dem Experiment hatte. Er sei ein aufgeschlossenes, neugieriges Kind, das nie gefremdelt habe, sagt die Mutter, und mit dem Tonmann habe er sich besonders gut verstanden.

Angesichts der ersten Folgen, die RTL der Presse vorführte, spricht nichts dafür, dass die Teilnahme an der Sendung Ausdruck dafür ist, dass die Eltern asozial sind, dass ihnen Mutter- und Vaterinstinkte fehlen, dass sie bereit sind, ihre Kinder für ein paar Euro Gefahren für Leib und Seele aussetzen.

Man kann ja die Position vertreten, dass der Einsatz der kleinen Kinder überhaupt oder im konkreten Fall unnötig, unanständig oder unzulässig ist, und dafür lassen sich auch gute Argumente vorbingen. Aber wer hier von Kindesmissbrauch oder Kindesmisshandlung spricht, verharmlost Kindesmissbrauch und Kindesmisshandlung.

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Angeblich können nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen schon durch eine relativ kurze Trennung von der Mutter Gehirnschäden entstehen. Bedeutet das, dass Amokläufe in Zukunft nicht mehr reflexartig durch den Gebrauch von „Killerspielen“ erklärt werden, sondern dadurch, dass die Mutter eines Amokläufers einmal drei Tage krank war und ihn als Kleinkind für mehrere Stunden in die Obhut fremder Pflegeeltern geben musste? Was glauben all die Kinderschützer denn, unter welchen Bedingungen Kinder in Deutschland und anderswo aufwachsen, wenn das Fernsehen nicht dabei ist? Wie unzulänglich die Bedinungen sind, wie viele Fehler Eltern machen, obwohl sie überzeugt sind, im besten Sinne für ihr Kind zu handeln?

Letzte Woche war ich bei einem Imbiss und ein Vater kam mit seiner vielleicht zweijährigen Tochter. Er setzte sie neben ein paar andere Gäste an den Tisch und bat sie dann, kurz auf das Kind aufzupassen, während er nochmal losging, die Getränke zu holen. Hätte ich die Polizei rufen müssen?

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Fast noch schlimmer als die Hysterie ist die Heuchelei. Als die Debatte um „Erwachsen auf Probe“ zu entgleiten begann, erklärte RTL plötzlich, mit dem Programm einen Beitrag zu einem akuten gesellschaftlichen Problem zu leisten und behauptete, um auf Nummer sicher zu gehen, dass die Zahl der Teenager-Schwangerschaften in Deutschland steige – in Wahrheit geht sie deutlich zurück. Genauso heuchlerisch ist es aber, wenn Familienministerin Ursula von der Leyen die Berechtigung eines solchen Formates mit dem Hinweis ablehnt, in Deutschland sei die Zahl der Teenager-Schwangerschaften „sehr niedrig“. Immerhin bekommen jährlich noch fast 6000 Mädchen und minderjährige Frauen ein Kind. Und über 5000 Minderjährige lassen ihr Kind abtreiben. Das hat schon eine soziale Relevanz, auf die sich ein Sender, der sich des Themas annimmt, berufen darf.

Man muss RTL ja nicht abnehmen, das Programm aus Verantwortungsgefühl für die Gesellschaft zu machen. Aber genau so kurzsichtig wäre es, jeder Sendung eine positive Absicht schon deshalb abzusprechen, weil sie von einem Privatsender ausgestrahlt wird, der naturgemäß Fernsehen macht, um damit Geld zu verdienen.

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In die Irre läuft auch der Vorwurf, man dürfe so eine Sendung nicht als Unterhaltung inszenieren. Auch Sendungen wie „Die Super-Nanny“ und „Raus aus den Schulden“ folgen den Inszenierungs-Regeln des Reality-Genres. Die sind natürlich nicht unproblematisch und dürfen und müssen diskutiert werden. Aber sie diskreditieren auch nicht von vornherein den Versuch, gesellschaftlich relevante Themen aufzubereiten, und sie verhindern nicht automatisch eine positive, pädagogische Wirkung.

Gerade und vermutlich nur durch die Inszenierung als spannende Unterhaltung hat „Erwachsen auf Probe“ die Chance, Jugendliche zu erreichen, die sich eine seriöse Dokumentation über das Problem von Teenagerschwangerschaften nicht ansehen würden. Und bei aller Schlichtheit der Dramaturgie ist die Botschaft der Serie durchaus differenziert: Wir sehen, dass der gute Wille, sich um ein Kind zu kümmern, und die Begeisterung für das kleine Wesen, das vor einem liegt, nicht reicht. Dass schon ein Besuch im Supermarkt mit einem Kleinkind eine gewaltige Überforderung sein kann. Wir sehen, wie junge Menschen an den einfachsten Aufgaben scheitern. Und wie sie, andererseits, mit diesen Aufgaben wachsen. Es gibt Szenen von erschütternder Überforderung und rührendem Engagement.

Die Reihe vermittelt keineswegs die Botschaft, dass es okay ist, Kinder einfach abzugeben wie eine Sache. Wenn sie eine Botschaft hat, dann die, dass Kinder etwas Besonderes sind, eine Bereicherung, die aber auch extrem hohe Anforderungen an (junge) Eltern stellt. Nach den Folgen zu urteilen, die RTL vorab der Presse gezeigt hat, ist die Sendung keine Warnung davor, Kinder zu bekommen, aber eine Mahnung, die damit verbundene Verantwortung nicht zu unterschätzen.

Und es stimmt schon, dass die Fernsehmacher die Jugendlichen gelegentlich bloß stellen, sich über sie lustig machen und ihre gezielt herbeigeführte Überforderung ausschlachten. Aber verglichen mit vielen anderen Reality-Formaten gehen sie dabei behutsam mit ihren Protagonisten um und zeigen ein differenziertes Bild, nicht nur Karikaturen.

Es ist keineswegs abwegig, dass die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen in ihrer Prüfung der Sendung zu dem Urteil kam: „Die Teilnehmer werden nicht verächtlich gemacht oder zu bloßen Objekten voyeuristischer Begierden der Zuschauer herabgewürdigt. (…) Darstellungsform und -inhalt der vorliegenden Sendungen fördern keineswegs eine die Menschenwürde negierende Einstellung, im Gegenteil: Dass es sich bei Babys und Kleinkindern nicht um süße Objekte, sondern um Persönlichkeiten mit nicht nur physischen, sondern auch kommunikativen und sozialen Bedürfnissen handelt, wird sehr deutlich vermittelt – und damit werden auch verzerrte Vorstellungen bei den Teenagern zurechtgerückt.“

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Die Debatte um „Erwachsen auf Probe“ hat nun auch die Landesmedienanstalten in ihrem Büroschlaf gestört und dazu gebracht, eine Pressemitteilung herauszugeben, in der im Zusammenhang mit ihrer Arbeit sogar das Wort „prompt“ vorkommt. Ein „Eilprüfverfahren“ werde die Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) durchführen: Drei Mitglieder würden sich die erste Folge am Tag nach der Sendung anschauen und „vor allem auf einen möglichen Verstoß gegen die Menschenwürde und eine die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen beeinträchtigende Wirkung hin untersuchen“.

Stolz weist KJM-Chef Wolf-Dieter Ring darauf hin, dass das kein Ausnahmefall sei und auch keine Reaktion auf die Debatte, sondern die Jugendschützer ganz alleine recherchierten, welche möglicherweise problematischen Sendungen die Sender planten.

Der Aktionismus ist rührend, aber vermutlich kontraproduktiv. Die ersten Doppelfolge stellt nämlich erst einmal die Teilnehmer und das Experiment selbst vor; die eigentliche Baby-Betreuung scheint erst in der nächsten Folge zu sehen zu sein, die in der nächsten Woche läuft.

Auch deshalb könnte die erhitzte Debatte bei all den Zuschauern, die morgen einschalten und sich werweißwas erwarten, eine merkwürdige Enttäuschung produzieren – oder Unverständnis über die Skandalisierung im Vorfeld.

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Die meisten lautstarken Pressemitteilungen irgendwelcher Vereine lassen keinen Zweifel daran, dass ihnen an einer ehrlichen Debatte über die Chancen und Risiken der Sendung nicht gelegen ist. Das haben sie mit RTL gemein. Dem Sender gelingt es nicht einmal, die Illusion einer Gesprächsbereitschaft aufrecht zu erhalten. Er erklärte in einer Mitteilung, „alle Aspekte und Argumente“, die bei einem Pressegespräch mit den Kritikern ausgetauscht wurden, seien „nochmals in die interne Prüfung der bereits fertig gestellten achtteiligen Sendereihe“ eingeflossen. Dabei hatte RTL-Generalsekretär Thomas Kreyes in Vertretung von Geschäftsführerin Anke Schäferkordt jenes Pressegespräch mit der Aussage eröffnet: „Wir stehen ausdrücklich zu dem Format.“ Die Sendung stand für RTL nie zur Disposition, so wie für die organisierten Kinderschützer deren Ablehnung nie zur Disposition stand.

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Manche halten die Aufregung um „Erwachsen auf Probe“ für den Anfang einer überfälligen Debatte über die Werte und Grenzen des Fernsehens heute. Aber dafür müsste man schon das taube Festhalten an der eigenen Position bei kontinuierlicher Steigerung der Lautstärke mit einer solchen Debatte verwechseln.

Die Diskussion, ob eine solche Sendung ausgestrahlt werden darf oder verboten werden muss, verhindert die Frage, in welcher Form sich das Fernsehen brisanten Themen und der Lebenswirklichkeit widmen sollte und wie es seiner Verantwortung gegenüber den Protagonisten gerecht wird. Das wären Fragen, die nicht nur angesichts der Explosion von billigsten und höchst zweifelhaften Reality-Formaten im Tagesprogramm der Sender notwendig und brisant wären.

Von dem Geschrei über die Produktion von „Erwachsen auf Probe“ bleibt, nüchtern betrachtet, vor allem eine sehr berechtigte Forderung: die Mitwirkung von Kindern bei Reality-Formaten zu regeln. Bislang gibt es nur Vorschriften für Dreharbeiten mit Kindern als Schauspielern. Sinnvoll wäre zum Beispiel die Pflicht, dass ein fachkundiger Betreuer vor Ort ist, der ausschließlich den Interessen der Kinder verpflichtet ist und nicht denen der Produktion. Eine solche, vom Jugendamt vermittelte Aufsicht könnte auch dann einschreiten, wenn die Eltern der Protagonisten sich vielleicht nicht trauen. Und er könnte, wenn – wie im Fall von „Erwachsen auf Probe“ – umstritten ist, welche Bedingungen tatsächlich vor Ort herrschten, für Klarheit sorgen.

Könnten wir bitte darüber reden, wie wir das organisieren?

Ah, können wir nicht.

Die Agenturen melden, dass das ultrakonservative „Deutsche Familiennetzwerk“ beim Kölner Verwaltungsgericht eine einstweilige Verfügung beantragt hat, um die Ausstrahlung zu verbieten, weil „bereits schwangere Mädchen im Teenageralter“ durch die Sendung „ermuntert und geradezu aufgefordert werden könnten, die Schwangerschaft abzubrechen oder ihr Kind abzutreiben“. Lassen Sie alle Hoffnung fahren.f

Si googlevisses …

Uli Hoeneß meint, Jürgen Klinsmann hätte lieber die Klappe halten sollen.

Leider meinte Uli Hoeneß das auf Latein, und deshalb ist nicht ganz klar, was er wirklich gesagt hat.

„Si tacuisses, philosophus manuisses“,

schreibt der Sport-Informationsdienst SID, was von stern.de, jungewelt.de, Welt Online, „Focus Online“ und dem gedruckten „Wiesbadener Kurier“ übernommen wurde.

„Si tacuisses philosophus manisses“,

buchstabiert die Nachrichtenagentur dpa, was FTD.de plausibel fand.

Und welche Variante wäre richtig?

Überraschung! Keine von beiden.

Die zweite Person Singular Plusquamperfekt Konjunktiv von manere (bleiben) ist bekanntlich mansisses, also heißt „Wenn du geschwiegen hättest, wärest du ein Philosoph geblieben“ natürlich:

„Si tacuisses, philosophus mansisses.“

Viele Medien haben das sogar richtig gemacht. Den anderen und den Agenturen aber rufe ich herzlich zu:

UDMQ!*

*) Utimini damnata machina quaesitoria, engl: UTFSE

[via BILDblog-Leser Sebastian D.; philologische Fachberatung: Alberto G.]

NPD-Kandidaten totschweigen?

Ich glaube, ich habe am Samstagmittag zum ersten Mal davon gehört, dass NPD und DVU einen eigenen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten aufgestellt hatten: den rechtsradikalen Liedermacher Frank Rennicke. Natürlich hätte ich es wissen können. Die „Welt“ hatte den Mann vor zehn Tagen ein größeres Stück gewidmet, der „Tagesspiegel“ hat über einen Streit um Rennickes (Selbst-)Darstellung auf der Homepage des Bundestages berichtet, in der „Süddeutsche Zeitung“ gestern stand ein kleinerer Artikel, und in einzelnen Artikeln über die Wahl wurde Rennickes Name erwähnt. Aber alles in allem scheint es einen Konsens in den Medien gegeben zu haben, den Mann totzuschweigen (und „Spiegel Online“ entfernte ihn mitsamt seinen Wahlmännern gleich ganz aus der Infografik).

Ist das legitim? Und ist das klug?

Dass sie in der Bundesversammlung vertreten sind und es ihnen — mit einiger Mühe — sogar gelungen ist, einen Kandidaten zu finden, ist natürlich ein kleiner Triumph für die Rechtsextremen. Das ist ärgerlich, aber sie repräsentieren das Votum der Wähler in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen. Man muss sie dafür nicht noch zusätzlich belohnen, in dem man ihnen eine große Bühne gibt — Rennicke repräsentiert gerade einmal 0,3 Prozent der Mitglieder der Bundesversammlung und der Neonazi ist ganz sicher kein Kandidat wie jeder andere. Aber er ist ein Kandidat.

Und ihn totzuschweigen, ist aus zwei Gründen problematisch: Erstens erweckt man damit den Eindruck, dass die Ideologie der NPD so unwiderstehlich, so toxisch ist, dass die Leser, die Wähler gar nicht erst mit ihr in Kontakt kommen dürfen. Natürlich versucht die NPD, die Wähler mit gefährlicher Propaganda zu verführen. Aber wenn wir glauben, dagegen machtlos zu sein und keine überzeugenden Argumente zu haben, scheint das Vertrauen in unsere Demokratie nicht sehr ausgeprägt zu sein. Zweitens erlaubt man es ihnen dadurch, eine Opferrolle einzunehmen. Man gibt ihnen Argumente gegen das „System“, liefert ihnen Belege für ihre Behauptung, dass es darin nicht mit rechten Dingen zugeht.

Beides lässt sie für ihre (potentiellen) Anhänger eher attraktiver wirken und ihren Kampf legitimer erscheinen.

Vielleicht irre ich mich, aber nach meinem Eindruck hätten die Medien der NPD umso mehr geschadet, je ausführlicher sie den NPD-Kandidaten vorgestellt hätten. Mag sein, dass dieser Herr Rennicke mit seinen Liedern und Sprüchen beim harten Kern der Neonazis ankommt. Jeder Protestwähler, der glaubt, die NPD sei eine gute Wahl, um den etablierten Politikern mal Beine zu machen, dürfte durch diese Figur, ihre Radikalität und Lächerlichkeit, ihre Sprache und Lieder eher abgeschreckt werden — und vielleicht eine Ahnung davon bekommen, was für ein Geist wirklich in dieser Partei steckt. (Das NDR-Satiremagazin „extra 3“ immerhin hat den Mann vorgestellt.)

PS: So stimmten die Teilnehmer der TED-Frage im Teletext von ProSieben am Samstag ab:

In einem größeren Neonazi-Forum wurde das schon mit dem Hinweis gefeiert, deshalb dürften in Deutschland Staatsobehäupter „nicht mehr“ vom Volk gewählt werden, weil sich der Souverän sonst so entscheiden könnte, aber vermutlich glauben sie das selber nicht. In Wahrheit zeigt die Abstimmung wohl eher, was für Leute eigentlich doof genug sind, Geld dafür auszugeben, an diesem Umfragequatsch teilzunehmen.

[Screenshot via radioforen.de]

Saarbrücker Journalismus-Homöopathie

Auf der Suche, was andere Zeitungen online aus Wolfsburg berichten, habe ich gestern versehentlich bei Twitter auf einen Link zur „Saarbrücker Zeitung“ geklickt. Der Artikel lautet vollständig:

Fast 100 000 Fans feiern Meister-Team Wolfsburg

Der VfL-Wolfsburg ist neuer deutscher Fußball- Meister. Die Mannschaft feierte einen 5:1-Heimsieg über Werder Bremen. Die Spieler haben sich ins Goldene Buch der Stadt eingetragen.

Trainer Felix Magath, Kapitän Josué, die Stürmerstars Grafite, Dzeko und ihre Mannschaftskollegen hatten sich schon auf dem Weg ins Rathaus von den ausgelassenen Fans lautstark feiern lassen. Die Kicker fuhren per Autokorso zurück. zum Rathaus. Der VfL Wolfsburg holte den Titel zum ersten Mal in seiner Vereinsgeschichte.

83 Wörter. 549 Anschläge. Fehlerhaft aus einer dpa-Meldung destilliert.

Es ist das, was ich links in der verkleinerten Abbildung der Seite gelb markiert habe.

Darüber, darunter, daneben und dazwischen stehen etwa elf Google-Anzeigen, 108 bezahlte Links, zwei Partnerschaftsvermittlungs-Anzeigen, zwölf Anzeigen von Ligatus und ähnlichen Anbietern, zwei Flash-Spiel-Anzeigen, zwei Beilagenhinweise und ungezähltes mehr oder weniger redaktionelles Gerümpel.

Ich war vorher noch nie auf saarbruecker-zeitung.de. Wie wahrscheinlich ist es, dass ich da jemals freiwillig wieder hingehe?

Erwachsen auf Probe

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Missverständnisse in der Traumawelt. RTL leiht Teenagern Babys und filmt sie dabei. Kinderschutzverbände sind außer sich: Begegnung zweier Welten.

Tom Sänger, der Unterhaltungschef von RTL, war betroffen. Er sprach mit belegter, heiserer Stimme und klang wie ein Klischee-Sozialpädagoge, der gerade schon wieder einen Spielzeugpanzer im Kinderzimmer entdecken musste: enttäuscht, ein bisschen ratlos und sehr, sehr betroffen. In seinen 14 Jahren beim Sender habe er es noch nicht erlebt, dass ein Programm so vorverurteilt wurde wie „Erwachsen auf Probe“, sagte er. „Das hat mich persönlich relativ betroffen gemacht.“ Man sah ihm an, dass die wahren Opfer in dieser Geschichte keine kleinen Kinder waren, die für eine achtteilige Realityshow ein paar Tage lang unter Aufsicht an Teenager ausgeliehen wurden. Das wahre Opfer war ein anständiger, wehrloser Fernsehsender.

Viele Verbände und Institutionen hatten die Sendung heftig kritisiert und sich einen Wettlauf um die drastischste Formulierung geliefert. Der Hebammenverband ging relativ spät ins Rennen, lag aber dank des Vorwurfs „einer neuen Form der Prostitution“ am Ende weit vorne. Dabei hätten die Kritiker die Sendung noch gar nicht gesehen, sagte Sänger. Und ihre Empörung beruhte auf falschen Annahmen. Zum Beispiel der, dass die Eltern ihre Babys den Teenagern für vier Tage, rund um die Uhr überlassen würden. In Wahrheit seien sie fast die ganze Zeit dabei gewesen; die Kinder hätten auch fast immer bei ihnen die Nacht verbracht. Woher haben die Kritiker nur diese Lügen?

Die naheliegendste Antwort wäre: aus einer Pressemitteilung des Senders. Dort beschrieb RTL das Konzept so: „Dann überlassen vier Familien aus ganz Deutschland für vier Tage den Teenagern das Schönste, was sie besitzen: ihre Babys. Nun erleben die Teenager erstmals am eigenen Leib, was es bedeutet, einen Säugling rund um die Uhr zu versorgen.“ Doch die Konfrontation mit der Tatsache, dass sein Sender genau die anscheinend übertriebenen Fakten in Umlauf brachte, die die heftigen Proteste von Kinderschützern auslöste, nahm Sänger nichts von seiner Betroffenheit. Das sei doch nur eine Pressemitteilung gewesen! Die dürfe man doch nicht einfach für bare Münze nehmen, ohne sich vorher beim Sender noch einmal zu vergewissern, was denn wirklich passiere!


Zur Vorbereitung üben die Jugendlichen mit Puppen den richtigen Umgang mit Kleinkindern. Foto: RTL

Vorgestern lud RTL nicht nur die Presse, sondern auch Kritiker ein, sich eineinhalb Folgen der Serie anzuschauen. Die Produzenten und Senderverantwortlichen, die Hebammen, Jugendpsychologen, das Jugendamt und die Familienpartei, sie saßen nun in einem Vorführraum bei RTL. Aber sie kamen von zwei Planeten. In einer denkwürdigen Begegnung trafen Kulturen aufeinander, die nichts voneinander verstanden. Fernsehleute, die die Regeln ihres quotengetriebenen Geschäftes soweit verinnerlicht haben, dass sie sie für naturgegeben halten. Und Kinderschützer, die das Medium oft nicht einmal kennen und es mit einem Fundamentalismus ablehnen, als sei es gerade erst erfunden worden.

Das Außergewöhnliche an der Kritik, die sich an „Erwachsen auf Probe“ entzündet, ist nicht nur ihr Ausmaß, sondern dass es weniger um die Zuschauer geht. Solche Diskussionen führen die an ihnen Beteiligten längst mit großer, ermüdender Routine. Im Grunde weiß man auch 2009 fast nichts darüber, wie Programme auf junge Zuschauer wirken, weshalb die Debatte meistens sehr fruchtlos ist. Auch bei „Erwachsen auf Probe“ ist keineswegs klar, ob die Konfrontation von Teenagern, die sich ein Kind wünschen, mit dem realen Stress des Familienlebens auf gleichaltrige Zuschauer abschreckend wirkt oder anziehend.

Aber hier geht es um eine ganz andere Frage: Ob schon bei der Produktion jemand zu Schaden kam, die Kleinkinder, die für das Experiment für eine kurze Zeit von ihren Eltern getrennt wurden. Einige Experten sagen, dass eine solche Trennung Probleme auslösen und zu Bindungsstörungen führen kann. Der Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie nannte RTL eine „Traumafabrik“.

Die Aufregung wirkt etwas hysterisch angesichts der alltäglichen Unzulänglichkeiten, die sich in Familien mit Kindern abspielen müssen. Aber das Argument der Kinderschützer ist nicht, dass RTL die Kinder außerordentlich großen Risiken ausgesetzt hat. Sondern dass es völlig unnötig war, die Kinder überhaupt einem Risiko, egal wie klein, auszusetzen – man hätte ja diese Sendung nicht produzieren müssen. Das ist keine Ebene, auf der RTL mit sich diskutieren lässt.

Entscheidend zur Beurteilung der Sendung war für die Experten, was wirklich bei der Produktion passiert war, wie weit die leiblichen Eltern der Kinder entfernt standen, wie lang die Trennung genau war. Es war in der Diskussion faszinierend zu sehen, wie die Kinderschützer mit großer Naivität glaubten, dass eine Sendung, die RTL eine „Dokumentation“ nennt, das tatsächliche Geschehen dokumentiert. Und wie die Fernsehleute mit ebenso großer Betriebsblindheit nicht glauben konnten, dass jemand annehmen könnte, dass das, was RTL in so einer Show zeigt, eine größtmögliche Annäherung an die Wirklichkeit wäre — und nicht vor allem den üblichen Inszenierungs-Regeln folgen würde.

Hilflos versuchten die Kinderschützer einen Zipfel dessen zu erreichen, was wirklich am Set passiert ist. Nachdem sie lernen mussten, dass schon einer  RTL-Pressemitteilung nicht zu glauben ist, erfuhren sie, dass auch der Sendung selbst nicht zu trauen ist. Wenn die Kinder nachts wirklich bei ihren leiblichen Eltern und nicht den Teenagern waren – wieso spielte dann eine Szene laut Einblendung um 23.47 Uhr? Holger Roost, Chef der Produktionsfirma Tresor-TV, erwiderte trocken, das sei ja eine „gefühlte Zeit“. „23.47 Uhr“ bedeute nur, dass es relativ spät gewesen sei.

Und wenn das Experiment wirklich so unproblematisch gewesen sei, wieso dann fast nur überforderte Teenager und kaum ein lachendes Kind zu sehen seien? Doch, sagte Roost, die Kinder hätten viel gelacht, aber das wolle man ja nicht sehen. Und die Szenen, in denen die Jugendlichen gut zurecht kommen mit der Situation, kommen natürlich erst in späteren Folgen. Man zeige ja die Entwicklung in der „Heldenreise“ der Protagonisten.

Für erfahrene Fernsehzuschauer ist „Erwachsen auf Probe“ nicht besonders spektakulär. Der Moment, wenn die Eltern nach diversen Probeübungen den jungen Leuten ihr Kind in die Hand drücken, hat zwar tatsächlich etwas frivoles. Die Inszenierung spielt mit  der Ungeheuerlichkeit, bei einem Fremden an der Tür zu klingeln, ihm das Kind in die Hand zu drücken und zu sagen: Bitte schön, aber machen Sie nichts kaputt. Und wenn man die Kinder weinen sieht und die Sendung vorübergehend wie eine Gameshow wirkt (wird der tätowierte junge Mann von alleine drauf kommen, was dem Kleinen fehlt: Essen / Trinken / Schlafen / Unterhaltung?) ist die grundsätzliche Frage natürlich berechtigt, ob Kinder in dieser Form zu Versuchsobjekten gemacht werden dürfen.

Aber der größte Teil des Programms entspricht dem, was an Reality-TV im deutschen Fernsehen längst Alltag ist. Die jungen Paare sind gut gecastet, und im Vergleich zu Sendungen wie „Deutschland sucht den Superstar“ gehen die Fernsehleute sogar relativ anständig mit ihnen um. Vor allem die jungen Machos werden in ihren großen Posen und ihrer ebenso großen Überforderung bloß gestellt und lächerlich gemacht. Aber sie alle bekommen auch Momente, in denen sie menschlich wirken, und gelegentlich ist es sehr rührend, zu sehen, wie die Babys ihnen ihre eigene Beschränktheit verdeutlichen oder, ganz im Gegenteil, ungeahnte Qualitäten in ihnen zum Vorschein bringen. Es gibt Szenen mit schreiendem Kind im Supermarkt („Ey, wir sind hier im Kaisers, blamier mich hier nicht“), beunruhigende Versuche, ob ein Kleinkind auch Ravioli zum Frühstück nimmt und das große Drama, dass ein Paar noch nicht sofort ein echtes Kind zur Probe bekommt, weil der junge Mann sich in der Nacht zuvor versehentlich auf die Probepuppe gelegt hat. („Habt ihr eine Idee, warum ihr noch kein Kind bekommt?“ — „Weil unseres gestern gestorben ist?“) Das Ganze ist mit der üblichen unerträglichen Musiksoße immer gleicher Evergreens unterlegt und in hilflos-schlichter „Und gleichzeitig nebenan“-Dramaturgie erzählt.

Für ein Unternehmen, dessen Geschäft das Fernsehen ist und das seit Jahren den deutschen Markt dominiert, tut sich RTL erstaunlich schwer damit, eine Kommunikation über seine Programme zu organisieren oder an der Debatte über seine gesellschaftliche Verantwortung überhaupt teilzunehmen. Geschäftsführerin Anke Schäferkordt beschränkt sich darauf, in wenigen Interviews große Platitüden zu verbreiten; die Programmverantwortlichen scheuen die Presse. Nur Unterhaltungschef Sänger muss sich äußern, wenn die Debatten um DSDS oder die Dschungelshow aus dem Ruder zu laufen drohen. Er entzieht sich dann gerne einer ernsthaften Diskussion um Jugendschutz, Werte und Grenzen, indem er sie als „Geschmacksfragen“ abtut.

Es mag sein, dass die Eskalation der Diskussion im Vorfeld von „Erwachsen auf Probe“ kalkuliert war; mindestens so wahrscheinlich ist, dass Naivität dahinter stand. Nein, räumen die Produzenten auf Nachfrage ein, man habe sich keine wissenschaftliche Beratung geholt. Aber es seien ja Psychologen und Erzieher vor Ort gewesen. Außerdem stamme das Konzept doch von der angesehenen BBC, und dort habe sich die Aufregung im Nachhinein auch gelegt — die Sendung werde nun sogar in Schulen eingesetzt. Um den Kritikern etwas entgegenzusetzen, versucht RTL sein Konzept nachträglich als Beitrag gegen die steigende Zahl von Kinderschwangerschaften in Deutschland auszugeben — und muss sich sagen lassen, dass die gar nicht steigt, sondern abnimmt.

Die Diskussion in Köln zeigte, wie ungewohnt es für den Sender ist, sich mit Kritik auseinander zu setzen, die nichts mit den eigenen Regeln des Fernsehmachens zu tun haben. Schon durch den Gebrauch des Wortes „zynisch“ disqualifizierte man sich in den Augen von Tom Sänger für die Diskussion. (Sänger war dafür verantwortlich, bei DSDS einmal die verhaltensauffälligsten Kandidaten vor einem Millionpublikum bloßzustellen, indem er sie gemeinsam auf großer Bühne live „We are the champions“ singen ließ. Vielleicht lehnt er den Vorwurf des Zynismus hier nur deshalb so vehement ab, weil er weiß, wie viele Fernsehmomente er schon inszeniert hat, die ungleich menschenverachtender waren.)

Die Kinderschützer sahen sich nach dem Ansehen der Sendung in ihrer Kritik eher bestätigt. Am Ende der Diskussion versprach RTL zwar, in Zukunft vorher das Gespräch mit dem Jugendamt und den Kinderschutzverbänden zu suchen – aber das hatte der Sender auch schon nach der Diskussion um die „Super Nanny“ versprochen. Als konkretes Ergebnis blieb, dass RTL zusagte, am Sprecher-Text bei „Erwachsen auf Probe“ noch Änderungen vorzunehmen. Nach den Blicken, die die Produzenten tauschten, dürfte es sich eher um gefühlte Änderungen handeln.

Wolfsburger Meisterjournalismus

Es ist Samstagabend, halb neun, und die „Wolfsburger Allgemeine Zeitung“ stellt den Lesern auf ihrer Homepage eine brisante Frage:

Der Aufmacher informiert die Fans des örtlichen Fußballvereins darüber, wo sie das entscheidende Spiel, das vor dreieinhalb Stunden zuende gegangen ist, auf Großleinwänden hätten sehen können

mit welchen Bussen sie an diesem Tag durch den Stau gekommen wären

… und wo die Mannschaft „(hoffentlich)“ die Schale entgegen genommen hat.

In der Rubrik „Meisterlich“ auf der Startseite lädt die „Wolfsburger Allgemeine Zeitung“ den Besucher ein, den VfL Wolfsburg „bei seinem spektakulären Kampf um die Deutsche Meisterschaft zu begleiten“.

Ein Klick führt auf eine Werbeseite, die unter der Überschrift „Ein Traum zum Greifen nah“ für ein Abonnement der „Wolfsburger Allgemeinen Zeitung“ wirbt. Die Wolfsburger fiebern bestimmt jetzt schon der Ausgabe vom kommenden Montag entgegen, um endlich zu erfahren, ob ihr Verein Meister geworden ist.

(Immerhin hat die „WAZ“ unten klein auf der Startseite eine Agenturmeldung (!) mit dem Ergebnis versteckt.)

[via Daniel Bouhs]